Dieses Blog durchsuchen

Diskontinuität

Lücke oder Bruch bilden das weiter herrschende Dogma unserer Zeit, die sich dem Ende zuneigt. Was bedeutet "Bruch"? Dass es keine Verbindung gibt zwischen unserem Sein und dem unserer Eltern. Dass wir mit unseren Großeltern so wenige gemein haben wie mit irgendeiner anderen Epoche der Geschichte. "Bruch" ist der Hauptbegriff dieser Auffassung, um zu entschlüsseln, was es auf sich hat mit Kultur. Es gibt keinen roten Faden, kein durchgehendes Narrativ namens "abendländische Kultur", nur eine Anordnung unzusammenhängender historischer Erscheinungen. "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" beispielsweise sind willkürliche Setzungen eines zufällig patriarchalischen Systems, nicht der Ausdruck von etwas dem Menschsein Innewohnenden. Nur durch die Zugänglichmachung neuer Theorien, was die Konstruktion von "Geschlecht" betrifft, finden wir aus der Tyrannei des Diktates. Die Aufgabe ist es, mit den neuen theoretischen Werkzeugen das Geschlecht zu dekonstruieren und uns danach in jener Weise neu zu bestimmen, die uns beliebt, frei von den Fesseln der Natur oder Geschichte. Da wir uns vollkommen selbst zu schaffen aufgegeben sind, liegt es nahe, eine solche Identität anzunehmen, die unsere Bedürfnisse am besten befriedigt. Wie die Menschen früher und immer waren, wird zum "Nicht-Problem". Der Fokus liegt auf jedweder frei erfundenen Identität und ihrem Schutz. Wie aber soll man jemand in eine so verfasste Gesellschaft integrieren? Das postulierte Ich ist ein "faustisches", die es zuwege bringenden Figuren gipfeln in einem soziopathischen Crescendo: Hamlet, Macbeth, Ahab, Holden Caufield, Michael Corleone - erträglicher noch als freundliche Tattergreise: Don Quichote. Warum sind Menschen, deren Persönlichkeit sich voll entfaltet hat, so unerträglich - für sich und andere?

AUFKLÄRUNG!

Hat jemand, der mitten während einer Vorstellung im Opernhaus sich erhebt und schreit "Das ist doch alles nur Theater!" etwa nicht recht? Aber wem sagt er das? Sind die Zuschauer, welche er wecken möchte, sich über irgendetwas im unklaren? Sie gleichen Träumern. Man wird von seinen Träumen ja auch genügend mitgenommen, um aus ihnen erwachen zu müssen. Meint der Aufklärer, wir sind besser dran, wenn wir nicht träumen? Ist es etwa besser zu träumen? Wären dann Maschinen besser dran, weil sie nicht träumen? Woher willst du das wissen? Was? Dass Maschinen nicht träumen? Sie erzählen sich keine Träume. Und? Kann man träumen, ohne seine Träumen zu erzählen? Warum nicht? Dann könnten Steine träumen? Warum nicht? Das ist absurd. Träume sind Schäume! Aber wem sagst du das? Euch allen hier in diesem Theater! Zu welchem Zweck? Damit ihr es endlich verlasst! Diese Vorstellung muss abgebrochen werden. Warum? Wegen der Menschenrechte. Die Tänzer erleiden große Qualen, während sie auf der Bühne sind. Hast du schon mal die verkrüppelten Zehen einer Tänzerin gesehen infolge ihres jahrelangen unmenschlichen Trainings? Aber sie lieben ihren Beruf. Er ist der am schlechtesten bezahlte von allen darstellenden, mit den unmenschlichsten Arbeitszeiten. Wären die Tänzer nicht beleidigt, wenn wir jetzt gingen, mitten während ihrer Vorstellung? Eben: Vorstellung - nicht Wirklichkeit! Sie machen sich und uns etwas vor. Sie müssen damit aufhören? Ja. Und wenn sie sich weigern? Sollte man sie zwingen? Ja. Eventuell ein Exempel statuieren, gleich hier und jetzt? Warum nicht. Es müsste nur klar werden, dass es nicht Teil der Vorstellung ist. Also: kein Kunstblut. Nein, echtes.

Verkomplizieren . . .

. . . erhöht offenbar die Kompetenz, welche man einem Autor zutraut. Hegel war wesentlich populärer als Schopenhauer, der klares Deutsch schrieb. Derrida oder Lacan sind unverständlich, trotzdem wird ihnen mehr Autorität zugebilligt als ordentlich schreibenden Philosophen wie z. B. Quine. Auch Trump redet unanalysierbares Zeug, was seinen Nimbus eher oder überhaupt erst ins Unendlich steigert. Ein unverständlicher Text hat hypnotische Wirkung, indem die Zuhörer seinen Inhalt selbst apportieren müssen. Worin aber besteht dieser Inhalt? Im Eindruck, welchen man von dem Sprecher hat. Wenn dieser nur bestimmt genug vorangeht, verfängt die Eltern-Übertragung, und man folgt ihm - überall hin. (Die Eltern hatte man auch nie verstanden, ihnen alles nachgemacht.) Wenn du Macht erlangen willst - rede undeutlich und kompliziert! Ich füge einen Interviewabschnitt mit Derrida an, in welchem er sich gegen "amerikanische Gewohnheit" wehrt, deutlich zu werden. Nur so und mit der unbedingten Autorität, die er dabei ausstrahlt, kann er den hypnotischen Sog behaupten, welcher von der Leere ausgeht, die seine Worte umkreisen. https://youtu.be/u2j578jTBCY

Trumps predicament

“We have a new type of rule now. Not one-man rule, or rule of aristocracy or plutocracy, but of small groups elevated to positions of absolute power by random pressures, and subject to political and economic factors that leave little room for decision. They are representatives of abstract forces who have reached power through surrender of self. The iron-willed dictator is a thing of the past. There will be no more Stalins, no more Hitlers. The rulers of this most insecure of all worlds are rulers by accident, inept, frightened pilots at the controls of a vast machine they cannot understand, calling in experts to tell them which buttons to push.” ― William S. Burroughs, Interzone

Gesunder Menschenverstand

„Des Menschenverstandes angewiesenes Gebiet und Erbteil ist der Bezirk des Tuns und Handelns. Tätig wird er sich selten verirren; das höhere Denken, Schließen und Urteilen jedoch ist nicht seine Sache.“ Goethe

Ursachen sind keine Gründe . . .

. . . weil sie sich nicht verneinen lassen. Für einen guten Grund gibt es immer einen Gegengrund, und ein Grund verfängt, weil jemand (eine Person) ihn hat. Ein Grund ist Ausdruck der menschlichen Freiheit, weil er durch eine Entscheidung in die Welt kommt, durch ein Wollen, nicht durch Objektives. Das Objektive lässt sich nicht verneinen. Mathematik: Gibt es mathematische Ursachen? Die Vorstellung einer mathematischen Ursache wirkt absurd. Aber Gründe gibt schon, nur Gründe in der Mathematik. Wäre sie demzufolge Willenssache, nicht objektiv? Wenn es keine mathematischen Ursachen gibt, muss Mathematik Willenssache sein. Sag' mir, welcher Mathematik Du anhängst, und ich sage Dir, wer Du bist! Aber wie kommt die Mathematik - oder der Wille (ist dasselbe . . . ) - zu einem Inhalt? Der Inhalt des Willens ist sprachlich verfasst = undenkbar ohne Sprache. Der Wille ist die Sprache selbst, und wir kommen zu ihm durch das Mehrwerden unseres Sprechenkönnens. Wie wird unser Sprechenkönnen mehr? Jedenfalls nicht spontan, sondern mit der Zeit, mit dem Mehrwerden unserer Interaktionen, unseres Tuns. Die Mathematik ist ein Tun, kein Sein. Brauchen wir, wenn wir in eine Sackgasse geraten, eine neue Mathematik?

Derrida

Hat mich wieder einige Zeit gekostest, in sein Gedankengebäude einzudringen. Er sagt, wo er wirklich etwas sagt, dasselbe, finde ich, wie Wittgenstein, nur neunmalklüger und mit Extra-Begriffen (z. B. "différance" dafür, dass die logischen Konstanten nichts vertreten . . .) Warum ist oder war Derrida dann dermaßen populärer als Wittgenstein? Weil er, denke ich, Methoden liefert, die dem Schöngeist einreden, Naturwissenschaften zu treiben. Derrida steht für die Geste des Szientismus, erhebt den Kritiker über den Kreativen. - Wittgenstein war Ingenieur und versuchte dagegen, die Geisteswissenschaften und Künste alleinzustellen. Wie gesagt aber, wo beide "schwierig" werden, sagen Derrida und Wittgenstein dasselbe und fordern damit unsere Geduld heraus: dass nämlich, was bedeutend ist, immer "zwischen den Zeilen" steht und darum nie Gegenstand, sondern nur Möglichkeit unseres Begreifens sein kann. Das macht ihre Texte ähnlich "glitschig", wobei Wittgenstein vollkommen auf Jargon verzichtet.

Mathematik besteht nur aus Rechnen

In der Mathematik ist alles Algorithmus, nichts Bedeutung: auch dort, wo es so scheint, weil wir mit Worten über mathematische Dinge zu sprechen scheinen. Vielmehr bilden wir dann mit diesen Worten eben einen Algorithmus.

Wittgenstein, Philosophische Grammatik 468  
 
(Besagte Worte müssen aber eine weitere, über die algorithmische hinausgehende Verwendung haben, damit aus dem Algorithmus Mathematik wird):

Ich will sagen: Es ist der Mathematik wesentlich, dass die Zeichen auch im Zivil gebraucht werden. Es ist der Gebrauch außerhalb der Mathematik, also die Bedeutung der Zeichen, was das Zeichenspiel zur Mathematik macht.

So, wie es auch kein logischer Schluss ist, wenn ich ein Gebilde in ein anderes transformiere (eine Anordnung von Stühlen etwa in eine andere), wenn diese Anordnungen nicht außerhalb dieser Transformation einen sprachlichen Gebrauch haben.

Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik V 2



Man hat mich in Cambridge gefragt, ob ich denn glaube, dass es die Mathematik mit den Tintenstrichen auf dem Papier zu tun habe. Darauf antworte ich: In genau demselben Sinn, wie es das Schachspiel mit den Holzfiguren zu tun hat. Das Schachspiel besteht nämlich nicht darin, dass ich Holzfiguren auf dem Brett herumschiebe. … Es ist egal, wie ein Bauer aussieht. Es ist vielmehr so, dass die Gesamtheit der Spielregeln den logischen Ort des Bauern ergibt.