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INNEN vs. AUSSEN

INNEN - intensiv, Maske, Begriff, Sprachpiel, simulacrum, romantisch, Traum, Psychologie



AUSSEN - extensiv, messbar, wissenschaftlich

Simulacrum und Repräsentation bei Deleuze


Bei der Darstellung|Trugbild-Diskussion kommt es mir so vor, D. lässt in the vein of Nietzsche allein die "Trugbilder" (Masken) gelten - worin ihm die Wachowskis nicht folgen, indem sie die "Matrix" als der "Wahrheit" entgegengesetzt darstellen. Es gibt bei ihnen Täuschung und Tatsächlichkeit, und man muss sich doch sofort fragen, wieso es die Täuschung gibt, und wie man wissen kann, dass sie nicht in dem besteht, was man, peinlich belehrt, am Ende des Films für wahr halten soll.

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Im übrigen haben Trugbilder immer einen Sinn, und es wäre interessant, sie von solchen Bildern zu unterscheiden, die "nicht mal in der Lage sind zu täuschen", etwa logischen oder mathematischen Sätzen, die womöglich deswegen über keinen Sinn verfügen. Trugbilder lassen sich auch nicht widerlegen, nur aus der Mode bringen. Das wird z. B. gerade bei der Bekämpfung Trumps verkehrt gemacht, die nicht rational, sondern missionarisch sein müsste, um Erfolg zu haben. Andernfalls könnte es das Trugbild Clinton | New York Times sein, das "aus der Mode" kommt.

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Besonders anschaulich illustrieren, worum es hier geht, die Kippbilder. Man kann, finde ich, aus ihnen sogar etwas Wesentliches über Moral ableiten, indem es Sinn macht, jemanden aufzufordern, einen bestimmten Aspekt zu sehen: "Sieh das jetzt mal als Hasen!" Wie uns das Sosein der Welt "erscheint" wäre demnach Willenssache und das Trugbild recht eigentlich ein Inhalt unserer Möglichkeiten, Dinge zu tun oder zu lassen.

Wittgenstein | Deleuze


In der Log.-philosoph. Abhandlung (LPA| Tractatus) entwickelt Wittgenstein eine Ontologie, die in ihrer Virtualität für mich ganz Deleuzes "corps sans organes", später dann "plan d'immanence" entspricht, beschrieben z. B. in LPA 1.21: "Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben." Die Wirklichkeit erhebt sich in der LPA aus einem bestimmten Raum des Möglichen, ohne diesen dadurch zu verändern. So lese ich auch Deleuze, nur dass er diesen Raum intensiver beschreibt oder deutet.
Ein Unterschied zwischen Deleuze (im Stil von Spinoza und Nietzsche) sowie Wittgenstein könnte darin bestehen, dass Wittgenstein die Beschreibung besagten Raumes und das Ausleben der ihn ihm liegenden Möglichkeiten für - letztlich - witzlos hält, wenngleich er sachlich keine anderen Möglichkeiten vorsieht.
Deleuze ähnelt insofern einem Gourmet, Wittgenstein einem Asketen.
Kann sein, dass ich beide falsch interpretiere, im Grunde ist mir das aber egal, da ich nicht an der Uni bin und auch keine Bücher zu dem Thema veröffentliche, sondern lieber selbst philosophiere und dafür originelle Denker zum Anstoß nehmen.
Wittgenstein wurde vom Krebs getötet, Deleuze beging wohl Selbstmord, weil sein Körper ihn zusehends verriet. Wenn Deleuze wirklich durchdrungen war von seiner Lehre, dann muss er sich subjektiv in den Zyklus der "ewigen Wiederkehr" geworfen haben, also nicht wirklich gestorben sein.
Was Wittgenstein betrifft, muss ich in punkto an LPA 6.4312 denken: "Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch das Rätsel gelöst, daß ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso räselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit."
Darin liegt für mich die Hoffnung oder Ahnung, den "plan d'immanence" zu verlassen: auszusteigen gewissermaßen aus Raum und Zeit - was noch nicht mal "nichts" gleichkommt, sondern einfach begriffslos ist, und nicht, weil man's noch nicht begriffen hätte, sondern weil es nichts mehr zu begreifen gibt.
Das wäre natürlich ein transzendenter Standpunkt, aber zugleich vollkommen immanent, indem es dies Jenseits nicht "gibt" . . .

Neue Merkmale des Despotismus

„Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber: Seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, dass er kein Vaterland mehr hat. Über diesen erhebt sich eine gewaltige bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, dass die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, dass sie nichts anderes im Sinne haben, als sich zu belustigen. Sie arbeitet gerne für deren Wohl; sie will aber dessen alleiniger Betreuer und einziger Richter sein; sie sorgt für ihre Sicherheit, ermisst und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?“
Tocqueville „Über die Demokratie in Amerika“
P. S. Houllebecq meinte neulich, man müsse nur "väterliche" durch "mütterliche" Gewalt ersetzen, um in 2016 anzukommen.

Deleuze | Wittgenstein

Um zu sehen, wie nahe sich die Denker stehen, zitiere ich hier mal eine Stelle aus Wittgensteins ZETTEL:

"Keine Annahme scheint mir natürlicher, als daß dem Assoziieren oder Denken kein Prozeß im Gehirn zugeordnet ist; so zwar, daß es also unmöglich wäre, aus Gehirnprozessen Denkprozesse abzulesen. Ich meine das so: Wenn ich rede oder schreibe, so geht, nehme ich an, ein meinem gesprochenen oder geschriebenen Gedanken zugeordnetes System von Impulsen von meinem Gehirn aus. Aber warum sollte das System sich weiter in zentraler Richtung fortsetzen? Warum soll nicht sozusagen diese Ordnung aus dem Chaos entspringen? Der Fall wäre ähnlich dem - daß sich gewisse Pflanzenarten durch Samen vermehrten so daß ein Same immer dieselbe Pflanzenart erzeugt, von der er erzeugt wurde, - daß aber nichts in dem Samen der Pflanze, die aus ihm wird, entspricht; so daß es unmöglich ist, aus den Eigenschaften oder der Struktur des Samens auf die der Pflanze, die aus ihm wird, zu schließen, - daß man dies nur aus seiner Geschichte tun kann. So könnte also aus etwas ganz Amorphem ein Organismus sozusagen ursachelos werden; und es ist kein Grund, warum sich dies nicht mit unserem Gedanken, also mit unserem Reden oder Schreiben etc. wirklich so verhalten sollte. - Es ist also wohl möglich, dass gewisse psychologische Phänomene physiologisch nicht untersucht werden können, weil ihnen physiologisch nichts entspricht."

Für Deleuze liegt alles Erhebliche nicht in der Anordnung, sondern im Verlauf = unser Denken füllt keine Schema aus, sondern entwickelt sich wie der Baum aus einem Samen. Beider Beziehung kann man aus einem allein nicht ersehen, der Baum ist in dem Samen nicht verallgemeinert oder "vorgezeichnet", allein durch Untersuchung des Samens wäre nicht zu ersehen, was sich aus diesem entwickelt. So wie ein DNA-Strang kein Bild des Wesens enthält, das in ihm liegt. Es muss eine Umgebung hinzukommen, um das "Versprechen" wahr zu machen. Deleuze vergibt oder verwendet hier aufsehenerregende Namen: "organloser Körper" oder "Immanenzebene" - "Diesheit" usf. Wittgenstein sagt an solcher Stelle: "So könnte also aus etwas ganz Amorphem ein Organismus sozusagen ursachelos werden; und es ist kein Grund, warum sich dies nicht mit unserem Gedanken, also mit unserem Reden oder Schreiben etc. wirklich so verhalten sollte."

Damit gibt Deleuze sich nicht zufrieden, sondern unterstellt einen "organlosen Körper" - als Substrat oder Quelle gewissermaßen von "Diesheit". Also doch wieder eine Struktur? Die man entdecken kann? Z. B. mit Hilfe des Differential-Kalküls oder der Topologie?

Wittgenstein signalisiert, dass Worte wie "organloser Körper" viel Schaden anrichten können, indem sie die materiale Existenz von etwas vorgaukeln, das Materialität erst ermöglicht. Imgrunde will Deleuze dasselbe sagen: Dass, was sich einstellt, nicht der Wahrheit (dem Eingeschliffenen) entspringt, sondern dem Abweichen von derselben. Nur muss dieses, würde Wittgenstein wohl finden, namenlos bleiben, um nicht seiner Schöpferkraft verlustig zu gehen.

Oh je: der letzte Absatz ist unleserlich - mein Gedanke zu verworren. Es geht darum, wie etwas Neues in die Welt kommt. Dass es nicht dem Alten entspringen kann, sondern sich von diesem unterscheiden muss. Deleuze unterstellt eine Quelle des Neuen und gibt ihr verschiedene Namen; Wittgenstein "erschweigt" diese Quelle, da er Namen für etwas Altes (Versteinerndes) hält.

Der Same enthält nicht den Baum

 "Keine Annahme scheint mir natürlicher, als daß dem Assoziieren oder Denken kein Prozeß im Gehirn zugeordnet ist; so zwar, daß es also unmöglich wäre, aus Gehirnprozessen Denkprozesse abzulesen. Ich meine das so: Wenn ich rede oder schreibe, so geht, nehme ich an, ein meinem gesprochenen oder geschriebenen Gedanken zugeordnetes System von Impulsen von meinem Gehirn aus. Aber warum sollte das System sich weiter in zentraler Richtung fortsetzen? Warum soll nicht sozusagen diese Ordnung aus dem Chaos entspringen? Der Fall wäre ähnlich dem - daß sich gewisse Pflanzenarten durch Samen vermehrten so daß ein Same immer dieselbe Pflanzenart erzeugt, von der er erzeugt wurde, - daß aber nichts in dem Samen der Pflanze, die aus ihm wird, entspricht; so daß es unmöglich ist, aus den Eigenschaften oder der Struktur des Samens auf die der Pflanze, die aus ihm wird, zu schließen, - daß man dies nur aus seiner Geschichte tun kann. So könnte also aus etwas ganz Amorphem ein Organismus sozusagen ursachelos werden; und es ist kein Grund, warum sich dies nicht mit unserem Gedanken, also mit unserem Reden oder Schreiben etc. wirklich so verhalten sollte. - Es ist also wohl möglich, dass gewisse psychologische Phänomene physiologisch nicht untersucht werden können, weil ihnen physiologisch nichts entspricht." Wittgenstein ZETTEL

Deleuze

Gestern bin ich wieder mal in Gilles Deleuze getaucht, eine sehr ergiebiger Philosoph, der es sich und anderen unnötig schwer macht.
Ich habe früher mal Pierre Bourdieus Die Feinen Unterschiede gelesen und seitdem nie vergessen können. Bourdieu analysiert darin hauptsächlich die französische Gesellschaft, wie ich finde, als Weiterung des Hofes von Versailles, der Machtlosigkeit durch Etikette ersetzte. Auch die besten Franzosen sind infolgedessen ständig bedroht vom Gespenst gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit und zögern, sich zu sehr in die Karten schauen lassen. Bei den Intellektuellen zeigt sich das in einem verdrechselten Stil und der Neigung, Kollegen herunterzumachen, die man als Nicht-Franzose nicht so ernst nehmen darf, wenn man Gold schürfen will (z. B. Derrida vs. Levi-Strauss . . .).
Was mir den Zugang zu Deleuze außordentlich erschwerte, war seine ungewöhnlich heftige, von Ekel geprägte Kritik Wittgensteins im Abécédaire, welche mich lange dazu brachte, Deleuzes Philosophie als eine Alternative zu Wittgenstein zu lesen und sie mir dadurch komplett verschloss.
Weiter kommt man, finde ich, wenn man beiden denselben Vormarsch und Deluze unterstellt, dass er Wittgenstein nicht oder - wie Freud den Nietzsche - aufgehört hat zu lesen, da er zuviel Ähnlichkeit witterte.
Starke Parallelen zwischen den Denkern liegen für mich z. B. in dem unbedingten Materialismus, der Ununterscheidbarmachung von Innenwelt und Aussenwelt - dem fließenden Übergang vom Menschen zum Tier, zum Organischen und Anorganischen.
Der Unterschied - zwischen Deleuze und Wittgenstein - betrifft die Rolle des Philosophen, den Wittgenstein als beschreibend, Deleuze als schöperisch versteht. Deleuze sieht die Aufgabe des Philosophen m. a. W. darin, neue Weisen des Zusammenfassens oder Wiederholens zu erfinden, während Wittgenstein meint, solche träten ein ohne Proaktion des Philosophen, dessen Aufgabe dann darin bestehe, ihnen klärend nachzugehen. Wittgenstein ist mit anderen Worten kein Metaphysiker, was Deluze ausdrücklich für sich in Anspruch nimmt.
Imgrunde zeigen sie aber aufs selbe, nur dass Deluze meint, es erfunden zu haben, während Wittgenstein sagt, er habe es "beobachtet". Die Streitfrage dabei: ob unserere Gedanken spontan dem Gemüt oder einem intersubjektiven "Feld" entquellen. Deleuze redet in punkto auch von einer "Immanenzebene", reklamiert dieser gegenüber aber doch eine Art kartesianische Subjektivität (was, finde ich, absurd ist - aber vielleicht verstehe ich ihn auch falsch).
Interessant finde ich die von beiden Denkern nahegebrachte Einbettung des Menschen in die Materie oder "Schöpfung", die ihn auf eine Art "unsterblich" macht (wenn Materie unsterblich ist). Der Mensch ist aus dieser Sicht Episode eines dynamischen "Gebräus", welches das Universum ausmacht sowie unentwegt weiter aus- und umformt.
Es ist klar, dass der Mensch sich darin nicht halten kann, sondern wie die Dinosaurier eines Tages (wahrscheinlich sogar wieder durch einen Meteoriteneinschlag) verschwinden dürfte. Ohne dass dadurch freilich etwas zum Erliegen kommt. Dem man sich nur angeschlossen erleben muss, um Erlösung zu erfahren.
Diesen Anschluss erlebt Deleuze im "Mitmischen" als Erfinder neuer Seinsweisen, während Wittgenstein dem erstaunten Innewerden Vorrang einzuräumen scheint, welches antwortet und sich aufgehoben fühlt im Verstehen und von diesem geleiteten Handeln.

Wahrheit

Klassisch zu dem Thema ist natürlich Nietzsche (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873): "Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen."

Hat er Recht der Mann - und kann trotzdem falsch verstanden werden. Denn er beschreibt andererseits ja, wie Menschen sich verstehen, aufeinander eingehen. Sie führen eine Art Theater dabei auf. Und nehmen wir Theater nicht etwa besonders ernst? Ist nicht gerade der Schauspieler-Beruf der gesuchteste und respektierteste von allen? Was ist so attraktiv an einer Tätigkeit, die - im Bewusstsein aller Beteiligten auf und vor der Bühne - etwas aufführt?

Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen 129): „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, - weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm d i e s einmal aufgefallen ist. - Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“

Wittgenstein will damit, denke ich, andeuten, die Hauptsache, das wichtigste im Leben überhaupt, alles weitere einfärbend, ja es wesentlich ausmachend, bestehe nicht im Elementaren, also z.B. Atomen oder Nervenzellen, aus dem, was uns begegnet, zusammengesetzt ist und erklärt werden kann. Der "für uns wichtigste Aspekt" entspringt vielmehr dem Selbstverständlichen, liegt in dessen Gegenwart, ohne jedoch durch diese oder ihre Zerlegung erklärt werden zu können. Wie Form und Wuchs eines Baums nicht durch seinen Samen "erklärt" werden können. Durch ihre Selbstverständlichkeit / Alltäglichkeit vor uns verborgen sind nach Wittgenstein, nehme ich an, SPRACHE und DENKEN, diese „eigentlichen Grundlagen seiner Forschung“, die dem Menschen gar nicht auffallen. Alles, was wir wissen (Atom-, Hirnforschung, Wettervorhersagen…) kann nur begrifflich verfasst sein = kraft der Fähigkeit zu sprechen und zu denken. Die von vornherein zur Verfügung stehen muss. Sprache tritt in unterschiedlichsten Verwendungszusammenhängen in Erscheinung. In der Poesie beispielsweise. Als Tanz. Als Befehlston. Wird sie wissenschaftlich verwendet, zerlegt sie ihre Gegenstände in "Bestandteile", welche diese "erklären". Damit erklärt Sprache aber nie sich selbst. Ginge ja auch nur, wenn sie erklärungs b e d ü r f t i g  wäre = (noch) nicht imstande wäre, etwas zu erklären. Daher müssen Sprache/Denken von vornherein funktionieren. Das fällt uns - nach Wittgenstein - nicht auf, und ist doch die Grundlage von allem. Indem Sprache "unerklärlich" ist, ist es auch das Denken - und funktioniert trotz allem.

Nietzsche münzt diesen Zusammenhang als "Summe von menschlichen Relationen, die . . . nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken".

Wittgenstein dazu im Nachlass: "Wenn ich nicht ein richtigeres Denken, sondern eine neue Gedankenbewegung lehren will, so ist mein Zweck eine ‘Umwertung von Werten’ und ich komme auf Nietzsche, sowie auch dadurch, dass meiner Ansicht nach, der Philosoph ein Dichter sein sollen . . ."

Denken bleibt also, auch wenn es sich - mit der Sprache - entwickelt, eine Fiktion. In dieser liegt, spekuliere ich, sogar das Menschliche: in der Fähigkeit, wie ein Schauspieler aufs Stichwort die richtige Antwort zu liefern, mit anderen nicht nur in den Definitionen, sondern auch in den Urteilen übereinzustimmen, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen schreibt.

In seinen "Denkbewegungen" (S. 67 f.) taucht schließlich folgende Passage auf, die mich, seit ich sie las, in Träumen heimsucht: "Verstümmele einen Menschen ganz & gar schneide ihm Arme & Beine Nase & Ohren ab & dann sieh was von seinem Selbstrespekt & von seiner Würde übrig bleibt & wieweit seine Begriffe von solchen Dingen dann noch die selben sind. Wir ahnen gar nicht, wie diese Begriffe von dem Gewöhnlichen, normalen  Z u s t an d  unseres Körpers abhängen. Was wird aus ihnen wenn wir mit einem Ring durch unsere Zungen & gefesselt an einer Leine geführt werden? Wie viel bleibt dann noch von einem Menschen in ihm übrig? In welchem Zustand versinkt so ein Mensch? Wir wissen nicht, daß wir auf einem hohen schmalen Felsen stehen, & um uns Abgrunde, in denen alles ganz anders ausschaut."

Die Wahrheit geht einher mit der Unversehrtheit unseres Leibes. Die freilich eine Fiktion ist, indem dieser unentwegt zerfällt, mehr einem Straßengemälde gleicht als einem, das im Museum hängt.

Unumstößliche Wahrheiten

Für den modernen Menschen ist es im Grunde genommen egal, was wahr ist. Der Begriff der Wahrheit gilt heute als totalitär. Also kümmert sich niemand mehr um die Frage, was wahr ist. Ich habe drum während des heute ausklingenden Monats ein paar Wahrheiten zusammentragen, die ich hiermit nochmal im Überblick biete:

WAHRHEIT # 1: Während eines Fluges ist Orangensaft dem Kaffee vorzuziehen; denn besseren Kaffee gibt es auf dem Flughafen, wo Orangensaft zu teuer ist.

WAHRHEIT # 2: Verwendet man ein Synonymwörterbuch, nur um die Wiederholung desselben Wortes zu vermeiden, wiederholt man wahrscheinlich einen Gedanken. Wiederholt man keinen Gedanken, schafft die Wiederholung des Wortes mehr Klarheit.

WAHRHEIT # 3 Man kann damit anfangen, Kindern den Unterschied zwischen richtig und falsch beizubringen, nachdem sie zum ersten Mal versucht haben, sich zu kämmen.

WAHRHEIT # 4 Bei einem Mann entscheidet die Tiefe der Stimme mehr über seine Attraktivität als sein Aussehen.

WAHRHEIT # 5 Beobachtet man ein Pärchen in einem Restaurant, und die Frau nickt mehr als zu reden, dann haben sie sich gerade erst kennengelernt, oder sie sind nur Freunde oder Kollegen. Nickt der Mann mehr als die Frau, sind sie schon länger zusammen.

WAHRHEIT # 6 Schreibt man in einem Buch über Sport, stehen die Verkaufszahlen im umgekehrten Verhältnis zur Größe des bei der thematisierten Sportart verwandten Balles.

WAHRHEIT # 7 Herausfordernd an der freiwilligen Arbeit mit Kindern sind in 8 vom 10 Fällen ihre Eltern.

WAHRHEIT # 8 Vor dem Werkstattbesuch gewaschene Autos werden geflissentlicher repariert als ungewaschene.

WAHRHEIT # 9 Jene, die nicht wissen, was sie wollen, wollen schlafen.

WAHRHEIT # 10 Konservative ziehen Erdbeereis vor.

WAHRHEIT # 11 Auf die meisten Fragen, welche mit "warum" beginnen, lautet die Antwort: "Geld".

WAHRHEIT # 12 Je weiter man einen Fahrschein entfernt von der nächsten Haltestelle seines Transportmittels am Boden findet, desto höher ist sein möglicher Wert.

WAHRHEIT # 13 Kluge Menschen freuen sich mehr über das Lob ihrer Schönheit als schöne, welche die Anerkennung ihrer Klugheit vorziehen.

WAHRHEIT # 14 Weibliche Kleinkinder sind dann zu alt, um von Erziehungsberechtigen zur Verrichtung der Notdurft mitgenommen werden zu können auf öffentliche Männer-Toiletten, wenn sie groß genug wurden, um aus dem Urinal zu trinken.

WAHRHEIT # 15 Diejenigen in einem Einkaufszentrum oder Vergnügungspark verloren gegangenen Kinder erhalten die am meisten versprechende Hilfe, die gelernt haben, sich in solchen Fällen statt an einzelne Männer | Sicherheitskräfte an die nächstbeste Frau mit Kindern zu wenden.

WAHRHEIT # 16 Wenngleich 8 von 10 Menschen behaupten oder annehmen, multitaskingfähig zu sein, sind es höchstens 2 von 100.

WAHRHEIT # 17 Die Sonne verschwindet nach zwei Minuten aus dem Blickfeld, nachdem ihr unterer Rand den Horizont berührte.

WAHRHEIT # 18 Um herauszufinden, welche Worte in einem Text etwas hermachen, muss man ihn rückwärts lesen.

WAHRHEIT # 19 Es wird leichter etwas vergeben als erlaubt.

WAHRHEIT # 20 4 von 5 Männern trauen sich zu Hause mehr zu als im Beruf. Bei Frauen ist es umgekehrt.

WAHRHEIT # 21 Kinder festigen den Bund der Eltern, indem sie einen gemeinsamen Feind liefern.

WAHRHEIT # 22 Von 50 Kleidungsstücken, die sie besitzen, tragen 4 vom 5 Menschen in der Regel 10.

WAHRHEIT # 23 Man lacht nur dann, wenn man der Person, die einen kitzelt, vertraut.

WAHRHEIT # 24 In einer Beziehung liegt die Macht in den Händen des weniger Liebenden.

WAHRHEIT # 25 Damit Katzen einem nicht auf den Schoss springen, muss man den Augenkontakt mit ihnen meiden.

WAHRHEIT # 26 Wenn die Menschen so groß wie Ameisen sind, ist es Zeit, den Fallschirm zu öffnen. Sind die Ameisen so groß wie Menschen, ist es dafür zu spät.

WAHRHEIT # 27 Jedem Konflikt zugrunde liegt einer unerfüllte Erwartung.

WAHRHEIT # 28 Alte Menschen kommen sich 15 Jahre jünger vor.

WAHRHEIT # 29 In keinem guten Film ist jemals ein Heißluftballon vorgekommen.

WAHRHEIT # 30 Um dauernd erfolgreich zu bleiben, muss man in 4 Fällen 1 Schiefgehen einrechnen = 33 % Spielraum schaffen oder, was 30mal klappen muss, in der Lage sein, 40mal anzugehen.

WAHRHEIT # 31 Spielt sie mit den Haaren, ist sie angetan - widrigenfalls reibt sie die Nase.

Menschliche Würde

Verstümmele einen Menschen ganz & gar schneide ihm Arme & Beine Nase & Ohren ab & dann sieh was von seinem Selbstrespekt & von seiner Würde übrig bleibt & wieweit seine Begriffe von solchen Dingen dann noch die selben sind. Wir ahnen gar nicht, wie diese Begriffe von dem Gewöhnlichen, normalen Z u s t an d unseres Körpers abhängen. Was wird aus ihnen wenn wir mit einem Ring durch unsere Zungen & gefesselt an einer Leine geführt werden? Wie viel bleibt dann noch von einem Menschen in ihm übrig? In welchem Zustand versinkt so ein Mensch? Wir wissen nicht, daß wir auf einem hohen schmalen Felsen stehen, & um uns Abgründe, in denen alles ganz anders ausschaut. (Ludwig Wittgenstein DENKBEWEGUNGEN S. 67 f.)