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Bandidopapa


Arthur

Wie mein Vater im Nichts verschwand.

Meine Eltern haben sich auf einer Weltreise kennengelernt. Sie waren noch sehr jung damals, gerade erst erwachsen geworden. Mama war von zu Hause fortgezogen und hatte unterwegs gearbeitet, meist als Bedienung, wenn sie Geld brauchte für die Weiterreise. Meine Mutter ist eine wirklich sehr schöne Frau, und sie wird heute noch gerne eingestellt, wenn es darauf ankommt, Menschen zu beeindrucken: an Messeständen, hinter einer schicken Empfangstheke oder als Bedienung in einem angesagten Lokal. Inzwischen studiert Mama, um Archäologin zu werden. So ein Studium ist kein Pappenstiel.
Mein Vater ist beim Geheimdienst und viel unterwegs im Ausland. Deswegen haben wir ihn in den vergangenen Jahren kaum zu Gesicht bekommen. Sein gefährlicher Beruf erlaubt es ihm nicht, uns zu besuchen.
Als er Mama kennenlernte, waren sie beide zufällig in Ägypten. Papa war damals den Nil heraufgekommen, und Mama fuhr ihn hinunter auf einem Touristenboot, dessen Gäste sie betreute. Sie schüttete gerade einen Eimer Obst- und Gemüsereste über Bord, als Papa sie zum ersten Mal erblickte. Von diesem Moment an war er in sie verliebt.
Papa besaß zu jener Zeit eine Videokamera, mit der er seine Reiseeindrücke aufnahm und ins Internet hochlud. Seit Ägypten tauchte immer häufiger Mama in den kleinen Filmen auf, als namenlose Fremde, die auf der Terrasse eines Bazar-Cafés saß und Wasserpfeife rauchte oder aus dem wackeligen Bett eines Traveller-Hotels kletterte und sich in der Morgensonne räkelte. War Mama in einem der Filme, erhielt er die meisten Likes.
Dann bekam sie einen Babybauch, und schließlich wurde ich, Arthur Fellmann, vor zwölfeinhalb Jahren in Goa geboren, an der Westküste Indiens. Mein erstes Kinderbett war eine Hängematte zwischen Palmenbäumen. Ich kann Fotos zeigen, die das beweisen. Auf einem davon gibt Mama mir die Brust, während sie mit anderen Müttern an einem Lagefeuer sitzt.
Einmal hatte Papa nicht aufgepasst, als ein Tiger vorbeikam. Der zog mich am Kopf aus meiner Hängematte. Aber Papa verfolgte den Tiger und zerrte mich wieder aus seinem Maul. Die Narbe davon hab ich heute noch am Kopf.
Als ich sie Leon aus der Parallelklasse und dem Streber Finn gestern im Freibad zeigte, meinte Finn, ich hätte sie wahrscheinlich von einem Fahrradunfall. „Die Geschichten mit deinem Vater werden immer unglaubwürdiger.“
„Das sagst du nur“, erwiderte ich, „weil deiner vor einem Tiger davongelaufen wäre.“
„Mein Vater ist wenigstens da, wenn ich nach Hause komme.“
Die Krallen des Tigers hatten meinen Vater damals schwer verletzt. Er musste in Goa im Krankenhaus zurückbleiben, während Mama mit mir zurück nach Deutschland flog. Oma ging es nicht so gut, und Mama musste sich um sie kümmern.
„Und wieso ist dein Vater nicht nachgekommen?“ fragte Leon.
„Weil er am Krankenbett vom BND angesprochen wurde. Sie suchten damals vielgereiste junge Männer, die keine Feiglinge waren, um Geheimdienstoperationen zur Erhaltung des Weltfriedens durchzuführen.“
„Wer’s glaubt, wird selig.“
Bei einem erfolgreichen Versuch, eine deutsche Urlauberfamilie aus den Händen von Terroristen zu befreien, ist mein Vater dann gefallen. Er war damals Mitglied einer Spezialeinheit, deren Existenz man nicht an die große Glocke hängen durfte. Deswegen musste sein Heldentod geheim gehalten werden.
Typisch, dass sie mir das wieder nicht glaubten. Und dann kamen auch noch ihre Väter zu uns an den Beckenrand. Der von Finn war ganz mit Muskeln bepackt, während Leons eine randlose Brille trug.
Sie hatten miteinander gewettet, dass ihre Söhne einen Kopfsprung vom Drei-Meter-Brett schafften. Jetzt sollten Leon und Finn ihre Väter nicht enttäuschen.
Ich kam interessehalber mit zu den Sprungtürmen, um zu sehen, wie Leon und Finn sich anstellten. Sie kletterten auf die Drei-Meter-Plattform. Wenn ihr mich fragt, hatten sie Schiss. Finn ging vor an die Spitze des Brettes, um zu schauen, wie tief es war. Er hüpfte ein paarmal auf dem Brett, dann schlich der zurück auf die Plattform.
Sein Vater rief herauf, er solle sich nicht so anstellen und dass es kein Zurück mehr gebe.
„Ich könnte einen Salto vom Fünfer machen“, sagte ich in die Stille.
„Habt ihr das gehört?“ rief Finns Vater herauf.
„Der lügt doch“, maulte Leon zurück.
„Ich werd‘s euch zeigen!“ rief ich und blickte zu den Vätern. Es kam mir so vor, als ob sie mir zunickten.
Ich fing an, den Sprungturm zu besteigen. Da hörte ich, kurz nacheinander, zwei Platscher. Und den Applaus der Väter. Sie kriegten sich gar nicht mehr ein. Dabei hatten ihre Söhne bestimmt nicht mal einen Kopfsprung geschafft, sondern nur zwei Arschbomben gelandet. Gesehen hatte ich es zwar nicht, aber dem Geräusch nach hatte es sich so angehört …
Ich kletterte über die Drei-Meter-Plattform hinauf zum Fünf-Meter-Brett. „Achtung!“ rief ich oben laut und schaute über das Geländer.
Doch unten stand niemand mehr. Die Väter waren mit Leon und Finn, um deren Heldentaten mit Cola zu begießen, auf dem Weg zum Kiosk.
Also sprang ich ohne Publikum. Der Salto, den ich den Sommer über geübt hatte, erst vom Ein-, dann vom Drei-Meter-Brett, gelang mir diesmal nur halb, und ich schlug mit dem Rücken aufs Wasser. Es war hart wie Beton.
Ich spürte, wie ich unterging. Die Sonne schien auf mich durch die bewegte Wasseroberfläche, und in ihren Strahlen schwamm ein muskulöser kleiner Hund auf mich zu, dessen Vorderpfote in einer Beinschiene steckte. Oder bildete ich mir das alles nur ein? Jemand rief nach mir.
Als ich die Augen aufschlug, sah ich das Gesicht des jungen Bademeisters. Seine Haare und sein T-Shirt waren nass, weil er mich aus dem Wasser geholt hatte. Ich lag auf dem Rasen des Freibades und hustete Wasser. Der Bademeister fragte die ganze Zeit, wie es mir ginge.
Ich stand auf und sah mich um. Es war echt etwas los heute im Freibad. Eine Million kleiner Kinder spritzten im Planschbecken umher, und auf der Wiese lagen ihre Mütter auf großen Handtüchern in der Sonne herum. Am Tauchbecken schubste eine Bande Mädchen in Bikinis einen Jungen vom Rand ins Wasser.
Ich antwortete dem Bademeister, mit mir sei alles in Ordnung. Nur der Rücken brannte noch ein bisschen von dem Aufprall.
„Soll ich nicht doch lieber den Sanitäter holen?“
„Schon gut. Ich muss jetzt nach Hause“, sagte ich und trollte mich zu den Umkleidekabinen.
Vor dem Bad fuhr gerade der Bus weg, als ich herauskam. Ehe ich auf den nächsten wartete, ging ich lieber zu Fuß – durch den kleinen Park, an dessen Ende die Rentner abends um ihr Außen-Schachbrett mit den großen Figuren standen, und über die Eisenbahnbrücke, hinter der die Straße bergab ging.
Kam es mir nur so vor, oder sah ich heute besonders viele Jungs in meinem Alter, die in Begleitung ihrer Väter unterwegs waren?
Als ich die Wohnungstür hinter mir schloss, hört ich Mama in der Küche scheppern.
„Arthur?“
„Ja …“
Sie tauchte auf in der Schürze, die ich ihr letzte Woche zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ihr Name stand schräg gedruckt in fetten Buchstaben darauf: INKA.
„Abendessen ist gleich fertig“, sagte sie. „Gehst du den Opa holen?“
„Wo ist er denn?“
„Er wollte vorhin Bier holen.“
„Alles klar.“ Ich wandte mich zur Wohnungstür.
„Arthur!“
„Ja?“
„Ich hab Kartoffelsalat gemacht. Den magst du doch.“ Dann kam sie vor und griff mit der Hand nach mir.
„Was ist?“
Aber Mama streichelte mir nur durchs Haar. „Hol den Opa“, sagte sie dann.
Ich ging also wieder hinunter und durchsuchte die Straßen rings um unser Wohnhaus, bis ich Opas Wagen gefunden hatte. Er parkte schräg gegenüber vom Mond-Stübchen, ein blauer Passat, „Fahrschule Wicht“ stand auf den Türen.
In der Kneipe entdeckte ich Opa in einer Gruppe von Zuhörern an der Theke. Vor ihm stand ein halber Krug Bier. „… also dieses Luxustraumschiff fährt durch den Indischen Ozean“, sagte er gerade, „lauter traumhafte, einsame Inseln …“
Dann nahm er einen Schluck Bier.
„Und sie kommen an einer einsamen Insel vorbei und da steht diese heruntergekommene Gestalt in zerfetzten Lumpen am Strand, fuchtelt wie wild mit den Armen, springt wie verrückt am Strand hin und her und versucht offensichtlich, mit allen Mitteln auf sich aufmerksam zu machen. ‚Was hat der denn?‘ fragt ein Passagier den Kapitän. ‚Ach der der freut sich immer so, wenn wir hier vorbeikommen.‘“
Die Runde um Opa lachte. Er bemerkte nicht, wie ich herangekommen war.
„Opa! Abendessen ist fertig.“
„Arthur, mein Junge. Das ist schön, dass du mich abholen kommst“, sagte Opa.
Er schwankte ein bisschen, als er mir aus dem Mond-Stübchen ins Freie folgte. In der Plastiktasche, die er bei sich trug, klimperten die Flaschen mit dem Bier, die er für das Abendessen gekauft hatte.
Bei seinem Wagen blieb er stehen. Er wühlte seine Schlüssel hervor und hielt sie mir hin.
„Opa, ich kann doch kein Auto fahren“, sagte ich.
„Natürlich kannst du, ich hab dir doch alles beigebracht. Wenn ich fahre, bin ich meinen Führerschein los. Aber dir“, lachte Opa, „dir können sie noch keinen wegnehmen.“
„Opa …“, seufzte ich, nahm aber dennoch die Schlüssel entgegen.
Ich befürchtete, dass Mama mich aus dem Küchenfenster beobachtete, als ich den Passat vor unserem Wohnhaus rückwärts einparkte.
„Na, das hat doch prima geklappt“, sagte Opa, bevor er mit seiner klimpernden Tüte ausstieg.
Ich folgte ihm die Treppe hinauf zu unserer Wohnung.
Nachdem wir zu Abend gegessen hatten, legte Opa sein Besteck über Kreuz auf den Teller und sagte: „War lecker.“
Mama antwortete nicht.
„Bis jetzt hast du noch kein Wort geredet“, sagte Opa.
„Hat mir hier irgendeiner etwas zu sagen?“ fragte Mama endlich.
Ich blickte kurz zu Opa. Jetzt hatten wir den Salat.
„Wenn du so weitermachst“, sagte Mama zu Opa, „bist du deinen Führerschein los.“
„Ich bin doch gar nicht gefahren“, sagte Opa.
„Aber du hast einen Minderjährigen ans Steuer gelassen. Für einen Fahrlehrer ist das ein schweres Vergehen.“
„Der Junge fährt besser als die meisten meiner Schüler.“
„Opa hat es mir beigebracht“, sagte ich. „Wirklich alles.“
„Das ist doch völlig egal, ich verbiete dir, noch einmal mit diesem Wagen zu fahren!“
„Inka – jetzt …“
„Und du bist deine Erlaubnis, Fahrschüler auszubilden, los, wenn du so weitermachst“, sagte Mama.
Opa und ich gaben es auf, ihr zu widersprechen.
„So“, meinte sie nach einer Weile, „und jetzt besprechen wir die nächsten drei Tage.“
An denen, kam nun heraus, würde Mama nicht zu Hause sein, weil sie mit ein paar Kommilitonen einen Ausflug machte, der wichtig war für ihr Studium.
Opa trat morgen eine Kreuzfahrt an, auf die er sich schon seit einem halben Jahr vorbereitet hatte.
Ich würde mit anderen Worten während Mamas Abwesenheit allein zu Hause sein.
„Essen gehst du zu Sybille“, sagte sie.
Sybille Schön war Mamas beste Freundin. Ihr Sohn ging in meine Klasse. Er hatte seiner Mutter erzählt, ich sei heute im Freibad ohnmächtig geworden. „Was war denn da los?“ fragte Mama.
„Ich bin nur länger getaucht als die anderen, und die haben sich dann gewundert, dass jemand so lange unter Wasser bleiben kann.“
„Das war alles?“
„Ja.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht der Rede wert.“
Vor dem Einschlafen fuhr ich dann noch ein paar Runden Motorrad im Rahmen eines Rennspiels auf meinem Computer.



Der Anruf

Wie mein Vater aus dem Nichts wieder auftauchte und etwas Unmögliches von mir verlangte.

Tiger griffen an Opa grüßte von der Reling eines Kreuzfahrtschiffs, dem ich hinterherwinkte in zerfetzten Lumpen vom Strand einer einsamen Trauminsel der muskulöse kleine Hund sprang heran mit der geschienten Vorderpfote wütendes Flüstern drang an meine Ohren …
Ich schlug die Augen auf.
Ich hatte geträumt. Aber das Flüstern hatte ich nicht geträumt. Es kam vom Gang unserer Wohnung.
Der Digitalwecker neben meinem Bett zeigte 4:45 Uhr. Ich stand auf und schlich barfuß durch die Dunkelheit vor zur Tür meines Zimmers, die ich einen Spalt weit öffnete.
Mama hatte den Hörer unseres Wandtelefons neben der Küchentür am Ohr und sprach mit leiser, böser Stimme etwas hinein, das ich nicht verstehen konnte. Sie war fertig angezogen zur Abreise, neben ihr stand ein Ausflugsrucksack auf dem Boden. Mit einem Knall hängte sie den Hörer auf.
„Wer war das?“ flüsterte ich.
Mama zuckte zusammen. „Arthur …“
„Was ist denn los?“
„Gar nichts. Es gab ein bisschen Ärger. An der Uni. Leg dich jetzt wieder schlafen.“ Sie kam zu mir und umarmte mich. „Großer Junge. In drei Tagen bin ich wieder zurück, und wir gehen ins Kino. Du darfst den Film aussuchen.“
Ich kroch wieder zurück unter meine Bettdecke. Draußen ging die Wohnungstür.
Mama war fort. Ich hatte drei Tage ohne sie vor mir. So lange war sie noch nie weg gewesen.
Und dann klingelte das Telefon.
War es Mama? Hatte sie irgendetwas vergessen? Ich ging hin und hob ab.
„Jetzt leg nicht gleich wieder auf“, sagte eine Männerstimme. „Hör dir erst ganz an, was ich zu sagen habe. Es ist wichtig.“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
„Inka? Bist du am Apparat? Ich kann dich atmen hören.“
„Sie ist nicht da“, sagte ich.
„Wo ist sie?“
„Auf Exkursion.“
„Und wer bist du?“
„Ich bin …“ Er sollte mir lieber mal sagen, wer er war.
„Arthur?“
Woher wusste er meinen Namen?
„Du bist Arthur, stimmt‘s?“
„Wieso wollen Sie das wissen?“
„Ich bin … dein Vater …“
Die Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube.
„Arthur? Bist du noch dran? Leg jetzt bitte nicht auf. Ich brauch dringend deine Hilfe.“
Mir war ganz übel.
„Du musst auf der Stelle nach Suwalki kommen. Arthur? Was ist los mit dir, kannst du nicht reden?“
„Mein Vater“, sagte ich, „ist tot.“
Das hat sie dir erzählt?“
„Wer?“
„Deine Mutter.“
„Nein“, sagt ich schnell und hängte auf.
Das Telefon schellte gleich wieder. Aber ich hob nicht mehr ab.
Nach einer Ewigkeit hörte es auf und hing reglos an der Wand wie eine tote Fledermaus. Das machte mir beinahe noch mehr Angst.
Ich versuchte, noch etwas zu schlafen, die Bilder aus meinem Kopf zu verscheuchen, die mich ganz schwindelig machten.
Und dann stand auf einmal Opa vor der Wohnungstür. Er hatte mich aus dem Bett geklingelt.
„Was ist denn los?“ fragte ich. „Dachte, du bist schon im Zug nach Bremerhaven.“
„Ja, ich auch. Aber ich muss den nächsten nehmen, weil ich meine Brieftasche mit den Fahrkarten und den Kreditkarten vergessen habe.“
„Wo denn?“
„Hier, glaube ich … gestern beim Abendessen. Wir müssten mal in der Küche schauen.“
Dort fand ich Opas Brieftasche wirklich. Sie lag unter der Sitzbank.
„Sag mal, Opa“, fragte ich ihn, „hast du schon mal von einem Ort gehört, der Suwalki heißt?“
Erst war er sich nicht sicher, meinte dann aber, dass es sich um eine kleine polnische Stadt handeln könnte, die an der Grenze zu Weißrussland lag.
Wir schauten auf Google Maps nach und fanden wirklich einen Ort mit diesem Namen, auch dort, wo Opa ihn vermutet hatte. Er befand sich oberhalb eines Nationalparks mit vielen Seen.
„Wieso interessierst du dich denn für Suwalki?“ fragte Opa.
„Ach, nur so. Ist nicht weiter wichtig.“
„Hat es was mit der Schule zu tun?“
„Opa?“
„Ja?“
„War mein Vater eigentlich Pole?“
Opa meinte, das könne er mir leider nicht sagen. Ich wisse ja, wie ungern Mama über das Thema rede. „Interessierst du dich deswegen für Suwalki?“
„Nee, das ist wegen Erdkunde. Ich dachte nur, mein Vater hätte ja auch Pole sein können.“
Opa ließ mir noch Extra-Taschengeld da. Dann musste er sich beeilen, um den letzten Zug zu erwischen, der es noch nach Bremerhaven schaffte, bevor dort das Kreuzfahrtschiff ablegte.
Als er weg war, öffnete ich auf der Festplatte meines Computers den geheimen Ordner, in dem sich die Reisefilme befanden, die von Papa früher ins Internet gestellt worden waren. Ich hatte die meisten aufgespürt und heruntergeladen, ohne Mama etwas davon zu erzählen. Jetzt schaute ich sie mir zum x-ten Mal an.
Das Telefon klingelte. Diesmal hob ich ab.
Es war er. „Arthur, gut, dass du endlich abhebst. Jetzt sag mir aber erst mal, wie du darauf gekommen bist, dass ich tot bin.“
Das war eine schwierige Geschichte. Wie sollte ich ihm das nur erklären?
„Das hast du dir selber ausgedacht, stimmt‘s?“
Ich sagte immer noch nichts.
„Hör mal, das brauchst du mir nicht weiter zu erklären. Ich hätte es an deiner Stelle genauso gemacht.“
„Echt?“
„Wie sieht das denn aus, wenn man nicht weiß, wo sein Vater ist, weil er sich jahrelang nicht gemeldet hat. Da hast du dir eine Geschichte ausgedacht, die dich nicht ganz so blöd dastehen lässt.“
Konnte er meine Gedanken lesen?
„Stimmt‘s?“
Ich verhörte ihn zu dem Inhalt der Reisefilme, die ich mir gerade anschaute. Er begriff sofort, dass ich prüfen musste, ob er wirklich die Person war, welche er zu sein behauptete, und beantwortete alle Fragen richtig. Dann erzählte er mir von sich aus noch, wie ich in einem Krankenhaus in Goa geboren wurde und als Baby in einer Hängematte zwischen Palmen gehangen hatte.
Die Geschichte mit dem Tiger erzählte er nicht, aber die hatte ich mir ja auch ausgedacht.
Tja, und dann kam er wieder damit, ich müsse ihm helfen und unbedingt nach Suwalki kommen.
Als ich wissen wollte, warum, meinte er, es gebe etwas vor Ort zu tun, das nur ich für ihn erledigen könne. Weil ich so ein toller Schwimmer sei.
„Aber, was soll ich denn machen?“
„Arthur, das kann ich dir jetzt nicht alles am Telefon erklären. Dafür ist die Zeit zu knapp. Du musst mir jetzt einfach vertrauen.“ Und er fügte hinzu, alles hinge jetzt von mir ab.
Dann sollte ich schnell was zum Schreiben holen, und er gab mir mehrere Zahlen durch, die sollte ich ins Suchfeld von Google Maps eintragen und danach auf Street View gehen. „Dann kommt das Bild einer Straßenkreuzung, an der siehst du einen Papierkorb. In seinem Plastikdeckel ist ein Smartphone befestigt. Das holst du, wenn du nach Suwalki kommst, aus dem Versteck und wählst die einzige Nummer in dem Adressbuch.“ Dann würde ich abgeholt werden.
„Arthur, versprichst du mir, dass du kommst?“ Seine Stimme klang, als ob er wirklich Hilfe gebrauchen konnte.
„Okay“, presste ich heraus.
„Sag das nicht einfach nur so, okay schwöre es!“
„Ich schwöre es.“
Ich schwöre, dass ich mich auf der Stelle auf den Weg nach Suwalki mache.
„Ich schwöre, dass ich mich auf der Stelle auf den Weg nach Suwalki mache.“
Aber wie kam ich da überhaupt hin?
Am besten vom zentralen Busbahnhof am Funkturm, meinte er. Der Bus nach Ostpolen fahre dort immer um fünfzehn Uhr.
„Arthur?“
„Ja …“
„Kommst du?“
„Ja.“
Dann war die Leitung tot.



Dieter

Wie ich einen Freund fand, der einmal beinahe in der Wildnis verreckt wäre.

Ich tippte die Ziffern, die ich hingekritzelt hatte, in das Suchfeld von Google Maps und ging auf Street View.
Die Straßenkreuzung in Suwalki wirkte verlassen. Unter einer geschwungenen Straßenlaterne stand der Papierkorb. Er war aus Beton, der Deckelaufbau darüber war aus blauem Plastik.
Darin sollte ein Handy für mich befestigt sein?
Ich schaltete zurück auf die Kartenansicht und druckte den Plan aus. Anschließend holte ich einen Hammer aus unserer Werkzeugkiste unter der Spüle und zerschlug mein Sparschwein. Den Inhalt tat ich zu dem Extra-Taschengeld, das Opa mir dagelassen hatte, und zählte nach. Vorsichtshalber durchstöberte ich die Dosen mit den Gewürzbriefchen in der Küche und fand noch ein paar Scheine, die dort versteckt waren.
Ich legte sie zu den anderen sowie den Geldstücken neben dem Flachbildschirm meines Rechners, auf dem die Seite des zentralen Busbahnhofs erschien.
Ich durchsuchte die Fahrpläne.
Dann stopfte ich ein paar Dinge für unterwegs in meinen Sportbeutel.
Der Bus fuhr erst am Vormittag, in sechs Stunden. Ich konnte also noch etwas schlafen. Aber ich bekam kaum ein Auge zu und verließ die Wohnung früher, als ich es sonst tat, wenn ich zur Schule ging. Im Treppenhaus kehrte ich noch einmal um zurück ins Zimmer und suchte meine Taucherbrille heraus. Die steckte ich zu den Reisesachen.
Auf dem Bahnhof war schon eine Menge los Leute aus der ganzen Welt kamen und reisten ab und drängten mit ihrem Gepäck herum. Auf einer Anzeigentafel konnte ich überprüfen, wann mein Bus abfuhr.
„Wie alt bist du?“ fragte mich die Frau hinter dem Fahrkartenschalter.
„Zwölf Jahre.“
„Und wo sind deine Erziehungsberechtigten?“
„Ich fahr alleine. Kindersparpreis.“
Den gab es jedoch nur in Begleitung von Erwachsenen. Außerdem hatte ich nicht mal einen Personalausweis, den man an der Grenze vorzeigen konnte.
Ich erklärte der Frau, dass es sich bei mir um einen Spezialfall handele, da ich von einem meiner Erziehungsberechtigten angerufen worden wäre. „Er kann deswegen gerade nicht hier sein weil er dringend meine Hilfe braucht!“
Sie ließ nicht mit sich reden, und ich schaute mich nach einem anderen Schalter um, wo ich hoffentlich mehr Glück hatte. Vielleicht bekam ich dort ja eine Fahrkarte, wenn ich sagte, mein Vater würde mich in Suwalki vom Bus abholen.
In der Schlange standen noch eine Frau mit buntem Kopftuch sowie ein älterer Mann in kurzen Hosen an, der einen kleinen Rucksack zwischen den Beinen voranschob.
Endlich war ich an der Reihe und sagte, wohin meine Reise gehen sollte. Der Fahrkartenverkäufer schaute mich durch seine Luke an, da erklang eine Stimme in meinem Rücken.
„Er fährt mit mir.“
Ich drehte mich um und blickte hoch in das Gesicht eines Mannes mit Schiebermütze in Mamas Alter, der mir seine weißen Zähne zeigte und dabei mit dem Auge zwinkerte.
Ich nickte verwirrt zurück, bezahlte und nahm meine Fahrkarte entgegen.
Der Mann folgte mir zu den Wartesitzen. Etwas stimmte nicht mit seinem Gang. Er humpelte, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Er nickte mir noch mal zu und ging dann zu einem Kioskladen, wo es Reiseverpflegung, Zeitungen und Zigaretten zu kaufen gab.
Als er zurückkam, hatte er zwei Dosen zu trinken dabei eine reichte er mir.
„Dieter und wie heißt du?“
„Arthur …“
„Nimm schon, ist in Ordnung.“
„Warum haben Sie das eben gesagt?“
„Dass du mit mir fährst? Hättest du sonst wohl eine Fahrkarte bekommen?“
Ich beobachtete ihn. Sein Haar, das unter der Schiebermütze hervorschaute, war etwas fettig, aber voll.
„Mach dir mal keine Sorgen“, sagte er. „Man konnte sehen, dass es dir wichtig war.“
Er steckte die zweite Dose neben mir zwischen die Sitze.
„Ich muss zu meinem Opa“, schwindelte ich.
„Überraschungsbesuch?“
„Ja …“
„Na, dann will ich mal nicht weiter stören“, sagte er und tippte an seine Mütze. „Gute Reise.“
„Danke.“
Er verschwand zwischen den Menschen in der Wartehalle.
Mein Bus fuhr erst sehr viel später. Fast den ganzen Tag lauerte ich zwischen den Wartenden, bis die Anzeigetafel sichtbar machte, dass ich einsteigen konnte.
Die meisten Reisenden übergaben ihre Koffer vorm Einsteigen dem Beifahrer. Er prüfte ihre Tickets und verstaute das Gepäck im Frachtraum. Ich machte einen Bogen um ihn, um bloß nicht wieder nach meiner Begleitperson gefragt zu werden.
Mit meinem Reisebeutel kletterte ich an Bord des Busses und nahm möglichst weit hinten Platz.
„Das ist ja eine Überraschung. Fährst du etwa auch nach Suwalki?“ Dieter saß mir im Gang gegenüber.
„Äh, ja“, sagte ich, „klar.“
„Dann wohnt dein Opa in Suwalki?“
„Ja …“
„Warst du schon mal da?“
„Früher … mit meiner Mutter.“
„Dann kennst du ja den Nationalpark.“
Ich … nickte …
„Wigierski“, sagte Dieter, „die glasklaren Seen.“ Auf denen würde er ein Ausflugsboot steuern für Touristen aus aller Welt und aus Deutschland.
Anschließend half er einer alten Frau, die sich neben ihm ans Fenster setzen wollte, ihren Mantel in der Ablage über den Sitzen zu verstauen. Dabei knickte er ein. Er bückte sich zu seinem Fuß, um ihn wieder gerade zu rücken.
Er bemerkte meinen Blick.
„Der ist künstlich, eine Prothese“, sagte er. „Blöder Unfall.“
Später erzählte er mir, wie er seinen Fuß verloren hatte: bei einem Sturz in den Bergen des Himalajas. Damals sei er mit einigen Kumpels unterwegs gewesen, die ihn liegen gelassen hatten, weil sie ihn für tot hielten, nachdem er vor ihren Augen in eine Felsschlucht gefallen war.
„Man darf ihnen keinen Vorwurf machen. An ihrer Stelle konnte man nur glauben, dass es um mich geschehen war.“
„Wieso?“ fragte ich.
„Mal dir das mal bitte aus: Vor deinen Augen fällt jemand rückwärts über eine Felskante, und du springst hin schaust nach …“ Er legte eine Pause ein.
Draußen vor dem Busfenster zog im Abendlicht die Landschaft unweit der polnischen Grenze vorbei.
„Und?“ frage ich.
„Nichts …“ Ich sah nur seinen Hinterkopf auf dem Sitz vor mir. Der war von Dieter eingenommen worden, nachdem unser Bus die Stadt verlassen hatte.
„Nichts?“ frage ich verwirrt.
„Man konnte nichts von mir erblicken. Ich war in eine Aushöhlung der Felswand gefallen. Meine Kumpels konnten sie von oben nicht einsehen. Sie erspähten nur den schäumenden Gebirgsfluss weiter unten und mussten denken, dass er mich fortgerissen hatte.“
„Sind sie ohne dich weitergegangen?“
„Yep. Ich musste allein zurechtkommen.“
„Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?“
„Hab ich ja. Aber das Röhren des Gebirgsflusses war zu stark. Es übertönte alles.“
„Und was hast du dann gemacht?“
„Ich hab mich allein wieder nach oben gearbeitet. Was blieb mir anderes übrig?“
„Und dann?“
„Bin ich zum nächsten Bergdorf gekrochen, mindestens fünf Tage.“
„Und dabei hast du dann deinen Fuß verloren?“
„Der war die ganze Zeit noch dran. Aber tat höllisch weh. Später musste man ihn mir dann abnehmen im Krankhaus von Katmandu. Er war ganz verfault.“
Dieter blickte die ganze Zeit nach vorne, während er mir mit leiser Stimme solche Sachen erzählte. Als sollte niemand mitkriegen, dass wir miteinander zu tun hatten.
Trotzdem hörte ich ihm gerne zu und erzählte ihm auch bald von mir, der Schule, den Freunden, und Dieter fand, dass ich ein toller Kerl sei.
Als es draußen dunkel wurde, döste er ein. Er bewegte sich unruhig im Schlaf und knurrte: „Dreckige Zigeuner.“ Auf seinen Handrücken waren Kratzspuren zu sehen.
Da klingelte sein Mobiltelefon. Mit einem Ruck war er wach und schaute kurz nach, wer der Anrufer war. Und drückte ihn weg.
„Was guckst du so?“ fragte er mich und merkte dann, was meine Aufmerksamkeit erregte: die Kratzspuren.
Er ballte seine Hände und schwang mit den Fäusten ein paar Boxbewegungen in die Luft, als wolle er jemanden niederschlagen.
Dann schaute er mich grinsend an: „Alles klar?“
Ich nickte, und Dieter beruhigte sich wieder.



Verrat

Wie ich im letzten Moment meine Haut vor drohender Gefahr rettete.

„He, Schlafmütze!“
Meine Augen flogen auf, und ich erblickte einen Schatten über mir. Dieter rüttelte mich.
„Wa-was ist …?“
„Eine Stunde Pause!“
Unser Bus war schon weit nach Polen vorgedrungen und hatte die Hauptstadt hinter sich gelassen. Jetzt stand er auf dem kleinen Parkplatz einer schwach beleuchteten Raststätte, wo der Fahrer ausruhen musste.
„Wir sind gar nicht mehr so weit von Suwalki entfernt“, sagte Dieter, als ich mit meinem Gepäckbeutel hinter ihm aus dem Bus stieg.
Ein glitzernder Geländewagen fuhr von der Landstraße heran und parkte großspurig ein.
Ein kleiner muskulöser Hund sprang aus der sich öffnenden Fahrertür. Ihm folgte ein riesiger Glatzkopf. Er trug ein Goldkettchen ums Handgelenk und steckte in einem teuren, zu engen Anzug.
In dem Restaurant brachte Dieter mir ein Tablett mit Pommes und Würstchen sowie Coca-Cola. Ich war ganz schön hungrig und haute rein.
Der Glatzkopf saß nicht weit von uns. Er hatte sich eine flache Schale bringen lassen. Auf die legte er Fleischstückchen von seinem Teller und reichte sie seinem Kampfhund hinunter, der alles gierig verschlang.
Was dann hereinbrach und alles total durcheinanderbrachte, wäre bestimmt unterblieben, wenn ich nicht allein auf die Toilette gemusst hätte. Aber ich musste nun mal.
„Groß oder klein?“ fragte Dieter.
„Ich glaube, groß.“
„Gut, dann kann ich inzwischen eine rauchen gehen. Du weißt, wo die Toiletten sind?“
Ich nickte und machte mich auf den Weg.
Als ich aber mit heruntergezogener Hose auf der Brille saß, hörte ich auf einmal Dieters Stimme.
War er mir gefolgt?
Nein, sie kam aus dem kleinen Fenster unter der Decke, das offen stand. Dietmar ging vor dem Gebäude auf dem Kies hin und her.
Er telefonierte.
Und er hatte keine Ahnung, dass ich alles mithören konnte.
Ich wusste nicht, mit wem er redete, aber er erzählte dieser Person über mich. „Mach dir mal keine Sorgen“, sagte er. „Ich habe ihn völlig eingewickelt. Er frisst mir aus der Hand. Er glaubt alles, was ich ihm erzähle.“
Mein Herz fing an zu pochen. Log Dieter mich die ganze Zeit an? Klar, ich hatte ihm auch nicht immer die Wahrheit erzählt, nicht die ganze jedenfalls. Aber vielleicht war auch das schon zu viel, was er inzwischen über mich wusste.
Alles würde „sich erledigen“, hörte ich ihn sagen, sobald wir „bei den Seen“ seien.
Was würde sich erledigen? Bei den Seen?
Und seine Stimme wurde leiser. Ich lauschte gespannt, bekam aber nicht alles mit. Es ging weiter um mich. Es hörte sich so an, als ob Dieter sagte, ich würde „tief eintauchen“. Deswegen bringe es nichts, sich den Kopf über mich zu zerbrechen.
War ich also schon erledigt? Ein wandelnder Toter?!
Unauffindbar auf dem Grund der Wigierski-Seen …
Als ich von der Toilette kam, saß Dieter wieder an unserem Tisch und winkte mir zu. Er hatte erstmals seine Schiebermütze abgenommen, und ich konnte seine vollen Haare sehen, die zu einem Zopf zusammengebunden waren.
„Arthur, wo warst du denn? Ich dachte schon, du hast die Biege gemacht.“
„Alles in Ordnung.“
„Ich hab dir noch eine Cola bestellt.“
„Danke.“
„Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest.“
Alles an ihm kam mir auf einmal verdächtig vor: das freundliche Lächeln, die weißen Zähne, das Funkeln seiner Augen.
Er begleitete mich zurück zum Bus und nahm wieder Platz auf dem Sitz vor meinem.
Ich wartete, bis der Fahrer einstieg. Dann schnappte ich meinen Reisebeutel und rannte plötzlich nach vorne.
„He, Arthur!“ hörte ich in meinem Rücken. „Was ist los? Warte doch!“
Ich drängte mich durch die sich schließende Bustür, rannte über den dreckigen Parkplatz und versteckte mich hinter dem Vorbau der Raststätte.
„Arthur?“ klang Dieters Stimme durch die Dunkelheit.
Ich duckte mich tiefer in den Schatten. Über mir in der Wand stand etwas offen, und ich erkannte das kleine Fenster, durch welches ich das Telefongespräch mitgehört hatte.
Plötzlich stand er vor mir, packte mich an beiden Armen. „Was ist denn auf einmal los mit dir?“
Der Bus hupte.
Dieter blickte sich hastig um. „Wir müssen uns beeilen. Er fährt sonst ohne uns.“
Ich trat zu und rannte los zurück über den Parkplatz.
Aber wo sollte ich hin?
Da sah ich, dass die Fahrertür des Geländewagens aufstand. Der Besitzer stoppte gerade etwas abseits neben seinem Hund, um zwischen die Mülltonnen zu pinkeln.
Der Motor lief.
Dieter tauchte hinter dem Vorbau auf und erblickte mich. „Arthur!“
Ich rannte zu dem Wagen, warf meinen Reisebeutel auf den Beifahrersitz und kletterte hinter das Steuer.
„He!“ Jetzt hatte mich auch der Fahrer bemerkt. Hastig fummelte er am Hosenschlitz. Sein Hund rannte los und bellte wütend.
Ich zog die Tür zu, trat aufs Gas. Der Wagen rollte los machte einen Satz.
Im Rückspiegel sah sich, wie der Goldkettchenmann sich über seinen Hund am Boden beugte. Ich wurde langsamer.
Da erschien der rennende Dieter neben der Fahrertür und riss sie auf. „Mensch, Arthur, mach doch keinen Scheiß!“
Ich lenkte auf die Straße hinaus und düste in die Nacht.
Erst als ich eine längere Strecke gerollt war, hielt ich an und zog schnell die Tür zu.
Dann fuhr ich gleich weiter und hielt erst wieder an, als ich ganz sicher war, dass niemand mir folgte.

Zina

Wie eine blinde Passagierin mir den Garaus machen wollte.

Ich parkte abseits von der Hauptstraße im Schatten eines Bahndamms auf einem Waldweg. Am Himmel wurde es heller, bald würde die Sonne aufgehen.
Ich kramte die Kartenansicht Suwalkis, die mein Drucker zu Hause ausgespuckt hatte, aus dem Reisebeutel und tippte die Koordinaten in das Navigationsgerät des Geländewagens.
Ein merkwürdiges Geräusch lenkte mich dabei ab, immer wieder, dumpf und pochend.
Es schien aus dem Kofferraum zu kommen.
Ich kletterte aus dem Wagen und sah ihn mir von außen an.
Etwas Ersticktes schien daraus zu klingen.
Sollte ich einfach weiterfahren mit diesem unheimlichen Geräusch im Rücken? Oder lieber nicht doch vorher nachschauen, was es damit auf sich hatte?
Beide Möglichkeiten waren mir gleich unheimlich. Aber schließlich zog ich doch den Schlüssel vom Zündschloss und machte mich damit am Kofferraum zu schaffen.
Kaum war er einen Spalt offen, wurde die Klappe mir so ins Gesicht gestoßen, dass ich rückwärts stolperte und beinahe hingefallen wäre.
Ein blondes Mädchen sprang ins Freie, sie war nur wenig älter als ich selbst. Sie hatte ein blaues Auge.
Augenblicklich drehte sie sich wieder um, wühlte im Kofferraum, dem Klang nach in einer Werkzeugkiste, und sprang dann mit etwas in der Hand auf mich zu. Im letzten Moment konnte ich sehen, dass es sich um einen Schraubenzieher handelte.
Den drückte sie mir gegen den Hals.
„Aua!“ schrie ich.
„Ja zakalo“, sagte sie wütend, „vas…“ und als sie meine Verwirrung bemerkte: „Ich stech dir ab!“
„Lass mich los!“ sagte ich. „Du tust mir weh!“
„Ha!“ sagte sie und schaute sich böse um. „Vychodzi bajazlivaj sabaki!“
Später erklärte sie mir, dass es „Kommt raus, ihr feigen Hunde!“ bedeutete.
Sie lauschte. Niemand antwortete.
„što adbyvajecca?“ fragte sie mich.
„Ich kann dich nicht verstehen.“
„Wo ist Vater?“ Sie drückte mir den Schraubenzieher an den Hals.
„In Suwalki“, sagte ich erschrocken.
„Suwalki?“
„Das ist eine Stadt nicht weit von hier an der Grenze zu Weißrussland.“
„Ich weiß, wo Suwalki ist“, sagte sie. „Aber wo ist er?“
„Welcher er?“
Sie zeigte auf den Fahrersitz des Geländewagens.
„Der Mann mit dem Hund?“
Sie fuhr zusammen. „Aua!“ schrie ich, weil der Schraubenzieher tiefer in meine Haut drang. „Er ist nicht hier.“
„Wer hat Wagen gefahren?“
„Ich.“
„Du lügst!“
„Aua, verdammt!“
Sie brüllte wieder in den Wald, der Fahrer solle ich zeigen. Sonst würde sie seinen Schützling damit war ich gemeint abstechen.
Aber es kam niemand aus dem Wald.
Endlich ließ sie den vermaledeiten Schraubenzieher fallen. Ich solle ihr zeigen, wie ich den Wagen gelenkt hätte. Also setzte ich mich hinters Steuer und fuhr ein Stückchen den Waldweg hinauf.
Da fragte sie mich, woher ich den Wagen hätte.
Ich erzählte ihr alles: von dem nächtlichen Telefonanruf über den unerwarteten Auftrag meines Vaters bis zu dem verräterischen Dieter.
Sie glaube mir nichts von alledem, sagte sie, nicht ein Wort. Höchstens, dass ich den Wagen gestohlen hätte. Dafür werde sie mich bei der Polizei melden, das hätte ich jetzt davon!
Ich bat sie, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.
Sie schaute mich böse an. „Ich überleg‘s mir“, sagte sie dann.
„Danke“, sagte ich erleichtert.
„Du musst aber tun, was ich dir sage!“
„Was denn?“
Sie wollte, dass ich sie zurück nach Braunschweig fahre.
„Nach Braunschweig?“
„Da!“ Sie zeigte auf den Navigator im Armaturenbrett des Geländewagens.
Ich trug den Namen der Stadt ein.
„Das sind ja über tausend Kilometer“, sagte ich.
„Du fährst hin!“
„Aber das sind zehn Stunden, mindestens. Da fliegen wir bestimmt auf.“
Auf dem Bahndamm über uns ratterte ein Zug vorüber, und ich meinte, wenn sie mit der Bahn nach Braunschweig führe, würde sie viel sicherer ankommen.
Sie beobachtete mich aus schmalen Augen. „Willst du mich loswerden, was?“
„Ich könnte dich zum nächsten Bahnhof fahren“, sagte ich.
Sie lachte und meinte, da würde nichts draus. Außerdem könne ich ihr das Geld für die Fahrkarte geben.
Das hatte ich natürlich nicht.
Dann, meinte sie, müssten wir das Auto eben verkaufen!
Ehe ich‘s mich versah, steuerte ich den Wagen den Feldweg unter dem Bahndamm entlang, und wir näherten uns einer Kreuzung.
„Da lang!“
„Wieso?“ fragte ich.
„Weil ich so sage.“ Sie kaute nervös auf ihren Nägeln.
Ich bog also ab.
Dann warf sie mir vor, bis jetzt noch nicht nach ihrem Namen gefragt zu haben. Der sei Zina, und sie komme aus Nawapolozk. Das liege in Weißrussland.
„Du sprichst aber trotzdem Deutsch“, sagte ich.
„Hör mal, nicht alle Weißrussen sind Idioten.“
„Hab ich doch gar nicht gesagt.“
Deutsch habe sie in der Schule gelernt, meinte Zina, und sei deswegen auch auf dem Weg nach Braunschweig zum Schüleraustausch.
„Warum warst du denn dann in dem Kofferraum?“ fragte ich.
Zina sah mich schnippisch an. Man habe sie, sagte sie dann, nach Weißrussland zurückbringen wollen.
„Warum?“
„Weil ich zu gut Deutsch konnte.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Bist du eben schwer von Begriff“, sagte Zina und zeigte auf einen Traktor, der sich aus der Ferne nährte. „Schnell, da musst du parken.“
„Parken?“
„Na, wir lassen dann die Tür vorne auf und setzen uns nach hinten.“
„Wieso?“
„Wenn Trecker kommt, denkt er, wir sind Kinder und warten auf unseren Papa.“
„Und wo ist der?“
„Pipi machen, da hinten.“ Sie zeigte auf eine hohe Buschgruppe am Bahndamm. „Mach schon, Schlafmütze!“
Ich hielt den Wagen an. Wir kletterten, so schnell es ging, auf die Rückbank.
Der Traktor wurde von einem dicken Bauern gefahren. Er hielt neben uns auf der Wiese.
Der Mann sagte oder fragte etwas, ich wusste es nicht so genau, denn es war auf Polnisch. Zina stieg aus und redete mit ihm. Sie gestikulierte, und ich hörte das Wort „Papa“. Sie zeigte auf die Buschgruppe.
Der Bauer gab schließlich Gas und tuckerte weiter. Zina kletterte zurück zu mir auf den hinteren Sitz des Geländewagens.
„Sprichst du Polnisch?“ fragte ich.
„Das war Belarussisch“, sagte sie. „Aber die Polen verstehen das. So wie die Holländer verstehen Deutsch.“
„Hat er gesagt, wie weit es ist nach Suwalki?“
„Könnte dir so passen“, knurrte sie, „abhauen nach Suwalki. Erst verkaufen wir Auto!“
„Wer wird denn uns zwei Kindern ein Auto abkaufen?“
Das solle ich mal ihre Sorge sein lassen, erwiderte Zina. Außerdem sei sie kein Kind mehr.



Krach

Wie ich eine unglaubliche Geschichte erfuhr und in weitere Schwierigkeiten geriet.

Ich fuhr den Wagen also langsam aus dem Gebiet der Feldwege auf eine Promenade.
Suwalki“ stand dort auf einem der Straßenschilder zwischen anderen Ortsnamen. Und dass es nur noch wenige Kilometer bis Suwalki waren. Am Horizont war eine Stadt zu sehen. Das konnte Suwalki sein.
Aber Zina hatte erst mal andere Pläne. Listig zeigte sie in Richtung sehr vieler Autos, die vor der Stadt auf einer Grasfläche beieinanderstanden. Ganz bestimmt, meinte sie, sei das ein Gebrauchtwagenmarkt. „Da kriegen wir unseren hier bestimmt los!“
Sie stöberte in den Fächern der Türen und unter der Ablageklappe des Armaturenbretts.
„Was suchst du denn?“ fragte ich.
„Fahrzeugpapiere“, sagte sie. „Idiot!“
„Sag mal, Zina, warum nennst du mich eigentlich jedes Mal Idiot, wenn ich dich mal was frage? Du weißt auch nicht alles.“
„Was weiß ich nicht?“ fragte sie gleich zurück.
„Wie viele Ziegelsteine braucht man, um ein Haus aus Ziegelsteinen fertig zu bauen?“
„Tausend“, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Einen.“
„Idiot! Kann man doch aus einem Ziegelstein kein Haus bauen.“
„Aber fertig baut man es mit einem Stein, dem letzten.“
Sie schaute mich böse an. „Das war Trick!“
„Ja, aber es stimmt, oder? Jetzt frage ich dich noch was: Was wird nass, wenn es trocknet?“
Man konnte sehen, wie sie nachdachte.
„Und?“ fragte ich.
„Ich weiß es.“
„Und?“
„Sag ich nicht. Bieg mal auf Wiese, da!“
Inzwischen hielt sie einen Plastikumschlag in den Händen mit den Fahrzeugpapieren, die ihr Forschungsdrang gefunden hatte.
Ich ließ unseren Wagen am Rand der anderen ausrollen und zog die Handbremse.
Zina sprang mit dem Plastikumschlag in ihrer Hand heraus. Ich folgte ihr, damit niemand sah, dass ein Kind am Steuer saß.
„Du bleibe hier und behalte alles hier im Auge!“ sagte sie.
Sie selber wollte inzwischen einen Käufer finden.
Ich beobachtete, wie sie zu den anderen Autos lief und dort zwischen den Kaufinteressenten herumstrich. Sie zog den Inhalt des Plastikumschlags heraus und zeigte die Papiere herum.
Einer der angesprochenen Männer zog schließlich sein Handy heraus und telefonierte. Nachdem er damit fertig war, nickte er.
Zina rannte mit dem Papier wedelnd zu mir zurück.
Sie strahlte: Unser Wagen sei so gut wie verkauft!
Ich schlug vor, den Geschäftserfolg an der Würstchenbude zu feiern, deren köstlicher Duft mir seit unserer Ankunft um die Nase wehte.
„Hast du Geld?“ wollte Zina gleich wissen.
Ich zeigt ihr meine Ersparnisse, und sie zählte alles genau ab.
„Viel ist nicht“, sagte sie.
„Kannst dein Würstchen ja selber bezahlen, wenn du mehr hast“, sagte ich, als ich dem Verkäufer das Geld reichte. „Oder willst du gar keins?“
Zina biss hungrig ab.
„Warst du schon in Braunschweig?“ fragte sie mich mit vollem Mund.
Ich wusste nicht mal genau, wo diese Stadt liegt.
„Zwischen Wolfsburg und Salzgitter!“ erklärt Zina mir. Dorthin wolle sie gehen. „Austauschschülerin.“
„Wieso ausgerechnet nach Braunschweig?“
Zina meinte, das Standbild des Löwen habe ihr am besten gefallen in dem Prospekt. Er stehe in Braunschweig auf dem Burgplatz.
„In welchem Prospekt denn?“ fragte ich.
Sie erklärte mir, dass es in Nawapolazk, ihrer Heimatstadt, ein kleines Reisebüro für Frauen gebe.
„Für Frauen?“
Zina nickte. Es vermittele junge Frauen, sagte sie, nach Deutschland als Kellnerinnen. „Und als Austauschschülerinnen“, fügte sie hinzu. Da habe sie sich unter den angebotenen Städten Braunschweig ausgesucht.
Zinas Oma hatte die Vermittlungsgebühren bezahlt. Danach war Zina mit anderen Mädchen, die schon etwas älter waren, in einem kleinen Bus losgefahren.
In Deutschland brachte sie ein Freund des Reisebüro-Mannes in einer großen Wohnung über seinem Geschäft unter und sammelte alle ihre Pässe ein.
„Alle Pässe?“ fragte ich.
„Sicherheitsgründe“, sagte Zina.
„Aber warum?“
„Das hat er uns nicht erklärt.“
Nicht mal auf die Straße gehen durften die Mädchen danach. Sie konnten alle sowieso kein Deutsch und hätten sich daher bei niemandem erkundigen können. Nur Zina verstand etwas von der Sprache und war schließlich aus der Wohnung heruntergekommen, um sich zu erkundigen, wo sie überhaupt gelandet waren.
„In Braunschweig?“ fragte ich.
„Nee“, sagte Zina. Die Stadt habe ganz anders geheißen.
„Damit wird‘s nichts“, habe ihr der Mann dann gesagt, der sie alle unterbrachte. Braunschweig könne sie vergessen.
Zina wollte sofort zur Polizei. Um sich zu verschweren.
Der Mann bekam einen ganz schönen Schreck. Ein Mädchen, das so gut Deutsch sprach, hätte er noch nicht erlebt. Und deswegen sei Zina dort gelandet, wo Arthur sie gefunden habe. Denn sie sollte schleunigst zurück nach Nawapolazk und dort Ruhe geben.
„Aber da haben sie sich geschnitten!“ sagte Zina.
„Was hast du denn jetzt vor?“ fragte ich.
„Auto verkaufen!“
„Und dann?“
„Zurück nach Deutschland!“ Sie beobachtete mich. „In deine Schule nehmen sie auch Austauschschüler?“
„Glaub schon …“
„Du sagst, ich bin deine Freundin. Dann nehmen sie mich.“ Sie zwinkerte mir zu. Dann rief sie auf einmal „Jimmy Aaja!“ und fing laut an zu singen. „Jimmy, Jimmy Aaja, Aaja aajare prosto govorit, yeh jagi jagi raath …“
Es war der Text zu einem Song, der aus dem kleinen Fernseher, der hinten in der Würstchenbude stand, dröhnte. Die Leute auf dem Bildschirm tanzten dazu in indischen Kostümen.
Ich verstand nur Bahnhof.
Zina forderte mich auf mitzusingen: „Jimmy, Jimmy, Jimmy, aaja, aaja, aaja Jimmy, Jimmy, Jimmy, aaja, aaja, aaja …“
Es war ein berühmter indischer Song, nach dem ganz Russland verrückt war, erfuhr ich später. Und die Weißrussen fanden ihn auch toll.
Während Zina noch lauthals sang, bemerkte ich den Mann, den sie angesprochen und der danach mit seinem Handy telefoniert sowie genickt hatte. Er winkte einen Wagen zu sich heran, der von der Straße her auf die Wiese bog.
Der Wagen hielt, die Fahrertür ging auf, und heraus kam eine Vorderpfote in einem Verband.
Der kleine muskulöse Hund!
Ihm folgten die glänzenden Schuhe des riesigen Goldkettchen-Glatzkopfes in seinem zu engen Anzug.
Durch ihr Herumzeigen der Fahrzeugpapiere hatte Zina den Wagenhalter bekannt gemacht. Jetzt war er aufgetaucht, und es ging uns an den Kragen.
Der Hund hatte mich schon erkannt und stürmte bellend heran. Zum Glück machte seine geschiente Vorderpfote ihn etwas langsamer.
Ich wechselte einen kurzen Blick mit Zina. Wir rannten los. Tauchten zwischen die herumstehenden Fahrzeuge.
Ich rannte geduckt und kroch unter mehreren Kombis hindurch, deren Türen weit offen standen. Der Köter erwischte mich am Hosenbein, aber ich trat ihn auf die Nase. Er jaulte und blieb zurück.
Zina schrie, und ich erblickte den Plastikumschlag mit unseren Wagenpapieren vor mir im Gras. Ich griff danach und rannte zu dem Wagen, mit dem wir gekommen waren. Dort legte ich alles ins Handschuhfach.
Die Stimme des Glatzkopfs erscholl. Er rief meinen Namen.
Ich lugte um die Ecke eines Wohnmobils, das zum Verkauf stand, und sah, dass der Kerl Zina den rechten Arm auf den Rücken gedreht hatte.
Sie wimmerte.
Wenn ich nicht endlich herauskäme, sagte er laut, würde er Zina die Schulter auskugeln.
„He!“ rief ich und trat ihm entgegen. „Lass sie in Ruhe.“
Ich solle mal bloß nicht frech werden, sagte er. Ich hätte sein Auto geklaut!
Ein Blaulichtwagen kurvte auf die Wiese, und zwei Polizisten kletterten heraus.
Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, da sie natürlich polnisch redeten, aber Zina konnte sich einen Reim darauf machen.
Sie wollen wissen, sagte sie mir, um wessen Auto es gehe.
In dem Geländewagen steckten die Schlüssel, und die Papiere lagen im Handschuhfach.
Der Kerl, der Zina inzwischen losgelassen hatte, gab zu, dass es sich um sein Auto handele.
„Und wo liegt das Problem?“ fragte der kleinere Polizist auf Polnisch.
Das Problem sei der Spinner mit seinem Kampfhund, sagte Zina laut. „Der beschuldigt uns, sein Auto geklaut zu haben.“
Die Polizisten blickten zwischen ihr, mir und dem Glatzkopf hin und her.
„Dabei kann doch jeder sehen, dass wir Kinder sind“, sagte Zina.
Ob Kinder denn vielleicht Auto fahren könnten?
Die Polizei wollte wissen, wer Zina ist.
„Ich bin eine Austauschschülerin. Wenn ihr mir nicht glaubt, fragt den da.“ Sie zeigte auf mich. „Wir sind Klassenkameraden.“
„Stimmt das?“ fragte mich der Polizist.
Ich spürte Zinas Finger in meinem Unterarm, kurz davor, mich zu kneifen, wenn ich das falsche sage.
„Ja“, antwortete ich.
„Und was habt ihr dann hier in Ostpolen verloren?“
„Wir besuchen meinen Vater“, sagte ich. „Der wohnt in Suwalki.“
Der Polizist wandte sich an den Besitzer des Geländewagens und fragte ihn, ob er Zina kenne.
Er schüttelte den Kopf. Es sollte natürlich nicht herauskommen, dass er sie der Freiheit beraubt hatte.
Und mich? War ich ihm bekannt?
Der Glatzkopf zögerte.
Es läge da wohl eine Verwechslung vor, meinte er schließlich.
„Und was ist mit dem Auto?“
„Das gehört mir“, sagte er. Es sei gestern von einer Raststätte verschwunden, jetzt aber hier wieder aufgetaucht. In tadellosem Zustand. Er würde es gerne wieder in Besitz nehmen. „Wenn es erlaubt ist.“
Die Polizei hatte keine Einwände.
Also stieg der Kerl hinter das Steuer und pfiff seinen Hund herbei. Der sprang auf den Beifahrersitz.
„Willst du der Polizei nicht sagen, was er mir dir angestellt hat?“ sagte ich leise zu Zina.
„Dann schicken die mich doch nur zurück nach Hause. Ich will aber mit dir auf dieselbe Schule.“
Die Polizei fragte, was wir da zu bereden hätten.
„Ani krzty“, sagte Zina. Das war Polnisch und heißt so viel wie „gar nichts“.



Suwalki

Wie eine unsichtbare Stimme uns sagte, wo wir hingehen sollten, und Zina ihr erst nicht folgen wollte.

Der Polizeiwagen nahm uns sogar mit nach Suwalki.
Am Stadtrand fuhren wir vorbei an einem neuen Einkaufszentrum und weiter zwischen die Häuser, bis wir zu einer schneeweißen Kirche kamen, die wie ein Tempel aussah mit zwei Türmen.
Die Polizisten hielten an und fragten mich, wo mein Vater wohne.
Ich antwortete, dass ich den Namen der Straße nicht richtig wisse, weil er zu schwer für mich auszusprechen sei. Sie sollten weiterfahren, dann würde ich ihnen mitteilen, wo sie uns aussteigen lassen sollten.
Also kutschierten wir noch etwas in der Stadt herum. Irgendwann sagte ich dann: „Hier steigen wir bitte aus.“ Es war an einem Platz mit dem Standbild einer Frau und eines Kindes, dem sie die Hände auf die Schulter legte.
Nachdem das Polizeifahrzeug sich entfernt hatte, kramte ich die Karte Suwalkis aus meinem Reisebeutel, auf der ich die Stelle mit dem Papierkorb markiert hatte.
„Was willst du von Papierkorb?“ fragte Zina.
Ich erklärte ihr, dass darin ein Handy befestigt sei mit weiteren Anweisungen.
Zina schaute skeptisch, half mir dann aber doch beim Durchfragen.
Bis wir den Papierkorb gefunden hatte.
Die Straßenkreuzung wirkte verlassen. Unter einer geschwungenen Straßenlaterne stand der Papierkorb. Er war aus Beton, der Deckel darüber war aus blauem Plastik. Wie auf dem Street-View-Bild.
Und in dem Deckel war tatsächlich das versprochene Handy befestigt. Zina staunte nicht schlecht, als ich es hervorholte.
Ich wählte die einzige Nummer in dem Telefonbuch des Geräts.
Die bekannte Stimme meldete sich. Sie fragte, ob es mir gut gehe, und wirkte erleichtert, als ich bejahte.
Nachdem das Gespräch vorbei war, sagte ich zu Zina: „Wir müssen den Bus nehmen.“
„Welchen Bus?“
„Nummer 5.“
„Wohin geht?“
„Zu einem Campingplatz.“
„Wo?“
„Ich glaub, in den Nationalpark. An der Endstation werden wir abgeholt.“
Zina gefiel der Gedanke nicht. Trotzdem half sie mir dabei, den kleinen Busbahnhof von Suwalki zu finden.
Die ganze Zeit sah sie sich unruhig um. Sie hatte Angst, der Glatzkopf würde sie wieder einfangen.
„Wieso denn?“ fragte ich.
„Das verstehst du nicht.“
„Wenn du‘s mir gar nicht erst erklärst …“
Zina meinte, der Kerl hätte den Auftrag gehabt, sie wieder in Weißrussland abzuliefern. Weil sie in Deutschland zu viele Fragen gestellt hätte. Und solche Typen hielten meistens ihr Wort, weil sie sonst keine Entlohnung bekommen würden.
„Warum hast du ihn dann nicht angezeigt?“ fragte ich.
„Wann?“
„Vorhin bei der Polizei.“
Zina schnaubte. „Die hätten doch auch nur dafür gesorgt, dass ich nach Hause komme.“
„Ist das denn so schlimm?“
„Ich will aber mit dir auf die Schule“, sagte sie, „Austauschschülerin.“
Tja, ich musste in Suwalki nur noch was erledigen.
Zina fragte mich, ob ich meinen Vater überhaupt schon mal gesehen hätte.
„Nicht, seit ich ein Baby war“, gestand ich. „Aber daran erinnere ich mich natürlich nicht mehr.“
„Dann weißt du gar nicht, wie er aussieht.“
„Wer?“
„Papa.“
„Na und?“
„Ist gefährlich.“
„Geh du doch zur Polizei, wenn es dir alles zu gefährlich ist.“
Dann saßen wir in dem kleinen Linienbus mit der Nummer 5 und fuhren hinaus in die Landschaft des Nationalparks, die sehr waldig war.
Zina fragte mich, was mein Vater denn nach all den Jahren von mir wolle.
„Kann ich noch nicht sagen“, antwortete ich. „Aber am Telefon klang es ziemlich dringend. Er braucht meine Hilfe.“
„Wobei?“
„Das weiß ich nicht.“
„Und was, wenn das war ein Wildfremder am Telefon?“ meinte Zina.
„Aber warum hätte mich jemand anrufen sollen, der mich nicht kennt?“
Sie zuckte mit den Schultern.
Was wir beide nicht wussten: Inzwischen war der Glatzkopf wirklich am Busbahnhof aufgetaucht. Man konnte ihn beim Fahrkartenschalter sehen, wo er auf die Frau hinter der kleinen Luke einredete.
Neben ihm am Boden stand der kleine muskulöse Hund mit einer metallenen Vorderpfote.
Die Frau hinter dem Schalter schüttelte den Kopf.
Da hielt ihr der Glatzkopf ein Foto hin.
Es zeigte eine Gruppe lachender junger Frauen. Um das Gesicht der mittleren war mit Blaustift ein Kreis gezogen worden. Wenn man näher hinschaute, konnte man sehen, dass es Zina war.
„Die da suchen Sie?“ fragte die Frau. „Ich hab sie gesehen.“



 „Kemping“

Wie ich endlich das Geheimnis meines Vaters erfuhr und was ich für ihn tun sollte.

Zina und ich stiegen als einzige Fahrgäste an der Nationalpark-Haltestelle aus.
„Kemping“ stand in verblassenden Buchstaben über dem Eingang zu einem Platz.
Der Bus fuhr weiter. Niemand war aufgetaucht, um uns abzuholen.
Mein Handy meldete sich. Der Anrufer wollte wissen, wer das Mädchen sei, das ich bei mir hatte.
„Das ist eine Freundin“, sagte ich. „Die hab ich unterwegs kennengelernt.“
Am Telefon herrschte Stille.
„Hallo?“ rief ich hinein.
„In Ordnung“, meinte der Anrufer. Ich solle mit ihr auf den Campingplatz zu einer der Gästehütten kommen.
Bungalow D stand wie ein kleines Hexenhäuschen zwischen den hohen Bäumen am hinteren Ende des Platzes, der sonst ziemlich leer war.
Zina und ich gingen hinein und fanden einen gedeckten Tisch. Das Handy meldete sich wieder.
Wir sollten anständig reinhauen, meinte der Anrufer.
„Wo bist du denn?“
„Ganz in der Nähe.“
Zina beobachtete, wie ich nickte, ohne mitzubekommen, was mir durch das Handy gesagt wurde.
Ich erklärte es ihr. „Er hat gesagt, dass wir nicht zusammen gesehen werden dürfen.“
„Wer?“
„Mein Vater“, sagte ich trotzig.
„Ihr dürft nicht zusammen gesehen werden? Warum?“
„Weil es zu gefährlich ist.“
„So ein Quatsch.“
„Wir sollen den Computer anmachen.“
„Welchen Computer?“
Ich suchte herum in dem kleinen Ferienbungalow und entdeckte den Klapprechner auf einem Brett mit einem Stuhl davor unter dem Fenster.
Ich drückte den Startknopf.
„Ist er aber schon komischer Vogel.“
„Wer?“
„Dein Vater.“
„Ach ja?“ sagte ich. „Er wird schon seine Gründe haben.“
Wieder sahen wir nicht, wie an der Bushaltestelle inzwischen die Geländelimousine parkte, aus deren Kofferraum ich Zina befreit hatte.
Klick-klick-klick machte es vom Campingplatz her das war die Metallpfote des kleinen Kamphundes auf dem Plattenweg, der zu den Bungalows weiter hinten führte.
Dort schaute der Glatzkopf in die verschiedenen Fenster sah ein älteres Ehepaar beim Abendessen, in einem anderen Bungalow eine Familie mit Kindern.
Dann näherte er sich Bungalow D.
Aus dem Inneren war eine Männerstimme zu hören, leicht verzerrt.
Der Glatzkopf wurde langsamer, packte seinen Hund am Halsband und schlich unter das Fenster, um zu lauschen.
Die Männerstimme, die er gehört hatte, kam aus dem Lautsprecher des Klapprechners, vor dem Zina und ich saßen. Auf dem Bildschirm war ein Kartenausschnitt der Nationalparkseen zu sehen. Darüber bewegte sich von Geisterhand ein Mauszeiger.
Er setzte eine Markierung.
„Das ist der Campingplatz“, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. „Und hier drüben“ eine weitere Markierung wurde in den See gesetzt „befindet sich das Auto.“
„Im Wasser?“ fragte ich.
„Das hab ich dir doch erklärt“, sagte sie Stimme. „Ich musste es verschwinden lassen. Sonst hätten sie mich erwischt … und dann …“ Auf dem Bildschirm erschien ein nervöses Smiley mit lang herausgewürgter Zunge.
Zina hielt mich am Arm zurück und legte den Finger vor den Mund.
Sie bewegte sich behutsam vor zu dem Fenster, das einen Spalt offen stand, und schaute nach.
Ich tat es ihr gleich.
Aber nichts Verdächtiges war zu sehen.
Weil der Glatzkopf eng an die Wand neben dem Fenster gepresst stand. Der Hund lauerte in dem Raum unterhalb des Hauses, das auf niedrigen Pfeilern aus Ziegelstein stand.
„In dem Auto muss sich etwas Wertvolles befinden“, drang die Lautsprecherstimme durch dem Fensterspalt nach draußen.
„Was denn?“ fragte meine Stimme.
„Das weiß ich nicht. Deswegen musst du ja nachgucken.“
Auf der anderen Seite des kleinen Hauses öffnete Zina die Tür und trat hinaus in die Dämmerung. Sie schlich vorsichtig um das Haus.
Neben und unter dem Fenster, aus dem meine Stimme erklang, war inzwischen niemand mehr zu sehen.
„Alles klar, Arthur“, klang die Lautsprecherstimme durch den Fensterspalt. „Morgen schaust du nach.“
„Okay.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
*
Als es Abend wurde, hatte Zina den Tisch abgeräumt und reinigte das Geschirr in der Mini-Spüle des Häuschens, während ich noch etwas an dem Klapprechner nachschaute.
Sie sagte laut, ich könne mal helfen beim Abtrocknen. Ich kam zu ihr und nahm das Geschirrtuch.
„Komisch ist das schon“, meinte ich.
„Was?“
„Na, das mit dem Auto in dem See …“
Zina vermutete, Papa habe das Auto in den See gefahren, weil sich ein Schatz darin befand um ihn zu verstecken.
„Vielleicht in dem Reservereifen“, sagte ich.
„Was ist mit dem?“ fragte Zina gleich zurück.
„Na ja, ich soll den Reservereifen hochholen. Das hat er mir gesagt, als du draußen warst zum Nachschauen.“
„Alles klar“, sagte Zina.
„Aber … warum macht er das nicht selbst?“
Weil er wahrscheinlich unter Beobachtung stehe, meinte Zina. Es gebe wahrscheinlich Personen, die Papa die ganze Zeit nicht aus den Augen lassen würden,
„Wieso das denn?“ fragte ich.
Es gehe um ihr Eigentum, meinte sie. Oder sie seien selbst hinter dem Schatz her.
Papa wurde also beschattet. Aber wie war es überhaupt so weit gekommen?
„Hat er Auto vielleicht okkupiert“, sagte Zina.
Okkupiert?
„Na, skrasci“, sagte sie auf Weißrussisch und machte dabei eine Bewegung, wie wenn man sich etwas in die Tasche steckt.
„Mein Vater ist kein Dieb.“
„Woher willst du wissen? Hast du ihn ewig nie gesehen.“ Es sei aber sowieso egal, wie er in den Besitz des Autos gekommen wäre, fuhr sie fort, auf jeden Fall dürfte ihm auf einmal klar geworden sein, dass er etwas sehr Wertvolles an Bord habe.
„Wie denn?“
„Weil sie hinter ihm her waren.“
Zina verdrehte die Augen, weil ich so schwer von Begriff war. Mal angenommen, erklärte sie, ich ließe irgendwas mitgehen, zum Beispiel eine Flasche im Supermarkt, und auf einmal seien alle hinter mir her würde ich mir da keine Gedanken machen?
„Was für Gedanken?“
„Dass Flasche vielleicht wertvoller ist, als du erst gemeint hast.“
„Warum sollte sie wertvoller sein?“
„Hat jemand was drin versteckt … tausend Euro. Aber du weißt noch nicht. Aber auf einmal merkst du, da ist was.“
„Weil andere unbedingt die Flasche von mir wollen?“
„Jetzt hast du‘s aber kapiert.“
„Und die Flasche ist das Auto?“
Prava.“ Papa habe es in dem See versenkt, um das Wertvolle an Bord was es auch immer war nicht in die Hände jener Leute fallen zu lassen, die ihn darauf aufmerksam gemacht hatten.
„Aber was ist es jetzt?“
„Was?“
„Das Wertvolle.“
„In dem Auto?“
„Ja.“
Zina zuckte mit den Schultern. Vielleicht wisse Papa das ja nicht mal selber, habe inzwischen nur herausgefunden, dass es sich womöglich in dem Ersatzreifen befindet. Nachschauen könne er jedenfalls nicht, ohne das Versteck der „Schatzkiste“ zu verraten.
Deswegen hatte er mich also geholt. Wenn Zina im Recht war, wurde mir jetzt einiges klarer. Infolgedessen durfte ich auch nicht in Papas Gesellschaft gesehen werden.
Trotzdem gefiel mir der Gedanke nicht, dass mein Vater ein Dieb sein sollte.
Zina sah es lockerer. „Hier ist Grenzgebiet.“
„Da ist es in Ordnung, zu klauen?“
Im Grenzgebiet, zwischen Polen und Weißrussland, meinte Zina, werde an manchen Dingen nun mal weniger Anstoß genommen. Mit dem „Diebstahl“, über den ich mir den Kopf zerbräche, würde garantiert etwas nicht stimmen, sonst wären die Beraubten zur Polizei gegangen. Stattdessen belauerten sie lieber Papa, damit er sie früher oder später zu dem Auto zu dem, was in ihm steckte führte.
Ich war geholt worden, weil mich niemand hier kannte. Wenn ein deutscher Touristenjunge in einem der Seen des Nationalparks herumtauchte, würde kein Mensch denken, dass es mit dem Auto, nach dem überall gesucht wurde, zu tun haben konnte. Solange dieser Junge nicht in Gesellschaft von Papa beobachtet wurde.
Aus diesem Grunde hatte er sich also bisher noch nicht bei mir sehen lassen.
Oder?
Zina und ich beschlossen, morgen genau an der bezeichneten Stelle im See nach dem Auto zu tauchen.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und wir bemerkten nicht, wie der Glatzkopf mit seinem Kampfhund unter unserem Bungalow hervorkroch.
Er musste alles mitgehört haben, was Zina und ich besprochen hatten.
Wir sahen nicht, wie er den Dreck von seinem teuren Anzug klopfte und sich mit seinem Hund zurück zu der Geländelimousine schlich, die vor dem Eingang unter dem Schild mit den verblassenden Buchstaben „Kemping“ geparkt war.



Am See

Wie ich immer tiefer tauchte und nicht merkte, dass mich jemand dabei beobachtete.

„Arthur! Schlafmütz!“ Zina ruckelte mich wach.
Als ich zu ihr in den Wohnbereich kam, staunte ich nicht schlecht. Ein Frühstückstisch wartete. Zina hatte neben Tassen und Tellern geschmackvoll die restlichen Vorräte aus dem Kühlschrank aufgedeckt. Das Ganze sah aus wie ein Festmahl.
Der Klapprechner war so aufgebaut worden, dass die kleine Webkamera alles aufnahm, und ich musste mich für mehrere Aufnahmen zu Zina setzen. Die lud sie gleich hoch in ihr Facebook-Profil.
Ich konnte nicht lesen, was sie dazu geschrieben hatte, da es auf Weißrussisch war. Aber wir sahen aus wie das perfekte Pärchen. Ihre Freundinnen, meinte Zina, würden vor Neid platzen!
Wir frühstückten gut gelaunt. Danach suchte ich meine Badesachen samt Taucherbrille aus dem Reisebeutel. Zina kümmerte sich um eine Rolle Seil, die sie in dem Bungalow aufstöberte.
Am Rechner öffnete ich inzwischen nochmals den Kartenausschnitt mit der rot markierten Stelle im See und prägte mir alles ein.
Dann machten wir uns auf den Weg.
Wir mussten eine ganze Weile im Bus fahren, vorbei an klaren Seen und durch die Naturparkwälder, um in die Nähe der Stelle zu gelangen, die auf dem Kartenausschnitt markiert war, den ich mir ausgedruckt hatte.
Wir stiegen mit unseren Sachen aus dem Bus, und ich verglich die Landschaft vor uns noch einmal mit dem Ausdruck, den ich in der Hand hielt.
Am Ufer erstreckte sich der Biergarten eines kleinen Kiosks, und ein Steg führte ins Wasser, an dem Ruderboote dümpelten, die man leihen konnte. Eines lag weiter draußen auf dem See mit einem Mann an Bord, der bewegungslos seine Angel ins Wasser hielt.
Wir gingen zu dem Kiosk, und Zina redete mit der Frau, die ihn betrieb: ob wir uns eines des Boote leihen könnten.
Das war möglich, ja. Aber es mussten fünfzig Euro als Sicherheitsleistung hinterlegt werden, und so viel Geld hatten wir beide nicht dabei. Zina flehte und bettelte, und schließlich gab uns die Frau das Boot, das wir wollten, auch nur für den Mietpreis.
Wir packten unsere Sachen hinein und legten von dem Steg ab.
Den Mann, der an einem der Ufertische des Biergartens saß, hatten wir nicht weiter beachtet. Daher sah ich auch nicht, wie er uns heimlich nachschaute, während wir auf den See hinaus ruderten. Sonst hätte ich mich wahrscheinlich ganz schön erschrocken.
Es war nämlich Dieter.
In der Mitte des Sees setzte ich mir meine Tauchbrille auf und sprang ins Wasser. Zina wartete, bis ich wieder auftauchte. Einmal. Zweimal.
Sie machte sich Sorgen, dass ich zu lange unten blieb, und bestand darauf, mir den Strick umzubinden, den sie mitgebracht hatte, damit sie mich jederzeit wieder hochziehen konnte.
Als ich das nächste Mal eintauchte, war die Sonne hinter einer Wolke hervorgekommen, und ihre Strahlen drangen in den klaren See. Wasserstaub schwebte in ihren Lichtschächten. Ich konnte Fische erkennen. Tiefer und in der Ferne aber blitzte etwas der Rückspiegel eines Autos.
„Ich hab nur die Umrisse erkannt“, sagte ich, als ich wieder auftauchte.
„Ist in Nähe des Ufers, richtig?“
„Woher wusstest du das?“
Wenn das Auto ins Wasser gefahren wurde, meinte Zina, um es dort zu verstecken, konnte es kaum in der Mitte des Sees liegen. „Ist doch logisch.“
Es befand sich unter dem Wasser beim anderen Ufer, das dem Kiosk-Biergarten gegenüberlag. Dort ruderten wir hin, und ich sprang noch mal in das kalte Nass.
Es war ganz schön tief hier!
Aber das Auto befand sich unten und konnte von allen Seiten erreicht werden. Den Reservereifen musste man nur losschrauben, dann würde er wahrscheinlich nach oben kommen.
Ich holte tief Luft und tauchte nach unten fummelte dort am Kofferraum des Autos herum. Bis er aufging. Eine Luftblase stieg daraus nach oben. Ich folgte ihr, um an der Oberfläche Luft zu schnappen.
Dann war ich wieder unten und entdeckte in dem Kofferraum eine Werkzeugkiste.
Ich musste wieder hoch, um aus- und einzuatmen. Beim nächsten Abtauchen holte ich so viel Kram wie möglich aus der Kiste.
„Was ist das?“ fragte Zina, als ich die Sachen ins Boot warf.
„Rohrschlüssel“, keuchte ich.
„Wofür?“
Ich erklärte ihr, wo der Ersatzreifen lag und befestigt war durch Schrauben, die ich mit dem richtigen Rohschlüssel lösen konnte.
Dann tauchte ich zurück ins Wasser und machte mich an die Arbeit. Ich probierte verschiedene Schlüssel, bis ich den richtigen gefunden hatte.
Die Sonne schien auf mich durch die bewegte Wasseroberfläche, und in ihren Strahlen kam es mir auf einmal vor, als ob ein kleiner muskulöser Hund auf mich zu schwamm, dessen Vorderpfote in einer Beinschiene steckte. Oder bildete ich mir das alles nur ein?
Ich schaute mich unter Wasser um, konnte aber nichts entdecken, während der Hund, wie mir erst später klar wurde, an Bord des Ruderbootes kletterte, in dem der bewegungslose Angler saß. Dieser fummelte am Halsband des Köters, wo sich eine kleine Unterwasserkamera befand, die er über ein Kabel mit seinem Smartphone verband.
Auf dessen Anzeigefläche konnte er nun sehen, wie ich unter Wasser den Ersatzreifen löste, der aber nicht aufstieg, sondern auf den Seeboden sank.
Seine Goldkettchen klimperten vor Erregung.
Zina wurde ganz aufgeregt, als sie von mir hörte, der Ersatzreifen sei auf den Boden gesunken. Wenn er nur Luft enthalten hätte, meinte sie, wäre er an die Wasseroberfläche gekommen.
So aber …
Ich hatte eine Idee! Wir würden das Seil an dem Reifen befestigen.
„Und dann?“ fragte Zina.
„Na, wir rudern mit dem Seil zum Ufer und ziehen den Reifen dort an Land.“
Zina schaute mich an. „Worauf wartest du?“
„Halte das Seil aber fest!“
Ich sprang ins Wasser, tauchte ab. Unten über dem Seegrund löste ich das Seil von meiner Hüfte und befestigte es, so gut es ging, an dem Reifen.



Showdown

Wie auf einmal alle hinter uns her waren.

Buschwerk besetzte das Ufer und hing struppig ins Wasser. Dazwischen dümpelte unser Ruderboot, das an der hervorstehenden Wurzel einer Fichte von mir festgemacht worden war.
Am Ende des aus dem Wasser zitternden Seils standen Zina und ich, ganz schräg. Es bewegte sich keinen Millimeter.
„Locker, lass locker“, sagte ich.
Zina zog weiter wie wild.
„Wenn du nicht locker lässt … da hat sich was festgehakt …“
„Jakija?“ fragt sie. Dann sah sie, dass ich gar nicht mehr zog. „Musst du schleppen!“
Ich schüttelte den Kopf, nahm ihr das Seil aus den Fäusten und gab etwas nach.
„Siehst du?“
Dann packten wir wieder zu, und jetzt ging es auf einmal ganz einfach. Durch das Gestrüpp knisterte der Reifen an Land.
Zina kletterte gleich durch das Gestrüpp zu ihm und beugte sich darüber. Mit schnellen Händen wischte sie den Schlick beiseite, klopfte dann gegen den Reifen.
„Und?“ fragte ich.
Sie blickte zu mir hoch. „Skarbnica“, sagte sie. „Schatzkiste.“
„Gute Arbeit!“ erklang ein Männerstimme mit russischem Akzent.
Sie kam aus Richtung des Wäldchens hinter dem Gestrüpp. Im Schatten der Bäume konnte, wer genauer hinsah, einen offenen Kofferraum erkennen der Geländelimousine, die sich geräuschlos genähert hatte.
Jetzt erblickte ich auch den Glatzkopf mit Goldkettchen, der uns die ganze Zeit beobachtet hatte.
„Packt den gleich mal hier rein“, sagte er.
Aber wieso, meinte Zina, das sei doch bloß so ein oller Reifen.
Der kleine Kampfhund zu Füßen des Glatzkopfs knurrte böse.
„Los!“ Er bewegte seine Hand hin und her.
Womit fuchtelte er da rum? War das wirklich eine Pistole?
„Beeilt euch!“
Er zwang uns, den schweren Reifen in den Kofferraum der Geländelimousine zu schleppen.
Nachdem wir ihn verstaut hatten, schaute er uns mit schmalen Augen an.
Zina bat ihn, uns nicht zu erschießen. Wir würden auch nichts weitererzählen, Ehrenwort.
Der Kerl zögerte. Man konnte richtig sehen, wie er nachdachte.
Ein Schuss würde außerdem überall zu hören sein, meinte Zina. Dann würden Zeugen angelockt, und er könne seinen Profit vergessen. „Dann kriegst du lebenslang!“ Denn der Mord an Kindern werde besonders schwer bestraft.
„Halt endlich deinen Mund!“ sagte er Typ zu Zina. „Dein Gerede macht mich ganz schwindelig.“
Er zwang uns mit vorgehaltener Pistole, auf die Hintersitze des Wagens zu klettern.
Die Türen gingen zu, und wir fuhren los aus dem Wäldchen am Seeufer hinaus und über die Pisten des Nationalparks.
Die schönen Wälder und Seen, die draußen vorbeizogen, waren Zina und mir egal. Wir mussten sehen, dass wir hier heil wieder herauskamen!
Beim Halt an einer Kreuzung versuchten wir beide gleichzeitig , rechts und links herauszuspringen. Aber die Türen waren verschlossen.
Der Wagen fuhr weiter.
Zina flüsterte mir ins Ohr, wir müssten den Typen rechtzeitig erledigen. Sonst würde er uns in irgendeinen Steinbruch fahren, dort erschießen und unsere Leichen verscharren.
Mir war jetzt selber ganz schwindelig von ihren Worten.
Als Nächstes zeigte sie mir heimlich etwas von dem Seil, das sie noch einstecken hatte. Sie bedeutete, wir könnten es von hinten um den Hals des Fahrers werfen und ihn dann erwürgen. Sie müsse dafür an dem einen Ende ziehen, ich an dem anderen.
Sie nickte mir zu. War das in Ordnung für mich?
Ich war wie gelähmt. Sie stieß mir in die Seite.
Ich nickte.
Zina lauerte mit dem Seil in ihrer Hand auf eine günstige Gelegenheit. Der Fahrer musste abgelenkt sein.
Plötzlich hatte sie das Seil um seinen Hals geworfen.
„Zieh!“ rief sie mir zu. „Zieh!“
Das lose Ende baumelte vor meiner Nase.
Ich wollte gerade danach schnappen, da tauchten links und rechts Autos auf. Sie überholten aber nicht, sondern blieben auf gleicher Höhe.
Und sie fingen an, uns zu rempeln: rumms rumms von beiden Seiten.
Das Blech der Türen scharrte und quietschte, unser Wagen stellte sich quer und rumpelte von der Straße. Im linken Graben fiel er auf die Seite.
Der Hund bellte wie verrückt, und sein Herrchen fluchte laut, während es aus dem Fenster krabbelte.
Die Autos, die uns abgedrängt hatten, hielten weiter vorne an. Ihre Türen flogen auf, lauter Kerle, große und kleine, sprangen heraus und duckten sich in den anderen Straßengraben.
Peng peng peng …
„Die schießen aber!“ rief Zina.
Ich zog sie zu mir hinter die Rückenlehnen, damit sie nichts abbekam.
Dann hörte das Geknalle auf.
Durch die Lücke in den Vordersitzen und die Wundschutzscheibe konnte ich sehen, wie der Glatzkopf auf die Straße rannte und seine Angreifer versuchten, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.
Sie schubsten sich, schlugen aufeinander ein, und der Hund sprang bellend um alle herum, bis auch er eines auf die Nase bekam und sich jaulend in Sicherheit brachte.
Hatte da jemand meinen Namen gerufen?
Ich blickte nach oben und sah den Schatten eines Mannes über dem Wagenfenster. Er blickte erregt zu den Schlägern auf der Straße, dann wieder zurück zu mir, und ich erkannte Dieter.
Schon hatte er die Tür aufgestemmt und winkte uns zu. „Kommt! Schnell!“
Ich zögerte.
„Arthur, worauf wartest du??“
Seine Stimme war ziemlich ähnlich wie die am Telefon oder jene, die aus dem Lautsprecher des Computers geklungen hatte. War Dieter etwa …
„Schnell!“ drängte er.
Zina kletterte an mir vorbei, und ich folgte ihr ins Freie. Dort war Dieter uns schon voraus, und wir folgten ihm geduckt aus der Kampfzone.
Der Schleichweg, den er voranhumpelte, führte am Campingplatz aus dem Gebüsch.
Zina und ich schauten uns um, als wir wieder im Freien standen.
„Da!“ sagte sie und zeigte zu dem Bungalow D, von wo Dieter uns zuwinkte.
Wir folgten ihm in das kleine Haus, und er schloss die Tür hinter uns.
„Hast es dir wahrscheinlich schon gedacht“, sagte er, nachdem er zwei Colas aus dem Eisschrank geholt hatte.
Stumm nahm ich einen Schluck.
„Und?“ fragte er. „Bist du enttäuscht?“
„Geht so.“
„Ich bin echt froh, dass du mir nicht gleich den Kopf abreißt.“
„Tut mir leid“, sagte ich.
„Was tut dir leid?“
„Das Telefongespräch an der Raststätte …“
„Was ist mit dem?“
„Ich hatte mitgehört, durch das offene Toilettenfenster und falsch verstanden …“
„Schwamm drüber.“ Er strahlte mich an. „Du hast dich prima geschlagen.“
„Findest du?“
„Hat doch alles geklappt.“
Zina räusperte sich. „Und was ist mit Schatz?“
„Der Ersatzreifen?“
„Ja.“
„Den können wir vergessen. Das liegt aber nicht an Arthur.“ Er wandte sich wieder zu mir. „Du hast ihn raufgeholt. Mehr war nicht zu verlangen.“
„Ja, aber dann ist doch alles schiefgelaufen“, sagte ich.
„Der Blödmann mit seinem Kampfhund hat uns dazwischengefunkt, na und? Wer konnte mit so was rechnen?“
„Und wer waren die anderen?“ fragte ich.
„Die euch auf der Straße gerammt haben?“
„Ja.“
Dieter räusperte sich
„Waren das die, vor denen du das Auto versteckt hattest?“ fragte ich.
Er schaut mich listig an. „Kluges Kerlchen.“
Papa hatte ihnen gesteckt, wo sie den gesuchten Reifen finden würden. Nur so war es noch möglich gewesen, uns aus der Geländelimousine zu befreien.
Jetzt hatten sie natürlich den verdammten Reifen und alles war umsonst gewesen.
„Was war denn drin?“ fragte ich.
„In dem Reifen?“
„Ja.“
„Keine Ahnung.“ Papa zuckte mit den Schultern. „Aber es muss eine Menge wert gewesen sein.“
„Woher weißt du das denn?“
„Na, alle waren sie dahinter her.“ Da hatte er, wie wir richtig gedacht hatten, das Auto von der Bildfläche verschwinden lassen, um in Ruhe herauszufinden, was es mit ihm auf sich haben könnte. Aber die Kerle ließen ihn seitdem nicht mehr aus den Augen.
„Hattest du ihnen das Auto geklaut?“
„Freiwillig hätten sie es mir nicht gegeben. Aber sie schuldeten mir auch was.“
Papa ging nicht tiefer in die Einzelheiten der Geschäfte, in welche er hier im Grenzgebiet verwickelt war.
Er erzählte mir, wie es ihm ergangen war, seit er und Mama sich getrennt hatten. Er hatte als Reiseführer gearbeitet und als Kurier, der Dinge zwischen Ländern hin und her transportierte.
Ganz astrein schienen mir die Geschäfte von Papa nicht zu sein, aber ich konnte ihn trotzdem leiden. Keiner in meiner Klasse hatte einen Vater, der so spannende Sachen machte.
Und was wurde jetzt?
Papa hatte Mama Bescheid gesagt, wo ich mich befand, und sie war bereits auf dem Weg nach Suwalki.
„Sie kommt heute Abend mit dem Zug an“, sagte er.
„Ist sie sauer?“ fragte ich.
„Davon ist auszugehen.“

Die Austauschschülerin

Was weiter aus uns geworden ist.

Aber Mama war eigentlich eher froh, als sie mich auf dem Bahnsteig sah, und umarmte und küsste mich die ganze Zeit.
Papa warf sie einen bösen Blick zu und warf ihm vor, mich in Lebensgefahr gebracht zu haben.
„Tut mir leid“, sagte er. „Das Wasser stand mir diesmal bis zum Hals, echt.“
„Das glaube ich dir sofort“, sagte Mama. „Wann hörst du mal auf mit der Vagabundiererei und machst was Vernünftiges?“
„Eher, als du denkst“, meinte Papa und ließ durchblicken, bald habe er die nötigen Mittel beieinander.
„Wer‘s glaubt, wird selig“, meinte Mama.
Dann fasste sie Zina ins Auge, welche die ganze Zeit ruhig im Hintergrund gestanden hatte. „Und wer bist du?“
Zina trug einen Rock, den sie sich vorher besorgt hatte, und eine saubere Bluse. Ihre Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten. In der Hand trug sie einen Strauß wilder Blumen, die sie gepflückt hatte, und übergab ihn Mama mit einem Knicks.
„Zina Lischonak“, sagte sie. „Austauschschülerin.“
*
In dem Ordner auf der Festplatte meines Computers, in dem die Reisefilme lagen, die von Papa früher ins Internet gestellt worden waren, befand sich bald ein zusätzlicher Ordner für die Videos, die Zina von sich hochgeladen hatte: Tagebuch einer Austauschschülerin.
Zina stellte darin dem interessierten Publikum ihren Alltag an unserer Schule und bei ihrer deutschen Gastfamilie vor, nämlich Mamas bester Freundin Sybille und deren Sohn.
Klar, dass Zina überall sehr gute Noten hatte in Deutsch sowieso.
Papa hatte sich nach der Schießerei im Graben der Wigierski-Nationalpark-Straße erst mal wieder unsichtbar gemacht. Wir stehen aber in Kontakt. Ich weiß, wo er sich im Moment befindet. Wenngleich ich es aus Gründen der Geheimhaltung leider nicht offenlegen kann.

ENDE