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THE AMERICANS | Die Formel


Ich schaue mich gerade durch die zweite Staffel. Faszinierender Mix.
Es geht eigentlich um Familie. Und um Sex. Wie kann man die beiden Bedürfnisse - nach Lebensinhalt und Abenteuer - unter einen Hut bringen? Dafür ist dem Macher von The Americans eine beispiellose Formel eingefallen, die es den Protagonisten gestattet, Kinder im Einfamilienhaus sowie eine sexsatte Übermenschen-Existenz zu haben.
Ihre Agenten-Identität befiehlt ihnen wie Prostituierten mit allen möglichen anderen Partnern - ruhig auch mal zu dritt - zu schlafen und macht Eifersucht "unpatriotisch". Sorpanos reloaded, nur dass den Frauen nun auch völlige sexuelle Freiheit zugestanden wird.
Die Konstruktion, die dies alles ermöglicht, ist abenteuerlich-unrealistisch, die erforderlichen Bestandteile passen eigentlich nicht zusammen. Das verleiht dem Fantasie-Produkt eine höchst widersprüchliche Anmut. Es kann einfach nicht stimmen, nicht so - und nimmt einen doch ein wie der suggestive Traum eines gelungenen Comics.
Interessant fand ich dazu die Bemerkung des Produzenten der Serie, welcher, wie er in einem Interview sagte, ihm vorgelegte Projekte eigentlich nur ablehnt, jeden Tag zu 99% Absagen schreibt.
Bei The Americans sei es schwierig gewesen, einen Ablehnungsbrief zu schreiben, weil sich das Projekt nicht habe fassen lassen wegen seiner Ungereimtheit. Wie wenn die logische Gebrochenheit des Vormarsches die gemütliche Abwehr des gesunden Menschenverstandes beim Rezipienten durchbricht zum Zwecke des Aufspannens einer widersprüchlich-faszinierenden Welt, in welcher schrankenlose Freiheit der Unterwerfung entspringt und dem Sich-Fügen.
Der "höchste Grund", das sinngebende Prinzip, das alles absegnet und befördert, ist absurderweise die KPdSU. Sie befindet sich mittlerweile in solcher Ferne zum Wissen des Zuschauers, zumal in the US, dass ihre Hülle alle möglichen Erlösungsfantasien - bis hin zum erfüllen Sexualleben - in sich stapeln kann.
Nicht ausgeschlossen infolgedessen, dass in 50 Jahren "The Islamists" als Serie eine ähnliche Faszination ausstrahlt.

Fichte - Schelling . . . Deleuze?

Die deutsche idealistische Philosophie denkt in gewissem Sinne den Darwinismus voraus - nur dass "Mutationen" nicht dem Zufall, sondern der Willkür oder persönlichen Freiheit entspringen. Man fragt sich, wenn man dazu Schelling liest, was Deleuze eigentlich dazu erfunden hat (Thema für ein Doktorarbeit!). Der angelsächsische Vormarsch untergräbt dann die kreative Rolle des ICH, indem er alles Spontane zur Funktion der Prägung durch Erfahrungen macht. Die (deutsche) Seele wird solcherart zur Skinnerschen Black Box, und verantwortlich sind bald - statt des einzelnen - für alles nur noch "die Verhältnisse". Es bleibt freilich wahr, dass "der Deutsche" nach wie vor am wenigsten neigt, seine persönliche Lage aus Dingen abzuleiten, die er erfährt (mehr im Osten als im Westen). Weswegen es an unseren Universitäten wahrscheinlich weder "trigger warnings" noch "safe spaces" gibt.

Psalm 22

Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs.  Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn die Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Ich kann alle meine Gebeine zählen; aber sie schauen und sehen ihre Lust an mir. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. 
 Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen! Errette meine Seele vom Schwert, meine einsame von den Hunden!  Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern! 

Also sprach Zarathustra

- so liege ich,
 Biege mich, winde mich, gequält
 Von allen ewigen Martern,
 Getroffen Von Dir, grausamster Jäger,
 Du unbekannter - Gott!

Hiob 42.5

Ich hatte von dir mit den Ohren gehört; aber nun hat dich mein Auge gesehen.

Vom Neid

VOM NEID

Zwei menschliche Laster, die mich wenig plagen: Neid und Depression. Ich eigne mich nicht für letztere. Das ist kein Verdienst, sondern Zufall, ein Würfelung der Natur, die in meinem Fall eine Seele ohne viel Traurigkeit zustandegebracht hat.

Meine depressiven Freunde haben es oft weiter im Leben gebracht. Die Depressiven haben in der Regel einen besseren Blick für die Wirklichkeit, ihre Erfordernisse. Vielleicht sind sie deswegen depressiv. Ihnen gegenüber stehen die Hysteriker, unter denen ich mich leichter wiederfinde, mit ihren übertriebenen Geschichten.

Auch der Neid ist mir fremd. Wenn jemand einen Erfolg hat, freut es mich eher. In der Regel stellt er dabei etwas Schönes her auch zu meinem Ergötzen.

Ich glaube nicht, dass die Menschen ihren Erfolg verdienen, sondern in die Wiege gelegt bekamen. Wenn ich die Kinder beobachte - neulich z. B. im Kinderladen meines Neffen in Berlin - sehe sie vor mir mit 60 Jahren. Die Typen sind alle zu erkennen. Einige kommen groß heraus, die meisten leben das übliche Mittel-Leben. Und könnten zufrieden werden, wenn ihnen nicht die Anforderung in den Weg kommt, dass alle Menschen gleich sein müssen, die Hauptquelle des Neides.

Dadurch, dass man heute nur so wenig Kinder bekommt, sinken die Chancen, dass sich eines darunter befindet, das es drauf hat. Und dann wird alle Erziehung der Welt auf ein minderbegabtes Wesen verwandt, um etwas aus ihm zu machen, das in ihm nun mal nicht steckt. Natürlich lässt sich jedes Niveau etwas heben, aber um welchen Preis!

Es wäre wahrscheinlich besser, ein paar Kinder mehr zu haben und somit die Chancen zu erhöhen, dass ein begabtes zur Welt kommt. Um dieses muss man sich dann so wenig kümmern wie um seine minderbegabten Geschwister, außer dass man ihnen Spielraum gibt.

Das war das Schöne an meiner Kindheit: dass sich kein Erwachsener um uns gekümmert hatte. Es gab einfach zu viele Kinder. Auf uns einzelnen lastete nicht derselbe Wert. Man musste lernen, miteinander zurechtzukommen ohne die Vermittlung irgendwelcher Schutzpatrone.

Der hohe Wert, den heute das einzelne Kind zumindest in der Fantasie seiner Eltern hat, kann das Leben der minderbemittelten - also der Mehrheit - ruinieren, indem Dinge von ihnen verlangt werden, die früher außer Frage gestanden hätten. Jedes Kind bekommt dadurch eingebleut, etwas besonderes zu sein. Ohne es in den meisten Fällen einlösen zu können. Auf den naheliegenden Gedanken, vielleicht nichts besonderes zu sein, kommt es nicht mehr. Vielmehr glaubt es später, irgendwie "betrogen" zu werden - um den ihm wie jedem Menschen zukommenden Status und Gewinn.

Hier liegt die Quelle des endemischen Neides: in der gut gemeinten "emanzipatorischen" Erziehung zum Wunderkind im Falle jedes heute Geborenen.

Ich habe gestern eine Untersuchung gelesen: dass es künftig kaum noch bezahltes Beschäftigung geben wird. Ganz wenige teilen sie dann unter sich und erarbeiten den Wohlstand einer sonst rentenverzehrenden Gesellschaft. Diese besteht aus ihren minderbegabten Geschwistern, die alle zur Welt kommen mussten, damit auch jene herausgewürfelt werden konnten, die taugen, um die Mehrheit zu füttern. Und ist es etwa nicht so in fast jeder größeren Familie?

In Platos Staat gibt es dazu jene berühmte Stelle "Die Lüge des Sokrates":

"Ihr seid alle Brüder", soll den Menschen erzählt werden, "den geborenen Herrschern unter euch aber ist wertvolles Gold beigemischt, den Kadern Silber, den übrigen Eisen und Erz. Meist werdet ihr euch ähnliche Kinder erzeugen, manchmal aber auch aus Gold einen silbernen Nachkommen, aus Silber einen eisernen und so fort. Immer sollen deswegen die Herrscher auf ihre Nachkommen achten: falls einer eisenhaltig ward, gehört er unters Volk. Wird aus dessen Mitte aber ein gold- oder silberhaltiger geboren, gehört er unter die Kader oder Herrscher." Denn es sei wissenschaftlich erwiesen, dass ein Gemeinwesen untergehe, wenn sich Eisen und Erz seiner bemächtigen. - Wird irgendjemand diese Lüge glauben?

Politisch korrekt

POLITISCH KORREKT impliziert nach meinem Verständnis so etwas wie "Schutz des Schwächeren": vor Verächtlichmachung.

Wer ist "schwächer"?

"Ausländer, Schwule, Muslime und Flüchtlinge", schreibt z. B. M. Kiyak diese Woche in der Zeit, für welche es mutig gelte einzutreten.

Mancher möchte "Frauen" hinzuschreiben - oder "Kinder" - "Transgender" tauchen häufig in der Liste auf.

Genauer wäre womöglich die negative Bestimmung: "alle außer weißen Männern" (verdienen Schutz vor der Verächtlichmachung).

Auch weiße Männer scheitern, bilden aber, besonders wenn sie über 185 cm groß sind, die einzige Bevölkerungsgruppe, die dafür auch verantwortlich gemacht werden kann, also keine Mitleid verdient.

Der weiße Mann wäre, so gesehen, auch der einzig legitime Gegenstand für eine Komödie, denn diese kritisiert das Zurückbleiben ihrer "Helden" im Hinblick auf etwas, für dessen Eintreten alleine sie zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Figuren, die für ihr Missgeschick nicht verantwortlich gemacht werden können - denen man nur zurückgehaltenes, ihnen womöglich gestohlenes Geld zu geben bräuchte, damit sie "wie weiße Männer" würden -, dürfen auch nicht Charaktere von Komödien sein. Das wäre politisch unkorrekt.

Diejenigen aber, welche die politische Korrektheit ausrufen und erwirken wollen, können nun nicht selber auch noch schwach, sondern müssen machtvoll sein, um dem Anliegen, welches sie vertreten, nichts abzutragen.

Dadurch aber rücken sie in den Rang jener, über die es legitim wird, zu spotten: die "Allmächtigen". Nicht wenige Aktivisten sind durch ihr Tun wohlhabend geworden die Julius Cäsar, der ebenfalls als Volkstribun begann.

Die gezielte Verletzung der politischen Korrektheit neuerdings richtet sich nach meiner Beobachtung mehr gegen diese Vertreter der Schwachen als gegen diese selbst.

Flußbett der Gedanken

Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dieses Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. // Die Mythologie [i. e. die unbezweifelten Sätze] kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.“ (Wittgenstein | Über die Gewissheit § 96 und 97)

Das Flussbett gleicht dem Ding (Subjekt), der Fluss dessen Eigenschaften (Prädikaten). Jede Aussage ist ein Ziehen an dem Ding (Wesenszug) oder stellt dem Ziehen etwas entgegen (Gegenstand).

Subjekt = Mythologie | versteinerte Sätze . . .

"Es kömmt . . . darauf an, das Wahre nicht als Substanz sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen" - also: als "Verschiebung" zu begreifen . . .




Wittgensteins Credo

Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neuen Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neuaufführen in einer Weise, die unserer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur reproduktiv. Das habe ich beim Bauen getan. - Was ich meine, ist aber nicht ein neues Zurechstutzen eines alten Stils. Man nimmt nicht die alten Formen & richtet sie dem neuen Gemack entsprechend her. Sondern man spricht, vielleicht unbewußt, wirklich die alte Sprache, spricht sie aber in einer Art und Weise, die der neuern Welt, darum aber nicht notwendigerweise ihrem Geschmacke, angehört. (VB S. 69)

Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefasst zu haben, indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten. Daraus muss sich, so scheint mir, ergeben, wie weit mein Denken der Gegenwart, Zukunft oder der Vergangenheit angehört. Denn ich habe mich damit auch als einen bekannt, der nicht ganz kann, was er zu können wünscht. (Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen S. 28)

Wenn ich nicht ein richtigeres Denken, sondern eine neue Gedankenbewegung lehren will, so ist mein Zweck eine ‘Umwertung von Werten’ und ich komme auf Nietzsche, sowie auch dadurch, dass meiner Ansicht nach, der Philosoph ein Dichter sein sollen . . .  (Nachlass)

Nichts kommt mir weniger wahrscheinlich vor, als dass ein Wissenschaftler oder Mathematiker, der mich liest, dadurch in seiner Arbeitsweise ernstlich beeinflusst werden sollte. (Insofern sind meine Warnungen wie die Plakate an den Kartenschaltern englische Bahnhöfe "Is your Journey really necessary?" Als ob einer, der das liest, sich sagen würde "On second thougt, no".) Hier muss man mit ganz anderen Geschützen kommen, als ich imstande bin, ins Feld zu führen. Am eheste könnte ich noch dadurch eine Wirkung erzielen, dass, vor allem, auf meine Anregung hin eine grosse Menge Dreck geschrieben wird, & dass vielleicht dieser die Anregung zu etwas Gutem gibt. Ich dürfte immer nur auf die aller indirekteste Wirkung hoffen. (VB 70-71)

Die Krankheit einer Zeit heilt sich durch eine Veränderung in der Lebensweise der Menschen und die Krankheit der philosophischen Probleme konnte nur durch eine veränderte Denkweise und Lebensweise geheilt werden, nicht durch eine Medizin die ein einzelner erfand. Denke, daß der Gebrauch des Wagens gewisse Krankheiten hervorruft und begünstigt und die Menschheit von dieser Krankheit geplagt wird, bis sie sich, aus irgendwelchen Ursachen, als Resultat irgendeiner Entwickelung, das Fahren wieder abgewöhnt. (BGM S. 132)

Ich habe einmal, & vielleicht mit Recht, gesagt: Aus der früheren Kultur wird ein Trümmerhaufen & am Schluß ein Aschehaufen werden; aber es werden Geiste über der Asche schweben. (VB 5)
In der Großstadt-Zivilisation kann sich der Geist nur in einen Winkel drücken. Dabei ist er aber nicht etwa atavistisch und überflüssig, sondern er schwebt über der Asche der Kultur als ewiger Zeuge – quasi als Rächer Gottes. Als erwarte er eine neue Verkörperung (in einer neuen Kultur). NACHLASS

Ihr da oben - wir da unten


Die gegenwärtige Lage wird verkannt meiner Meinung nach, wenn man ihre Angespanntheit auf die Wohlstandsverteilung von "unten nach oben" zurückführt.
Vielmehr fand eine Verteilung in die "globale Breite" statt = die Löhne fielen bei uns in dem Maße, in dem sie z. B. in Bangladesh stiegen. In vielen Ländern der dritten Welt geht es den Menschen materiell besser, seit sie für H & M arbeiten.
Die internationalen Schichten, welche diese Umverteilung voranbringen und verwalten, die Piloten in der Steuerkabine der globalen Wirtschaft, werden unendlich reicher, weniger weil sie die heimischen "Massen" ausbeuten, sondern die Ausbeutungsmasse sich dermaßen vergrößerte.
Was ich elegant nicht zu sagen schaffe, soll ein Beispiel veranschaulichen. Ich habe neulich über AdSense dem Google-Konzern Anzeigenplatz auf einer von mir verwalteten Netz-Seite verkauft. Damit habe ich 10 Euro verdient. Kaum der Rede wert. Auch Google verdiente nicht mehr in meinem besonderen Fall, bei ihnen liegen aber unendlich viel mehr solcher Fälle vor und spülen Milliarden in die Kasse.
Weiteres Beispiel. Neulich waren wir mit der Familie einkaufen: je drei Paar Hosen für die Kinder, ein Paar Schuhe, ein kleiner Gürtel usf. Anschließend gingen wir in das China-Restaurant nebenan - und haben dort für ein Abendessen mehr bezahlt als vorher an der Kasse von H & M . . .

Schopenhauer über die Höflichkeit



Von der Höflichkeit, dieser chinesischen Kardinaltugend, habe ich den einen Grund angegeben in meiner Ethik S. 201: der andre liegt in folgendem. Sie ist eine stillschweigende Übereinkunft, gegenseitig die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit voneinander zu ignorieren und sie nicht vorzurücken; - wodurch diese, zu beiderseitigem Vorteil, etwas weniger leicht zutage kommt.
Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist Unhöflichkeit Dummheit: sich mittelst ihrer unnötiger- und mutwilligerweise Feinde machen ist Raserei, wie wenn man sein Haus in Brand steckt. Denn Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige, eine offenkundig falsche Münze: mit einer solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand: hingegen Freigebigkeit mit ihr Verstand. Alle Nationen schließen den Brief votre très-humble serviteur, - your most obedient servant, - suo devotissimo servo: bloß die Deutschen halten mit dem "Diener" zurück, - weil es ja doch nicht wahr sei - ! Wer hingegen die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe. - Wie das Wachs, von Natur hart und spröde, durch ein wenig Wärme so geschmeidig wird, dass es jede beliebige Gestalt annimmt; so kann man selbst störrische und feindselige Menschen, durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit, biegsam und gefällig machen. Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen, was die Wärme dem Wachs.
Eine schwere Aufgabe ist freilich die Höflichkeit insofern, als sie verlangt, dass wir allen Leuten die größte Achtung bezeigen, während die allermeisten keine verdienen; sodann, dass wir den lebhaftesten Anteil an ihnen simulieren, während wir froh sein müssen, keinen an ihnen zu haben. - Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen, ist ein Meisterstück.
Wir würden bei Beleidigungen, als welche eigentlich immer in Äußerungen der Nichtachtung bestehen, viel weniger aus der Fassung geraten, wenn wir nicht einerseits eine ganz übertriebene Vorstellung von unserm hohen Wert und Würde, also einen ungemessenen Hochmut hegten, und andrerseits uns deutlich gemacht hätten, was, in der Regel, jeder vom anderen, in seinem Herzen, hält und denkt. Welch ein greller Kontrast ist doch zwischen der Empfindlichkeit der meisten Leute über die leiseste Andeutung eines sie treffenden Tadels und dem, was sie hören würden, wenn sie die Gespräche ihrer Bekannten über sie belauschten! - Wir sollten vielmehr uns gegenwärtig erhalten, dass die gewöhnliche Höflichkeit nur eine grinsende Maske ist: dann würden wir nicht Zeter schreien, wenn sie einmal sich etwas verschiebt, oder auf einen Augenblick abgenommen wird. Wann aber gar einer geradezu grob wird, da ist es, als hätte er die Kleider abgeworfen und stände in puris naturalibus da. Freilich nimmt er sich dann, wie die meisten Mensche in diesem Zustande, schlecht aus.

André Gide Corydon

...der Wert eines neuen Systems, einer neuen Erklärung bestimmter Erscheinungen bemisst sich nicht einzig und allein nach ihrer Genauigkeit, sondern auch oder vielmehr vor allem danach, ob sie dem Geist Auftrieb zu neuen Entdeckungen, zu neuen Feststellungen gibt (sollten diese dann auch besagte Theorie entkräften), ob sie neue Möglichkeiten eröffnet, Hindernisse aus dem Weg räumt, neue Waffen liefert. Dass sie Neues vorbringt und sich zugleich dem Alten entgegenstellt, darauf kommt es an.

Goethe DICHTUNG UND WAHRHEIT

Der Freund aber tat den Vorschlag, ich solle etwas erzählen, worein ich sogleich willigte. Wir begaben uns in eine geräumige Laube, und ich trug ein Märchen vor, das ich hernach unter dem Titel »Die neue Melusine« aufgeschrieben habe. Es verhält sich zum »Neuen Paris« wie ungefähr der Jüngling zum Knaben, und ich würde es hier einrücken, wenn ich nicht der ländlichen Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefällig umgibt, durch wunderliche Spiele der Phantasie zu schaden fürchtete. Genug, mir gelang, was den Erfinder und Erzähler solcher Produktionen belohnt: die Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflösung undurchdringlicher Rätsel zu reizen, die Erwartungen zu täuschen, durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwirren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt zu machen, zu rühren und endlich durch Umwendung eines scheinbaren Ernstes in geistreichen und heitern Scherz das Gemüt zu befriedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu hinterlassen.

Sollte jemand künftig dieses Märchen gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine solche Wirkung habe hervorbringen können, so bedenke derselbe, daß der Mensch eigentlich nur berufen ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen durch seine Persönlichkeit, die Jugend am stärksten auf die Jugend, und hier entspringen auch die reinsten Wirkungen. Diese sind es, welche die Welt beleben und weder moralisch noch physisch aussterben lassen. Mir war von meinem Vater eine gewisse lebhafte Redseligkeit angeerbt; von meiner Mutter die Gabe, alles, was die Einbildungskraft hervorbringen, fassen kann, heiter und kräftig darzustellen, bekannte Märchen aufzufrischen, andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu erfinden. Durch jene väterliche Mitgift wurde ich der Gesellschaft mehrenteils unbequem: denn wer mag gern die Meinungen und Gesinnungen des andern hören, besonders eines Jünglings, dessen Urteil, bei lückenhafter Erfahrung, immer unzulänglich erscheint. Meine Mutter hingegen hatte mich zur gesellschaftlichen Unterhaltung eigentlich recht ausgestattet. Das leerste Märchen hat für die Einbildungskraft schon einen hohen Reiz, und der geringste Gehalt wird vom Verstande dankbar aufgenommen.

Durch solche Darstellungen, die mich gar nichts kosteten, machte ich mich bei Kindern beliebt, erregte und ergötzte die Jugend und zog die Aufmerksamkeit älterer Personen auf mich. Nur mußte ich in der Sozietät, wie sie gewöhnlich ist, solche Übungen gar bald einstellen, und ich habe nur zu sehr an Lebensgenuß und freier Geistesförderung dadurch verloren; doch begleiteten mich jene beiden elterlichen Gaben durchs ganze Leben, mit einer dritten verbunden: mit dem Bedürfnis, mich figürlich und gleichnisweise auszudrücken. In Rücksicht dieser Eigenschaften, welche der so einsichtige als geistreiche Doktor Gall, nach seiner Lehre, an mir anerkannte, beteuerte derselbe, ich sei eigentlich zum Volksredner geboren. Über diese Eröffnung erschrak ich nicht wenig: denn hätte sie wirklich Grund, so wäre, da sich bei meiner Nation nichts zu reden fand, alles übrige, was ich vornehmen konnte, leider ein verfehlter Beruf gewesen.

Falsches Ende

Das falsche Ende ist die Antithese vom richtigen Ende: wenn vor dem Ausklang einer Geschichte dessen Gegenteil unausweichlich wird. Es ist für den Autor eines des mächtigsten Mittel, seine Erzählung frisch und überraschend zu gestalten.
Ich gebe am besten ein Beispiel - aus meinem eigenen Schaffen . . .
In einem meiner Projekte, einer Serien-Idee, soll der Schwiegervater der Hauptfigur im Pilotfilm getötet und seine Leiche im Garten des ahnungslosen Nachbarn begraben werden, wo sie mehrere Staffeln lang unentdeckt bleibt.
Dafür musste ich eine Geschichte erfinden, die damit endet, dass die Leiche in beschriebener Weise entsorgt wird. Wie konnte ich Spannung hineinbringen? Indem ich etwas in Aussicht stelle, dessen Eintreten die Zuschauer (hoffentlich) interessiert. Ich habe mich für den Geschäftserfolg des Schwiegersohnes entschieden. Er hat eine vielversprechende Geschäftsidee, deren Schicksal die gesamte erste Staffel bewegt. Der Pilotfilm soll enden mit einer unerwarteten Aufwärtsbewegung für diese Geschäftsidee.
Das falsche Ende besteht folglich im Gegenteil: dem unfehlbaren Tod der Geschäftsidee.
Die Schlussbewegung - aufwärts - von diesem falschen Ende korreliere ich mit der Beseitigung des Schwiegervaters. Dadurch, dass er entsorgt wird, wiederauferstehen die Geschäftschancen der Hauptfigur. Das falsche Ende beinhaltet demzufolge den Triumph des Schwiegervaters.
Es sieht so aus: der Schwiegervater konfrontiert seinen Schwiegersohn mit der drohenden Zerstörung seiner Geschäftsidee. Es ist ein Moment, in dem alles, was wir als Zuschauer erwartet hatten, zu Asche wird. Nie war der Held weiter von seinem Ziel entfernt als in diesem Moment.
Höhepunkt: Er beseitigt den Schweigervater, entsorgt die Leiche mit Hilfe eines unheimlichen Nachbarn, und kann jählings geschäftlich prosperieren.
Das falsche Ende war hier negativ, das richtige positiv. Es kann sich ebenso umgekehrt verhalten.
Nehmen wir als Beispiel die Geschichte einer sterbenden Beziehung. Sie endet mit einer Scheidung. Vielleicht werden nur die paar Stunden gezeigt, die ein Paar vor der Scheidung verbringt. Es müssen bestimmte Dinge organisiert und abgewartet werden, am Schluss steht der Termin vor dem Richter.
Das falsche Ende dieser Geschichte bestünde in einem Moment, der die Scheidung ausschließt. Wir müssen in diesem Moment denken als Zuschauer, dieses Paar wird sich nie scheiden. Die Höhepunktgeste besteht dann in der Bewegung von diesem Moment - zur Scheidung.
Warum ist das falsche Ende für Autoren ein so fruchtbarer Kunstgriff?
Es gibt unserer Erzählung eine nichtvorhersehbare Richtung: indem wir sie - auch für uns - so entwickeln, dass das falsche Ende eintreten muss. Man weiß am besten selber nicht, wie man's noch in sein Gegenteil wenden kann.
Und dann erst, nachdem man sich mit seiner Hauptfigur in eine aussichtslose Lage bugsiert hat, erfindet man, was das Gegenteil herbeiführen muss. Um diese Erfindungen zu ermöglichen und abzusichern, muss man in der Regel auch das bisher Erzählte durchgehen, es entsprechend justieren. Der Verlauf behält trotzdem das meiste von jenem Nichtvorhersehbaren, das er nicht hätte, wenn man gleich auf das richtige Ende zuerzählen würde - das trotzdem am Anfang ins Gemüt des Zuschauers gesetzt werden sollte.
Du weißt, dass du eine potentiell funktionierende Geschichte hast, wenn du dein falsches Ende kennst.

Selbstfindung . . .

. . . ist ja eines der Haupt-Themen fiktionaler Geschichten. Ich bin, was dies betrifft, im Kielwasser einer ambitionierten Manga-Serie neulich auf "Kierkegaard" gestoßen und erachte inzwischen den Einstieg zu seinem Ratgeber "Die Krankheit zum Tode" nicht unfruchtbar für Autoren. Wer möchte, kann den Text in deutscher Übersetzung unter dem schließlich zitierten Link nachlesen. Er ist nur sehr verschraubt, weswegen ich hier eine für Autoren gemeinte Deutung hinschiebe, die hoffentlich nicht zu viele Fehler enthält.
Kierkegaard beschreibt den Menschen als Spannungsfeld zwischen unversöhnlichen Momenten wie z. B. Endlichkeit | Unendlichkeit - Zeitlichkeit | Ewigkeit - Notwendigkeit | Freiheit - also: Körper | Seele. Er deutet dies Zerwürfnis als eine verzweifelte Lage, welche das Menschsein von Anfang an ausmacht.
Dieser Verzweiflung kann der Mensch entgehen durch die Entwicklung eines Selbsts.
Dies kann auf dreierlei Art misslingen.
1 - durch Nicht-Innewerdung der inneren Spannung infolge von Zeitvertreib intellektueller oder spielerischer Natur. Blaise Pascal führt als Beispiele für diese Ablenkungen "Tennisspielen" und "Mathematik" an, was ich hier zitiere, weil ich es lustig finde. "Tennisspielen" kann man durch alles ersetzten, was heute unter den Begriff "fun" fällt (Gefühls-Rhetorik . . .) - "Mathematik" würde ich ins Heute übersetzen durch "Algorithmus", "künstliche Intelligenz | VR" und "Wo ist das Problem?"-Mentalität. - Kierkegaard hält offenbar diese Art der Verzweiflung, die gar nicht weiß, dass sie verzweifelt ist, für die hoffnungsloseste (potentiell letalste).
2 - durch "Magersucht": indem ein Spannungs-Pol dem anderen geopfert wird. Damit sind z. B. asketische Bestrebungen gemeint, auf der Kehrseite hedonistische - religiöse Unerbittlichkeit vs. hysterischer Atheismus usf. Die Spannung soll dadurch aus dem Menschsein retuschiert werden, dass eine der sie bedingenden Kräfte niedergewollt wird (um meist in verkrüppelter Form - Tatoos bei Atheisten, Drogen- oder Sex-Exzesse bei Fundamentalisten, Bulimie usf. - wieder aufzutauchen).
3 - durch Überschätzung: indem man versucht, ein "selbstbestimmtes" Leben zu führen und reklamiert, die Widersprüche im Wesen des menschlichen Seins eigenmächtig eingebunden zu haben (was nach Kierkegaard bis heute noch niemandem gelang).
Entsprechend die üblichen Ausgangspunkte von "Selbstwerdungs"-Geschichten: Verzweiflung bricht durch, die Hauptfigur verliert ihr bisheriges Leben; aber irgendwie ist es auch kein richtiger Verlust, weil damit die Chance sich eröffnet, etwas Wertvolles zu finden: das "wahre Selbst".
Wie hat man sich solches Finden vorzustellen?
Bei Kierkegaard spielt zu diesem Punkt das "Andere" herein, traditionellerweise als "Gott" interpretiert, ein Wort, das bei Kierkegaard freilich niemals fällt. Er stellt nur fest, kein Mensch wisse, sich aus eigenen Kräften aus dem nativen Widerspruch zu verhelfen, dem sein Wesen entspringt, sondern müsse sich dafür etwas widmen, das mehr sei, als er alleine, und eingebunden würde durch sein solcherart entstehendes "Selbst".
". . . ein Selbst" , schreibt Kierkgegaard, "muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein." Da wir als Menschen aber jene Bedürfnisse, welche uns ausmachen - körperliche sowie geistige - nicht zeitgleich ausdrücken können, nicht simultan völlig bei der Sache und völlig abgehoben sein können, können wir auch das, was unsere widerstreitenden Momente versöhnte, nicht von uns aus "gesetzt" haben. Sonst würde es ja bereits leisten, was uns Menschen abgeht. Vielmehr muss es "durch ein anderes gesetzt sein".
Kierkegaard fasst zusammen: "Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte."
"Durchsichtig" meint wohl etwas wie "an der Nasenspitze anzusehen" = diejenige Person hat sich selbst oder ihr Selbst gefunden, deren Leben von einer Sache erfüllt ist, die sich in allen wichtigen Aspekten ihres Tuns und Sterbens ("durchsichtig") mitteilt und nichts Menschliches dabei auslässt oder unterdrückt.
Was für eine "Sache" kann das sein?
Im Falle Dantes ist es z. B. "Beatrice" (wie sie in rührender Form als "Jenny" in Forrest Gump zurückkehrt) - der Tanz in Billy Elliot - Hollys Freundschaft zu Harry in Der dritte Mann - die Krone in Macbeth - die Literaturwissenschaften in Stoner usf.
Wie aber hebt die Hinwendung zu einer Sache die einen Menschen sonst zerreißende Spannung auf sowie die kraft ihrer schwelende Verzweiflung? Zu diesem Zweck müsste sie gewiß die nativ widespenstigen Momente des Menschseins integrieren.
Dies geschieht nach Kierkegaard z. B. durch die Stiftung von "Identität", in welcher sich Zeit und Ewigkeit versöhnen. Was sich von einem Menschen hält, ihn "in Ewigkeit" ausmacht, entspringt den vergänglich Spuren, die er - im Dienste seiner Sache - im Hier und Jetzt hinterließ. Ein Mensch wird unverwechselbar ("ewig") als Summe seiner ("vergänglichen") Taten . . .
Endlichkeit und Unendlichkeit als Aspekte der Welt werden dadurch versöhnt, dass ein engagierter Mensch mit allem etwas anfangen kann, das ihm begegnet - und je begegnen wird! Denn im Hinblick auf seine Sache hat es immer Bedeutung, in dem Maße beispielsweise wie es diese konturiert, fördert oder behindert. Indem ich weiß, was wahr werden soll (Endlichkeit), hat es mit allem, was mir je begegnet (Undendlichkeit), bereits etwas auf sich.
Die Versöhnung von Notwendigkeit oder Faktizität und Freiheit liegt in der Schaffung neuer Handlungsmöglichkeiten infolge zunehmender Identität. Nur wer einen bestimmten Weg einschlug, gelangt an neue Gabelungen.
Ein wesentliches Erkennungsmerkmal aber für die "Sache", die einen Menschen zum Selbst verhilft, ist für Kierkegaard offenbar das Gefühl der Angst, die durch das implizite Tun, in einem ausgelöst wird . . .
Soweit meine zusammenfassende Deutung einiger Gedanken Kierkegaards. Sie könnten sich als nützlich erweisen, wo sich für einen Autor der Eindruck verfestigt, es in erster Linie mit einer verzweifelten Hauptfigur zu tun zu haben, die uneigentliche Ziele verfolgt.

Nietzsche zur Wahrheit

Nietzsche war der Ansicht, dass nur, wer nicht genau sieht, sich einen Vorsprung sichert, und spekuliert, dass es das falsche, holzschnittartige Denken ist, welches sich lebensrettend auswirkt. (Er schmäht im übrigen die Wahrheit als christliches Konzept = Wunsch nach Ewig-Richtigem, Idealem, Unbestreitbarem -ursprünglich bei Plato, von dort übergegangen zum Christentum und weiter in die Wissenschaften of today; Nietzsche legt nahe, Christentum und Wissenschaften stießen ins gleiche Horn. (Uns ist soviel gesagt worden, die Kirche stünde gegen Galilei, dass wir seine Rehabilitierung vergessen: in Roms Kirchen habe ich vor zwei Jahren naturwissenschaftliche Ausstellungen wie im Deutschen Museum gesehen...). Nietzsche seinerseits kehrt sich gar nicht gegen die Wahrheit schlechthin, sondern deren Alleinvertretungsanspruch, sieht also WAHRHEIT als eine der Spielformen dessen, was zählt. Was könnte es Lohnendes geben, das "nicht-wahr" ist? Es scheint einem heute vollkommen absurd, außerhalb des Wahren nach Wert zu suchen, so sehr bleiben wir eine platonisch-christlich informierte Gesellschaft. Die atheistischen Wissenschaftler können dem Christentum nichts anhaben, da beide derselben Ewigkeit verpflichtet sind (daher das Gähnen, welches ihre "Streitgespräche" verursachen). Nietzsche will offenbar darüber hinaus, "jenseits der Wahrheit" etwas Wertvolles finden, das sich beispielsweise in Kunst|Maskenspiel zeigt. Dazu verwirft er die Wahrheit nicht, sondern spannt sie ggf. ein für menschlichere Zwecke, ohne ihr Alleinherrschaft einzuräumen, wie es der Platonismus und seine Abkömmlinge Christentum|Wissenschaft tun. Wer's fassen kann, der fasse es!)

Leit-Werte

* Individualismus
* Emanzipation (Gleichheitsstreben)
* Selbstbewußtsein (Durchsetzungsvermögen)
* Weltlichkeit (Atheismus)
* Spezialisierung (Expertentum)
* Kernigkeit (Ungehobeltheit in Talk Shows . . .)
* Wissenschaftlichkeit (Agnostik = Zurückführbarkeit von Theorien auf Beobachtungssätze, von Begriffen auf Dinge und von gesetzmäßigen Zusammenhängen auf kausal-deterministische Ereignisse)
* Primitivismus (gesellschaftliche Rückorientierung zu vor-industriellen und oft sogar vor-landwirtschaftlichen Produktions- und Lebensverhältnissen = Tierrechte|Krötentunnel, Rückkehr der Wölfe, Veganismus, Rohkost, Naturheilmittel, Windkraft, Yoga usf.)

Dagegen stehen die NICHT-WERTE

* Hierarchie
* Besitz
* Familie
* Pflicht (Gehorsam)
* Religion
* Vergeltung


Lüge des Sokrates

"Ihr seid alle Brüder", soll den Menschen erzählt werden, "den geborenen Herrschern unter euch aber ist wertvolles Gold beigemischt, den Kadern Silber, den übrigen Eisen und Erz. Meist werdet ihr euch ähnliche Kinder erzeugen, manchmal aber auch aus Gold einen silbernen Nachkommen, aus Silber einen eisernen und so fort. Immer sollen deswegen die Herrscher auf ihre Nachkommen achten: falls einer eisenhaltig ward, gehört er unters Volk. Wird aus dessen Mitte aber ein gold- oder silberhaltiger geboren, gehört er unter die Kader oder Herrscher." Denn es sei wissenschaftlich erwiesen, dass ein Gemeinwesen untergehe, wenn sich Eisen und Erz seiner bemächtigen. - Wird irgendjemand diese Lüge glauben? - Platon Der Staat

Abrichtung der Flüchtlinge . . .


. . . auf deutsche Normen - man schrickt spontan zusammen bei solchen Worten, denkt an Gehirnwäsche u. ä. m. - " . . . prenant les hommes tels 'qu'ils sont, et les lois telles qu'elles peuvent être" beginnt Rousseau seinen Gesellschaftsvertrag & darin wurzeln die Schwierigkeiten: "wenn man die Menschen nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können . . ." - denn Rousseau leitet, was unser Zusammenleben regelt, aus dem einzelnen Menschen ('wie er ist') ab. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", nimmt unser Grundgesetz diesen Gedanken als wichtigsten mit seinem ersten Satz auf. Dabei wird unterstellt, wir würden mit dem, was uns zu Menschen macht, geboren - im Hinblick auf das Wesentliche also weder erzogen oder geformt. Vor allem Aristoteles sah das ganz anders: dass wir als Menschen nicht uns die Gesetze schneidern, sondern durch diese - bereits bestehenden - überhaupt erst zu Menschen (gemacht) werden. Der Unterschied könnte nicht größer sein. Rousseau (und wir mit ihm, denn wir sind Kinder der Aufklärung) sagt: der Mensch schafft die Gesetze entsprechend seiner Natur (diese hätte mit anderen Worten auch ohne sie Inhalt) - Aristoteles dagegen: die Gesetze geben dem Menschen erst Inhalt und Wesen. Wenn Rousseau Recht hat, sind die Menschen überall auf der Welt gleich; wenn Aristoteles Recht hat, unterscheiden sie sich entsprechend der Gesetze oder Gewohnheiten, nach welchen sie abgerichtet wurden (diese wiederum wären eine Funktion der Umgebung, deren Verläufe sie regeln, in der Wüste also anders als im Dschungel oder einer Großstadt - vergleichbar der unterschiedlichen Flora|Fauna). - Entsprechend wären die Flüchtlinge entweder als uns im wesentlichen gleich - oder von uns verschieden aufzufassen, dann derselben Abrichtung bedürftig, die uns zu den Wesen machte, welche unsere Gesellschaft bilden. (Ich neige zur Auffassung des Aristoteles, da sie besser erklärt, warum es so unterschiedliche Sprachen gibt.)

HEINER MÜHLMANN beeindruckt mich tief



Obwohl ich im Moment nur die Hälfte nachvollziehe von dem, was er wohl sagt.
Hat mit seiner Verwendung von Mathematik zu tun. Davon ausgehend, dass man als Teilhaber einer Kultur diese nicht bewerten kann, beobachtet Mühlmann mathematische Modelle, um festzustellen, woher Kultur kommt und wohin sie sich entwickelt, letzteres mit Hilfe "genetischer Algorithmen", das sind mathematische Funktion, die sich "sexuell" vermehren und dadurch unvorhersehbare Lebenswelten schaffen. Am beeindruckendsten fand ich das Beispiel von mathematischen "Lebewesen" in der 30. Generation, die eines morgens zum Erstaunen ihres Schöpfers alle "tot" waren - infolge des "Baldwin-Effekts", wie sich dann herausstellte.
Dieser besteht in einer mittelbaren Weise von praktischem Wissen, ins Genom überzugehen. Bei Menschen erzeugt das Instinktsicherheit und ästhetisches Feingefühl, die sich als lebensgefährlich herausstellen können, wenn die Umgebung sich verändert und das nicht mehr beobachtet werden kann.
Wenn ich Mühlmann richtig lese, sieht er in der modernen Kunst seit dem 17ten Jahrhundert "Baldwin" am Werk, also keine Optimierung unseres Rezeptoriums, sondern dessen lebensgefährliche Ablenkung - durch Verfeinerung - von dem, was uns ggf. retten könnte.
Drauf kommt er nicht aus vorgeschaltetem Kulturpessimismus, sondern infolge von Experimenten mit genetischen Algorithmen, welche die Entwicklung und den Niedergang von Kulturen modellieren.
Ich hoffe, ich habe das alles richtig verstanden | wiedergegeben.
So etwas Originelles habe ich jedenfalls lange nicht gelesen.

Kain und Abel

 Adam schlief mit seiner Frau Eva, und sie wurde schwanger, gebar den Kain. "Gott" sagte sie, "hat mir einen Sohn geschenkt." Sie fuhr fort und gebar den Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schäfer, Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit opferte Kain ein paar Feldfrüchte, Abel brachte Gott Lämmer seiner Herde, obendrein Fett. Gott gefiel, was ihm Abel hergab, weniger das Opfer seines Bruders. Das erbitterte Kain; er verstellte sich aber. Gott sprach: "Warum tust du so, als ob du nicht wütend bist? Warum machst du uns etwas vor? Sei guten Mutes, und du nimmst für dich ein, haderst du jedoch, wirst du ein Verbrechen begehen. Reiß dich zusammen." Kain aber beredete seinen Bruder Abel. Als sie danach auf dem Feld waren, zettelte er einen Streit an und schlug ihn tot. Da sprach Gott zu Kain: "Wo ist dein Bruder Abel?" Kain antwortete: "Was fragst du mich? Bin ich sein Kindermädchen?" Gott aber sprach: "Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Verflucht sollst du sein auf ihr, die ihr Maul auftat und deines Bruders Blut von deinen Händen empfing. Wenn du deine Felder bestellst, sollen sie nichts hergeben. Ruhelos und flüchtig sollst du sein auf Erden." Kain antwortete: "Mir kann nicht vergeben werden, meine Sünde ist zu groß. Du vertreibst mich, ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen, muß unstet und flüchtig sein auf Erden. Zum Schluß wird mich irgendwer totschlagen." Aber der Gott sprach zu ihm: "Nein; denn wer Kain totschlägt, kriegt es siebenfach heimgezahlt." Und Gott brannte Kain ein Zeichen in die Stirn, damit sich keiner traute, ihn zu erschlagen. Also ging Kain Gott aus den Augen und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden. Die moralische Pointe finde ich in der Aufforderung Gottes an Kain, damit aufzuhören, sich zu verstellen. Er macht eine zu große Sache daraus, diesmal verloren zu haben. Es ist seine wütende Ungeduld, die ihn zu Fall bringt. Und natürlich identifiziert sich jeder, der die Geschichte liest, mit ihm. Das ganze könnte z. B. auch eine hervorragende Backstory für ein Drama sein, beginnt mit dem Auftauchen eines Fremden "Jenseits von Enden", der ein geheimnisvolles Tatoo auf der Stirn trägt . . .

ANGST - einzig wirklicher Motor?


Gibt es eigentlich irgendeinen technischen Fortschritt, der nicht aus den Laboren des Militärs kommt?
Die Zivilgesellschaft an sich scheint zu keinen Innovationen imstande, hat - wenn schon - die Tendenz, sich zu zerlegen.
Wieso modernisiert andererseits das Militär?
Aus Angst. Dass der Feind einem zuvorkommt.
Ohne Angst rührt sich folglich gar nichts.

Sokrates im Phaidros

...die Priesterinnen zu Dodona haben im Wahnsinn vieles Gute in privaten und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas zugewendet, bei Verstande aber Kümmerliches oder gar nichts.

Deutschland

Wenn ich die gegenwärtige politische Ordnung der Welt betrachte, gehört Deutschland zu jenen Staaten mit den am "wenigsten dichten" Grenzen. Blickt man in die Vergangenheit, bildeten eigentlich immer Bevölkerungen mit eben diesem Merkmal die ihre Epoche beherrschenden, dynamischsten Kulturen, während die Verdeutlichung im Ziehen von Grenzen, der Bau von Mauern das Absterben der umgrenzten Einheit einleitete.
Welcher Staat hatte je seine Umzäunung überlebt?
Staaten hinter Mauern brauchen, um sich zu verstehen, etwas Feindseliges auf der anderen Seite. Z. B. Israel den Antisemitismus, ohne den es zerfallen würde. Verheerender wirkt sich das Feindbild aus, auf welches die USA je angewiesen sind, um nicht auseinander zu brechen.
Wenn natürliche Grenzen wie das Meer solches Befinden fördern, müssten Insel-Staaten eine besonders starke Neigung haben, als Antwort auf "das Fremde", welches sie umgibt, zusammenzuhalten.
Die andere Möglichkeit, Menschen ineinander zu hängen, besteht in der Stiftung einer Religion oder Ideologie, die dann gerade über jede Grenze hinaus Gefolgsleute zu machen geneigt ist.
Gibt es eigentlich irgendeinen originellen oder virulenten "Religionsstifter" der Neuzeit, der nicht deutsch geschrieben hätte: Kant, Schelling, Hegel - Nietzsche, Marx, Freud, Jung, Jaspers, Heidegger, Habermas? Wurde nicht auch die zeitgenössische, das Unendlich berechende Mathematik von Leibnitz, Gauß und Riemann erfunden?
Und können wir nicht gerade modellhaft an England beobachten, was das Zusammenziehen auf ein Nationalgebiet bedeutet?
Deutschland steht dem als Alternative entgegen.
"Noch", möchte man hinzufügen - aber hat Deutschland sich überhaupt je anderes verstehen können?

James Madison | 10. Federalist Papers

Die verborgenen Ursachen für die Entstehung von Parteiungen liegen also in der menschlichen Natur; wir sehen sie überall in verschiedenem Maß aktiviert, je nach den verschiedenen Umständen, die in der jeweiligen bürgerlichen Gesellschaft herrschen. Der Einsatz für religöse, politische und anderer Überzeugungen in Wort und Tat, die Bindung an verschiedene politische Führer, die voller Ehrgeiz um Vorherrschaft und Macht ringen, oder an andere Persönlichkeiten, deren Schicksal die menschlichen Leidenschaften erregt haben - all dies hat die Menschheit immer wieder in Parteien gespalten, sie mit Feindseligkeit gegeneinander erfüllt und sie dazu gebracht, einander eher zu peinigen und zu unterdrücken als um des gemeinsamen Wohls willen zusammenzuarbeiten. So stark ist dieser Hang der Menschen, in wechselseitige Feindseligkeiten zu verfallen, dass dort, wo es an einem wirklichen Anlass mangelt, die nichtigsten und absonderlichsten Unterschiede zwischen ihnen genügen, um negative Gefühle zu erzeugen und die heftigsten Konflikte herbeizuführen . . . Diese vielfältigen und einander widersprechenden Interessen zu regulieren, ist die wesentliche Aufgabe der modernen Gesetzgebung. Der Umgang mit Parteien und Parteiungen gehört also zu den normalen Erfordernissen der Regierungstätigkeit.

Selbstfindung nach Kierkegaard


Kierkegaard beschreibt den Menschen als Spannungsfeld zwischen unversöhnlichen Momenten wie z. B. Endlichkeit | Unendlichkeit - Zeitlichkeit | Ewigkeit - Notwendigkeit | Freiheit - also: Körper | Seele. Er deutet dies Zerwürfnis als eine verzweifelte Lage, welche das Menschsein von Anfang an ausmacht.

Da liest man so drüber hinweg. Daher nochmal: die Ausgangslage des Menschen ist nach Kierkegaard auf jeden Fall misslich. Nicht, weil er etwas verkehrt gemacht macht, sondern weil er auf die Welt kommt - zum Verzweifeln. Es gibt keinen Menschen, der nicht ursprünglich verzweifelt wäre aus den oben beschriebenen Gründen.

Der Verzweiflung kann ein Mensch nun nach Kierkegaard entgehen durch die Entwicklung eines SELBSTS.

Dies kann auf dreierlei Weise misslingen:

1 - durch Nicht-Innewerdung der nativen Verzweiflung infolge von Zeitvertreib intellektueller oder spielerischer Natur. Blaise Pascal führt als Beispiele für diese Ablenkungen "Tennisspielen" und "Mathematik" an, was ich hier zitiere, weil ich es lustig finde. "Tennisspielen" kann man durch alles ersetzten, was heute unter den Begriff "fun" fällt (Gefühls-Rhetorik . . .) - "Mathematik" würde ich ins Heute übersetzen durch "Algorithmus", "künstliche Intelligenz | VR" und "Wo ist das Problem?"-Mentalität. - Kierkegaard hält diese Art der Verzweiflung, die gar nicht weiß, dass sie verzweifelt ist, für die hoffnungsloseste (potentiell letalste).

2 - durch "Magersucht": indem ein Spannungs-Pol dem anderen geopfert wird. Damit sind z. B. asketische Bestrebungen gemeint, auf der Kehrseite hedonistische - religiöse Unerbittlichkeit vs. hysterischer Atheismus usf. Die Spannung soll dadurch aus dem Menschsein getuscht werden, dass eine der sie bedingenden Kräfte niedergewollt wird (um meist in verkrüppelter Form - Tatoos bei Atheisten, Drogen- oder Sex-Exzesse bei Fundamentalisten, Bulimie usf. - wieder aufzutauchen).

3 - durch Überschätzung: indem man versucht, ein "selbstbestimmtes" Leben zu führen und reklamiert, die Widersprüche im Wesen des menschlichen Seins eigenmächtig versöhnt zu haben (was nach Kierkegaard bis heute noch niemandem gelang).

Entsprechend die üblichen Ausgangspunkte von "Selbstwerdungs"-Romanen: Verzweiflung bricht durch, die Hauptfigur verliert ihr bisheriges Leben; aber irgendwie ist es auch kein richtiger Verlust, weil damit die Chance besteht, sich auf etwas zu verlegen: sein "wahres Selbst".

Wie hat man sich dessen Wahrwerden vorzustellen?

Für Kierkegaard spielt dazu das "Andere" eine entscheidende Rolle, ursprünglich als "Gott" interpretiert, ein Wort, das bei Kierkegaard freilich niemals fällt. Er stellt nur fest, kein Mensch vermöchte sich spontan aus dem nativen Widerspruch zu retten, der sein Wesen ausmacht, sondern müsse sich dafür etwas widmen, das mehr sei, als er schon ist: im Hinzukommen sein Selbst erschafft.

". . . ein Selbst" , schreibt Kierkgegaard, "muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein." Da wir als Menschen jener Strebungen, welche uns ausmachen - körperliche einerseits, geistige andererseits - nie zeitgleich inne, nicht zugleich bei einer Sache sowie abgehoben von dieser sein können, sind wir auch nicht imstande, was uns auseinandertreibt, einzubinden. Wir verfügten über kein spontanes Selbst, es muss vielmehr im Fall von uns Menschen "durch ein anderes gesetzt sein".

"Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte."

"Durchsichtig" meint wohl etwas wie "an der Nasenspitze anzusehen" = diejenige Person hat sich selbst oder ihr Selbst gefunden, deren Dasein von einer Sache erfüllt ist, die sich in allen wichtigen Aspekten ihres Tuns und Strebens ("durchsichtig") mitteilt, nichts Menschliches dabei auslässt oder unterdrückt.

Was für eine - das Selbst setzende - "Sache" kann das sein?

Im Falle Dantes wäre es z. B. "Beatrice" (wie sie in rührender Form als "Jenny" in Forrest Gump zurückkehrt) - der Tanz in Billy Elliot - Hollys Freundschaft zu Harry in Der dritte Mann - die Krone in Macbeth - die Literaturwissenschaften in Stoner usf.

In welcher Weise aber hebt eine Sache jene die Menschen sonst zerreißende Spannung, die kraft ihrer schwelende Verzweiflung, auf? Indem die nativ widespenstigen Pole des Menschseins durch etwas Hinzukommendes integriert werden.

Dies geschieht nach Kierkegaard z. B. durch die Stiftung von "Identität": in welcher sich Zeit und Ewigkeit versöhnen. Was sich von einem Menschen hält, ihn "in Ewigkeit" ausmacht, entspringt den vergänglich Spuren, die er - herausgefordert durch eine Begegnung - hier und jetzt hinterließ, je hingebungsvoller, desto endgültiger.

Endlichkeit und Unendlichkeit als Verzweiflungsquellen des Seins werden dadurch versöhnt, dass ein engagierter ("gläubiger") Mensch mit allem etwas anfangen kann, das ihm begegnet - und je begegnen wird! Denn es hat in jedem Fall Bedeutung kraft dessen, worauf er sich verlegt hat, indem es dasselbe konturiert, fördert oder behindert. Indem ich weiß, was wirklich werden soll (Endlichkeit), hat es mit allem, was mir je begegnet (Undendlichkeit), bereits etwas auf sich.

Die Versöhnung von Notwendigkeit oder Faktizität und Freiheit entspringt in der Schaffung neuer Handlungsmöglichkeiten infolge zunehmender Identität. Nur wer einen bestimmten Weg einschlug, gelangt an neue Gabelungen, die seine Freiheit herausfordern und dadurch bedingen. Das gilt selbst für Macbeth.

Ein sicheres Erkennungsmerkmal aber für die "Sache", welche mir zum Selbst verhälfe, ist für Kierkegaard das Gefühl der Angst, die angesichts ihrer in mir anhebt. In einem Hinzukommen, dessen Anmut den Herzschlag beschleunigen, allein liegt die Rettung.