Dieses Blog durchsuchen

Die Quelle der Bedeutung

Was ich nur bei Ludwig Wittgenstein finde, ist der originelle Vorschlag, als Quelle der Bedeutung, also von Begriffsbildung und Denken, ein zwischenmenschliches Handeln zu sehen. Wittgenstein tauft diese Keimzelle "Sprachspiel".

Eine der ungewöhnlichsten, kühnsten und fruchtbarsten Findungen in der Philosophie seit ihren Anfängen!

Gemeint ist damit jene spontane Antwort von Lebewesen aufeinander, die sich wiederholen lässt. Wenn ich z. B. mit meinem Finger auf etwas zeige, schaut eine Katze nicht weiter hin, der Hund auf Fingerspitze, ein Mensch in die Richtung, in welche der Finger zeigt.

Denken entsteht und lebt für Wittgenstein in einer bestimmten Weise von Menschen, aufeinander zu antworten, die sich ausbauen, auch abändern lässt, ihre Bedeutung aber immer dem mit vorgestellten "Dabeisein" verdankt.

(Wittgenstein war neben Sokrates der einzige Philosoph, der als Soldat im Krieg gekämpft hatte. Es könnte sein, dass sein "Bedeutung = Zusammenspiel"-Befund den Ursprung in dieser Erfahrung hat.)

Die Verstandestätigkeit entspringt demzufolge nicht dem Bemühen, jene von allen Philosophen vor und leider auch nach Wittgenstein unterstellte Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden. In seinen Philosophischen Untersuchungen macht Wittgenstein mit etwas den Anfang, das sich bis dahin niemand als Startpunkt vorstellen konnte, und es fällt, wenn man es zum ersten Mal liest, schwer, Verständnis für etwas so offensichtlich Vielfältiges zu entwickeln wie das "Sprachspiel" als den aller Bewusstheit zugrundeliegenden, ja diese recht eigentlich ausmachenden "Truppenteil".

Dennoch könnte sich Wittgensteins Genie immer noch durchsetzen kraft dieses Erkennens: der mehrfachen Wechselbeziehung - von Menschen, Umgebung und Sprache - als Ur-Einheit von Denken und Bedeutung.

Damit erfüllt Wittgenstein den Philosophentraum, endlich hinauszukommen über das Subjekt-Objekt-Schema als Startpunkt des Denkens, ohne ungenau werden zu müssen. Wie es möglich sein könnte, Bedeutung schlechthin zu besichtigen, noch bevor der einzelne Mensch kraft ihrer die Welt objektiv macht, war vor Wittgenstein niemandem eingefallen.

(Wittgenstein ist der immanenteste alle Philosophen, immanenter noch als Deleuze, für welchen beispielsweise die Bedeutung noch einem latenten "Feld" entspringt, das die Möglichkeiten jedweder Materialisierung in sich tragen soll. Für Wittgenstein sind solche "Gottesvorstellungen" bereits Weiterungen der grundlegenderen Weise von Menschen, einander anzusprechen und sich in Geschichten zu finden.)

Es gibt für Wittgenstein nichts Tieferes als das Anspringen der Menschen aufeinander, alles weitere lässt sich darauf zurück führen oder ist ihm entwachsen (also z. B. auch die Naturwissenschaften oder das menschliche Ich, welches es urtümlich nicht gibt usf.)

Was mir persönlich an Wittgenstein mehr als an anderen Philosophen behagt, ist die große Freiheit, welche sein Vormarsch empfiehlt. Denn die "Sprachspiele" liegen nicht notwendig in einem Archiv, um abgerufen werden zu müssen, wenngleich man sie archivieren kann und sich häufig archivierter bedient, sondern es ist möglich, unentwegt neue zu erfinden, die dann nicht Aktualisierungen latenter Schemata sind, sondern das Sein spontan vermehren.

"Wenn ich nicht ein richtigeres Denken, sondern eine neue Gedankenbewegung lehren will", schreibt Wittgenstein in seinem Nachlass, "so ist mein Zweck eine ‘Umwertung von Werten’ und ich komme auf Nietzsche, sowie auch dadurch, dass meiner Ansicht nach, der Philosoph ein Dichter", also Deuter und Schöpfer von Sprachspielen "sein sollen".

(Es stellt sich damit im übrigen auch das Fremdwort "Nihilismus" als Wahrzeichen eines Scheinauswuchses heraus, denn Abwesenheit von Bedeutung wäre nur vorstellbar in Abwesenheit von Bewußtsein, dessen Wesen - bestehend im Aufeinanderantworten - an sich moralisch ist.)