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Flußbett der Gedanken

Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dieses Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. // Die Mythologie [i. e. die unbezweifelten Sätze] kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.“ (Wittgenstein | Über die Gewissheit § 96 und 97)

Das Flussbett gleicht dem Ding (Subjekt), der Fluss dessen Eigenschaften (Prädikaten). Jede Aussage ist ein Ziehen an dem Ding (Wesenszug) oder stellt dem Ziehen etwas entgegen (Gegenstand).

Subjekt = Mythologie | versteinerte Sätze . . .

"Es kömmt . . . darauf an, das Wahre nicht als Substanz sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen" - also: als "Verschiebung" zu begreifen . . .




Wittgensteins Credo

Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neuen Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neuaufführen in einer Weise, die unserer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur reproduktiv. Das habe ich beim Bauen getan. - Was ich meine, ist aber nicht ein neues Zurechstutzen eines alten Stils. Man nimmt nicht die alten Formen & richtet sie dem neuen Gemack entsprechend her. Sondern man spricht, vielleicht unbewußt, wirklich die alte Sprache, spricht sie aber in einer Art und Weise, die der neuern Welt, darum aber nicht notwendigerweise ihrem Geschmacke, angehört. (VB S. 69)

Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten. Daraus muss sich, so scheint mir, ergeben, wie weit mein Denken der Gegenwart, Zukunft oder der Vergangenheit angehört. Denn ich habe mich damit auch als einen bekannt, der nicht ganz kann, was er zu können wünscht. (Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen S. 28)

Wenn ich nicht ein richtigeres Denken, sondern eine neue Gedankenbewegung lehren will, so ist mein Zweck eine ‘Umwertung von Werten’ und ich komme auf Nietzsche, sowie auch dadurch, dass meiner Ansicht nach, der Philosoph ein Dichter sein sollen . . .  (Nachlass)

Nichts kommt mir weniger wahrscheinlich vor, als dass ein Wissenschaftler oder Mathematiker, der mich liest, dadurch in seiner Arbeitsweise ernstlich beeinflusst werden sollte. (Insofern sind meine Warnungen wie die Plakate an den Kartenschaltern englische Bahnhöfe "Is your Journey really necessary?" Als ob einer, der das liest, sich sagen würde "On second thougt, no".) Hier muss man mit ganz anderen Geschützen kommen, als ich imstande bin, ins Feld zu führen. Am eheste könnte ich noch dadurch eine Wirkung erzielen, dass, vor allem, auf meine Anregung hin eine grosse Menge Dreck geschrieben wird, & dass vielleicht dieser die Anregung zu etwas Gutem gibt. Ich dürfte immer nur auf die aller indirekteste Wirkung hoffen. (VB 70-71)

Die Krankheit einer Zeit heilt sich durch eine Veränderung in der Lebensweise der Menschen und die Krankheit der philosophischen Probleme konnte nur durch eine veränderte Denkweise und Lebensweise geheilt werden, nicht durch eine Medizin die ein einzelner erfand. Denke, daß der Gebrauch des Wagens gewisse Krankheiten hervorruft und begünstigt und die Menschheit von dieser Krankheit geplagt wird, bis sie sich, aus irgendwelchen Ursachen, als Resultat irgendeiner Entwickelung, das Fahren wieder abgewöhnt. (BGM S. 132)

Ich habe einmal, & vielleicht mit Recht, gesagt: Aus der früheren Kultur wird ein Trümmerhaufen & am Schluß ein Aschehaufen werden; aber es werden Geiste über der Asche schweben. (VB 5)
In der Großstadt-Zivilisation kann sich der Geist nur in einen Winkel drücken. Dabei ist er aber nicht etwa atavistisch und überflüssig, sondern er schwebt über der Asche der Kultur als ewiger Zeuge – quasi als Rächer Gottes. Als erwarte er eine neue Verkörperung (in einer neuen Kultur). NACHLASS

Ihr da oben - wir da unten


Die gegenwärtige Lage wird verkannt meiner Meinung nach, wenn man ihre Angespanntheit auf die Wohlstandsverteilung von "unten nach oben" zurückführt.
Vielmehr fand eine Verteilung in die "globale Breite" statt = die Löhne fielen bei uns in dem Maße, in dem sie z. B. in Bangladesh stiegen. In vielen Ländern der dritten Welt geht es den Menschen materiell besser, seit sie für H & M arbeiten.
Die internationalen Schichten, welche diese Umverteilung voranbringen und verwalten, die Piloten in der Steuerkabine der globalen Wirtschaft, werden unendlich reicher, weniger weil sie die heimischen "Massen" ausbeuten, sondern die Ausbeutungsmasse sich dermaßen vergrößerte.
Was ich elegant nicht zu sagen schaffe, soll ein Beispiel veranschaulichen. Ich habe neulich über AdSense dem Google-Konzern Anzeigenplatz auf einer von mir verwalteten Netz-Seite verkauft. Damit habe ich 10 Euro verdient. Kaum der Rede wert. Auch Google verdiente nicht mehr in meinem besonderen Fall, bei ihnen liegen aber unendlich viel mehr solcher Fälle vor und spülen Milliarden in die Kasse.
Weiteres Beispiel. Neulich waren wir mit der Familie einkaufen: je drei Paar Hosen für die Kinder, ein Paar Schuhe, ein kleiner Gürtel usf. Anschließend gingen wir in das China-Restaurant nebenan - und haben dort für ein Abendessen mehr bezahlt als vorher an der Kasse von H & M . . .

Schopenhauer über die Höflichkeit



Von der Höflichkeit, dieser chinesischen Kardinaltugend, habe ich den einen Grund angegeben in meiner Ethik S. 201: der andre liegt in folgendem. Sie ist eine stillschweigende Übereinkunft, gegenseitig die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit voneinander zu ignorieren und sie nicht vorzurücken; - wodurch diese, zu beiderseitigem Vorteil, etwas weniger leicht zutage kommt.
Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist Unhöflichkeit Dummheit: sich mittelst ihrer unnötiger- und mutwilligerweise Feinde machen ist Raserei, wie wenn man sein Haus in Brand steckt. Denn Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige, eine offenkundig falsche Münze: mit einer solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand: hingegen Freigebigkeit mit ihr Verstand. Alle Nationen schließen den Brief votre très-humble serviteur, - your most obedient servant, - suo devotissimo servo: bloß die Deutschen halten mit dem "Diener" zurück, - weil es ja doch nicht wahr sei - ! Wer hingegen die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe. - Wie das Wachs, von Natur hart und spröde, durch ein wenig Wärme so geschmeidig wird, dass es jede beliebige Gestalt annimmt; so kann man selbst störrische und feindselige Menschen, durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit, biegsam und gefällig machen. Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen, was die Wärme dem Wachs.
Eine schwere Aufgabe ist freilich die Höflichkeit insofern, als sie verlangt, dass wir allen Leuten die größte Achtung bezeigen, während die allermeisten keine verdienen; sodann, dass wir den lebhaftesten Anteil an ihnen simulieren, während wir froh sein müssen, keinen an ihnen zu haben. - Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen, ist ein Meisterstück.
Wir würden bei Beleidigungen, als welche eigentlich immer in Äußerungen der Nichtachtung bestehen, viel weniger aus der Fassung geraten, wenn wir nicht einerseits eine ganz übertriebene Vorstellung von unserm hohen Wert und Würde, also einen ungemessenen Hochmut hegten, und andrerseits uns deutlich gemacht hätten, was, in der Regel, jeder vom anderen, in seinem Herzen, hält und denkt. Welch ein greller Kontrast ist doch zwischen der Empfindlichkeit der meisten Leute über die leiseste Andeutung eines sie treffenden Tadels und dem, was sie hören würden, wenn sie die Gespräche ihrer Bekannten über sie belauschten! - Wir sollten vielmehr uns gegenwärtig erhalten, dass die gewöhnliche Höflichkeit nur eine grinsende Maske ist: dann würden wir nicht Zeter schreien, wenn sie einmal sich etwas verschiebt, oder auf einen Augenblick abgenommen wird. Wann aber gar einer geradezu grob wird, da ist es, als hätte er die Kleider abgeworfen und stände in puris naturalibus da. Freilich nimmt er sich dann, wie die meisten Mensche in diesem Zustande, schlecht aus.

André Gide Corydon

...der Wert eines neuen Systems, einer neuen Erklärung bestimmter Erscheinungen bemisst sich nicht einzig und allein nach ihrer Genauigkeit, sondern auch oder vielmehr vor allem danach, ob sie dem Geist Auftrieb zu neuen Entdeckungen, zu neuen Feststellungen gibt (sollten diese dann auch besagte Theorie entkräften), ob sie neue Möglichkeiten eröffnet, Hindernisse aus dem Weg räumt, neue Waffen liefert. Dass sie Neues vorbringt und sich zugleich dem Alten entgegenstellt, darauf kommt es an.

Goethe DICHTUNG UND WAHRHEIT

Der Freund aber tat den Vorschlag, ich solle etwas erzählen, worein ich sogleich willigte. Wir begaben uns in eine geräumige Laube, und ich trug ein Märchen vor, das ich hernach unter dem Titel »Die neue Melusine« aufgeschrieben habe. Es verhält sich zum »Neuen Paris« wie ungefähr der Jüngling zum Knaben, und ich würde es hier einrücken, wenn ich nicht der ländlichen Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefällig umgibt, durch wunderliche Spiele der Phantasie zu schaden fürchtete. Genug, mir gelang, was den Erfinder und Erzähler solcher Produktionen belohnt: die Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflösung undurchdringlicher Rätsel zu reizen, die Erwartungen zu täuschen, durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwirren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt zu machen, zu rühren und endlich durch Umwendung eines scheinbaren Ernstes in geistreichen und heitern Scherz das Gemüt zu befriedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu hinterlassen.

Sollte jemand künftig dieses Märchen gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine solche Wirkung habe hervorbringen können, so bedenke derselbe, daß der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen durch seine Persönlichkeit, die Jugend am stärksten auf die Jugend, und hier entspringen auch die reinsten Wirkungen. Diese sind es, welche die Welt beleben und weder moralisch noch physisch aussterben lassen. Mir war von meinem Vater eine gewisse lebhafte Redseligkeit angeerbt; von meiner Mutter die Gabe, alles, was die Einbildungskraft hervorbringen, fassen kann, heiter und kräftig darzustellen, bekannte Märchen aufzufrischen, andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu erfinden. Durch jene väterliche Mitgift wurde ich der Gesellschaft mehrenteils unbequem: denn wer mag gern die Meinungen und Gesinnungen des andern hören, besonders eines Jünglings, dessen Urteil, bei lückenhafter Erfahrung, immer unzulänglich erscheint. Meine Mutter hingegen hatte mich zur gesellschaftlichen Unterhaltung eigentlich recht ausgestattet. Das leerste Märchen hat für die Einbildungskraft schon einen hohen Reiz, und der geringste Gehalt wird vom Verstande dankbar aufgenommen.

Durch solche Darstellungen, die mich gar nichts kosteten, machte ich mich bei Kindern beliebt, erregte und ergötzte die Jugend und zog die Aufmerksamkeit älterer Personen auf mich. Nur mußte ich in der Sozietät, wie sie gewöhnlich ist, solche Übungen gar bald einstellen, und ich habe nur zu sehr an Lebensgenuß und freier Geistesförderung dadurch verloren; doch begleiteten mich jene beiden elterlichen Gaben durchs ganze Leben, mit einer dritten verbunden: mit dem Bedürfnis, mich figürlich und gleichnisweise auszudrücken. In Rücksicht dieser Eigenschaften, welche der so einsichtige als geistreiche Doktor Gall, nach seiner Lehre, an mir anerkannte, beteuerte derselbe, ich sei eigentlich zum Volksredner geboren. Über diese Eröffnung erschrak ich nicht wenig: denn hätte sie wirklich Grund, so wäre, da sich bei meiner Nation nichts zu reden fand, alles übrige, was ich vornehmen konnte, leider ein verfehlter Beruf gewesen.