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Das große Now

IRONIE beinhaltet die Umkehrung von etwas Erwartetem und wird in immer kürzeren (gegen Null tendierenden) Zeit-Spannen hergestellt. Was ich meine: Ursprünglich musste z. B. im Film eine mindestens 90-Minuten-Handlung entwickelt werden mit einer 90-Minuten-Spannung auf ein bestimmtes Ende, mit dessen Nicht|Eintreten dann gespielt wurde (Ironie der dramatischen Wendepunkte). Inzwischen scheint schon ein Satz zu lang, um ohne implizite Verkehrung auszukommen. Was immer gesagt, wird auf der Stelle ergänzt durch sein Gegenteil. Das Zusammenziehen von allem auf einen Punkt scheint mir auch die Bewegung der Technik. Jede Erfindung und deren Anwendung besteht letztlich darin, die Zeit eines Verlaufes weiter zu stauchen. Bis zum großen NOW der Buddhisten. Eine Religion, die im übrigen niemand hinterfragt. Oder?

Walking Dead

Krankheit zum Tode heißt das merkwürdigste Buche Kierkegaards. Es beginnt mit folgendem verschachtelten Abschnitt:


„Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz, eine Synthese.“


Der Stil soll, heißt es, Hegel parodieren, also witzig sein. Was aber wird - Ironie beiseite - gesagt?


Dass die menschliche Lage Aussichtslosigkeit ist, also kein Psychologe uns heilen kann, indem unsere Seele besteht im Innesein des Spannungszustands zwischen Unendlichkeit|Endlichkeit, Zeitlichkeit|Ewigkeit, Freiheit|Notwendigkeit u.ä.m.


Als ob ich kraft eben dessen existiere, was den Einklang meiner Eltern hintertreibt - an einer Strecke zwischen zwei unversöhnlichen  Orten, die ich nie erreiche: dass ich eigentlich diese Strecke b i n. Kierkegaard nennt dies Verhältnis, welches ein Seelenwesen ausmacht, wenn ich ihn recht verstehe, Verzweiflung.


Sünde, also die Verscherzung eines Lebens, bestünde dann im Abweisen der - von Gott auferlegten - Zumutung, sich verzweifelnd weder zusammenzubringen noch abtun zu können.


Nicht zu retten aber sind jene, die sich der Spannung, die sie ausmacht, gar nicht bewusst sind. Sie verfügen infolgedessen über keine Seele oder Persönlichkeit, bestehen aus "Smileys und Reposts".


Früher war das große theologische Problem der Ungläubige, heute ist es der Untote, künstlich Intelligente.


Es gibt dazu eine merkwürdig hellsichtige Stelle in Dantes Göttlicher Komödie. Die Hauptfigur hat sich verirrt und wird von ihrem Lieblingsdichter Vergil an die Hand genommen, um durch Hölle und Fegefeuer in den Himmel zu gelangen. Sie betreten die Hölle und als erstes sehen sie folgendes:


Dort hob Geächz, Geschrei und Klagen an,
Laut durch die sternenlose Luft ertönend,
So daß ich selber weinte, da’s begann.


Verschiedne Sprachen, Worte, gräßlich dröhnend,
Handschläge, Klänge heiseren Geschreis,
Die Wut, aufkreischend, und der Schmerz, erstöhnend –


Dies alles wogte tosend stets, als sei’s
Im Wirbel Sand, durch Lüfte, die zu schwärzen
Es keiner Nacht bedarf, im ew’gen Kreis.


Und, ich vom Wahn umstrickt und bang im Herzen,
Sprach: Meister, welch Geschrei, das sich erhebt?
Wer ist doch hier so ganz besiegt von Schmerzen?


Und er: "Der Klang, der durch die Lüfte bebt,
Kommt von den JammerseeIen jener Wesen,
Die ohne Schimpf und ohne Lob gelebt.


Gemischt find die Nicht-Guten und Nicht-Bösen
Den Engeln, die nicht Gott getreu im Strauß,
Auch Meutrer nicht und nur für sich gewesen.


Die Himmel trieben sie als Mißzier aus,
Und da durch sie der Sünder Stolz erstünde,
Nimmt sie nicht ein der tiefen Hölle Graus."


Ich drauf: Was füllt ihr Wehlaut diese Gründe?
Was ist das Leiden, das so hart sie drückt?
Und er: "Vernimm, was ich dir kurz verkünde.


Des Todes Hoffnung ist dem Volk entrückt.
Im blinden Leben, trüb und immer trüber,
Scheint ihrem Neid jed’ andres Los beglückt.


Sie kamen lautlos aus der Welt herüber,
Von Recht und Gnade werden sie verschmäht.
Doch still von ihnen – Schau’ und geh vorüber."


Die Stelle beschreibt jenseits von Himmel und Hölle einen Ort, wo jene sich aufhalten, die "keine Todeshoffnung" haben, indem sie "ohne Schimpf und ohne Lob" gelebt. Selbst die Hölle weiß nichts mit ihnen anzufangen und weist sie ab.

Und sind das nicht die "Walking Dead", die heimlichen Hauptfiguren jener Serie, deren Zuschauerzahlen selbst GoTs in den Schatten stellen, weil sie womöglich treffende die Welt wiedergeben, in der wir gerade leben?

Walking Dead

Krankheit zum Tode heißt das merkwürdigste Buche Kierkegaards. Es beginnt mit folgendem verschachtelten Abschnitt:


„Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz, eine Synthese.“


Der Stil soll, heißt es, Hegel parodieren, also witzig sein. Was aber wird - Ironie beiseite - gesagt?


Dass die menschliche Lage Aussichtslosigkeit ist, also kein Psychologe uns heilen kann, indem unsere Seele besteht im Innesein des Spannungszustands zwischen Unendlichkeit|Endlichkeit, Zeitlichkeit|Ewigkeit, Freiheit|Notwendigkeit u.ä.m.


Als ob ich kraft eben dessen existiere, was den Einklang meiner Eltern hintertreibt - an einer Strecke zwischen zwei unversöhnlichen  Orten, die ich nie erreiche: dass ich eigentlich diese Strecke b i n. Kierkegaard nennt dies Verhältnis, welches ein Seelenwesen ausmacht, wenn ich ihn recht verstehe, Verzweiflung.


Sünde, also die Verscherzung eines Lebens, bestünde dann im Abweisen der - von Gott auferlegten - Zumutung, sich verzweifelnd weder zusammenzubringen noch abtun zu können.


Nicht zu retten aber sind jene, die sich der Spannung, die sie ausmacht, gar nicht bewusst sind. Sie verfügen infolgedessen über keine Seele oder Persönlichkeit, bestehen aus "Smileys und Reposts".


Früher war das große theologische Problem der Ungläubige, heute ist es der Untote, künstlich Intelligente.


Es gibt dazu eine merkwürdig hellsichtige Stelle in Dantes Göttlicher Komödie. Die Hauptfigur hat sich verirrt und wird von ihrem Lieblingsdichter Vergil an die Hand genommen, um durch Hölle und Fegefeuer in den Himmel zu gelangen. Sie betreten die Hölle und als erstes sehen sie folgendes:


Dort hob Geächz, Geschrei und Klagen an,
Laut durch die sternenlose Luft ertönend,
So daß ich selber weinte, da’s begann.


Verschiedne Sprachen, Worte, gräßlich dröhnend,
Handschläge, Klänge heiseren Geschreis,
Die Wut, aufkreischend, und der Schmerz, erstöhnend –


Dies alles wogte tosend stets, als sei’s
Im Wirbel Sand, durch Lüfte, die zu schwärzen
Es keiner Nacht bedarf, im ew’gen Kreis.


Und, ich vom Wahn umstrickt und bang im Herzen,
Sprach: Meister, welch Geschrei, das sich erhebt?
Wer ist doch hier so ganz besiegt von Schmerzen?


Und er: "Der Klang, der durch die Lüfte bebt,
Kommt von den JammerseeIen jener Wesen,
Die ohne Schimpf und ohne Lob gelebt.


Gemischt find die Nicht-Guten und Nicht-Bösen
Den Engeln, die nicht Gott getreu im Strauß,
Auch Meutrer nicht und nur für sich gewesen.


Die Himmel trieben sie als Mißzier aus,
Und da durch sie der Sünder Stolz erstünde,
Nimmt sie nicht ein der tiefen Hölle Graus."


Ich drauf: Was füllt ihr Wehlaut diese Gründe?
Was ist das Leiden, das so hart sie drückt?
Und er: "Vernimm, was ich dir kurz verkünde.


Des Todes Hoffnung ist dem Volk entrückt.
Im blinden Leben, trüb und immer trüber,
Scheint ihrem Neid jed’ andres Los beglückt.


Sie kamen lautlos aus der Welt herüber,
Von Recht und Gnade werden sie verschmäht.
Doch still von ihnen – Schau’ und geh vorüber."


Die Stelle beschreibt jenseits von Himmel und Hölle einen Ort, wo jene sich aufhalten, die "keine Todeshoffnung" haben, indem sie "ohne Schimpf und ohne Lob" gelebt. Selbst die Hölle weiß nichts mit ihnen anzufangen und weist sie ab.

Und sind das nicht die "Walking Dead", die heimlichen Hauptfiguren jener Serie, deren Zuschauerzahlen selbst GoTs in den Schatten stellen, weil sie womöglich treffender jene Welt wiedergeben, in der wir seit der Aufklärung leben?

Spontaneität ist nicht alles

Wenn das Muster komplizierter und kunstvoller wird, darf man sich nicht einfach treiben lassen.

DRAMATISCHE IRONIE

 Dass ausgerechnet die besten Autoren am dringendsten vor dem Lesen warnen: Cervantes, Flaubert, Tolstoi - Dante lässt die Leser in der Hölle schmoren! Seltsam. Aber ich fange an zu verstehen, was sie meinen, wenn ich mich an eine Episode aus meiner Studentenzeit erinnere. Ich besuchte damals an Wochenenden das Land-Theater, an dem mein Vater sein Leben lang inszenierte, im Sommer was Lustiges für die Freilichtbühne, im Winter was Ernstes (meist den Urfaust) für die Minibühne neben der Kamin-Bar. Ich liebte dieses Theater noch aus der Kindheit, die hier die beste war: unserer Eltern spielten auf der Bühne, wir in den Wäldern ringsum, alle Familien lebten unter einem Dach, eigentlich eine Art Kommune, wenn auch diesem Begriff damals erst noch bevorstand, in Schwang zu geraten. Später dann auf Besuch schlief ich nach Studentenart meist bis Mittags. Und wurde Mo.-Fr. zweimal geweckt von lautem Kindergebrüll. Das war die Doppelvorstellung des Räuber Hotzenplotz auf der Freilichtbühne am Vormittag. Aber das Geschrei? Und bei jeder Vorstellung zuverlässig nach 40 Minuten? Eines morgens schleppte ich mich herunter und lauerte neben der Bühne, welche Szene das Publikum dermaßen erregte. Da kam sie. Der Räuber wendet sich an die Zuschauer und sagt: "Kinder, gleich kommen Kasperle und Seppel, und ich verstecke mich jetzt hinter diesem Busch und überfalle sie. Und wehe einer sagt was!" Gesagt, getan. Kasperle und Seppel tauchen auf. Das Publikum explodiert. Kasperle und Seppel geben sich begriffsstutzig: "Was sagt ihr da?" Die ersten Kinder eilen vor zur Bühne. Eine rotgesichtiges Mädchen klettert erregt herauf, um die beiden persönlich zu warnen. Ihr Bild hat sich mir bis heute eingeprägt: kleine Emma Bovary, rasend gemacht von den Taschenspielertricks der Erzähler. Diese wünschen sich natürlich so ein Publikum, sind dann aber doch betroffen, wenn sie es wirklich erblicken.

Deutsche Filmung jenseits des Krimis

Untersuche ich einmal unserer letzten Filmpreis-Gewinner: deren fiktiven Hauptpersonen sind fast immer Romantiker. 

Bei den Männern spielt infolgedessen die Mutter eine größere Rolle als der Vater (Jakob Simon ANDERE HEIMAT, Alexander Kerner GOOD-BYE LENIN! . . .) 

Hanna Flanders (DIE UNBERÜHRBARE) hält unverdrossen an ihrer verklärenden Sicht der Dinge fest und begeht Selbstmord, als die Realität sie (in Form eines Raucherbeines) einholt. Der Selbstmord wird weniger als zerstörerischer, denn als rebellisch-emanzipatorischer Akt gefeiert. 

Nicht unähnlich wird Alexander Kerners Mutter in GOOD-BYE LENIN! mit allen Mitteln zurückgehalten in einem Wolkenkuckucksheim, um dort selig zu sterben. 

Jakob Simon (ANDERE HEIMAT) wird gerade dadurch zum großen Gelehrten und "Kenner" der Indianersprachen, dass er sein Heimatdorf nie verlässt. Selbst die "Indianersprache", die in dem Film Jakobs Forschungsgegenstand veranschaulicht, wurde vom Drehbuchautor erfunden. (So wie Werner Herzog, der in ANDERE HEIMAT ein Cameo als Alexander von Humboldt hat, bekannterweise Teile seiner Dokumentarfilme künstlich ausstattet | inszeniert). 

Der Lehrer im WEISSEN BAND bricht auf dem Höhepunkt seine Untersuchungen zu den Ursachen der geheimnisvollen Geschehnisse ab. 

Die gefühlsbetonten Helden von ROSSINI sind nicht weniger unpraktisch als "Schneewittchen" VICTORIA und ihre sieben Zwerge. 

Hauptmann Wieseler bricht im LEBEN DER ANDEREN innerlich zusammen, als er ein romantisches Musikstück hört. 

In ROSSINI gibt es jene denkwürdige Szene, in welcher Oskar Reiter zwecks Blutbrüderschaft seinen Unterarm überschwänglich mit dem Messer anschneidet und sich dadurch schwer verletzt . . . 

Als realistischerer Filmpreis-Gewinner fällt mir auf Anhieb nur HALT AUF FREIER STRECKE ein. Dresen ist der einzige Ostdeutsche unter den zitierten Preisträgern. 

Was kann man daraus ableiten? 

Dass unser "art house main stream" westdeutsch dominiert und eskapistischer Natur ist? Wir deswegen kein BORGEN hinbekommen, weil wir ein Seelendrama daraus machen müssten?

Ich lese gerade Littells DIE WOHLGESINNTEN, einen Roman, der in Deutschland katastrophale Kritiken bekam, wobei das Feuilleton die "unstimmige Psychologie" der Hauptfigur als Hauptablehnungsgrund apostrophierte. In einer interessanten Erwiderung wies Theweleit darauf hin, dass Innigkeit | innere Unbeugsamkeit auch eine fixe Idee der Deutschen sein könnte.

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser

Wie groß ist die Seligkeit der Einschränkung, die wir doch aus allen Kräften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines glückliches Eiland in einem stürmischen Meere; wohl dem, der in ihrem Schoße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stürme. Aber wehe dem, der von unglücklicher Neugier getrieben, sich über dies dämmernde Gebirge hinauswagt, das wohltätig seinen Horizont umschränkt.
Er wird auf einer wilden stürmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle seine Reize für ihn verloren.
Eine von Antons seligsten Erinnerungen aus den frühesten Jahren seiner Kindheit ist, als seine Mutter ihn in ihren Mantel eingehüllt durch Sturm und Regen trug. Auf dem kleinen Dorfe war die Welt ihm schön, aber hinter dem blauen Berge, nach welchem er immer sehnsuchtsvoll blickte, warteten schon die Leiden auf ihn, die die Jahre seiner Kindheit vergällen sollten.

*

Vielleicht wäre auch alles im Ehestande besser gegangen, wenn Antons Mutter nicht das Unglück gehabt hätte, sich oft für beleidigt und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben und ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden, worin sie eine Art von Vergnügen fand.
Leider scheint sich diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.
Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen und ihm sein Anteil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sei der seinige, so ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er für ihn bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden und sagen zu können, alle andren haben etwas und ich nichts bekommen!
Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel stärker mußte er das wirkliche empfinden. Und gewiß ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts stärker als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten.

*

Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre die Wut, Komödien zu lesen und zu sehen. – Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war.
Es war also kein echter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: denn ihm lag mehr daran, die Szenen des Lebens in sich als außer sich darzustellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert.
Um seinetwillen wollte er die Lebensszenen spielen – sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. – Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. – Und diese Täuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt!
Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß, wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht geboren sei, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlornen Kummer hätte ihm dies erspart!
Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Qualen rächte.

*

Was ihm aber auf dem Kirchhofe den Gedanken des Todes so schrecklich machte, war die Vorstellung des Kleinen, die, sowie sie herrschend wurde, in seiner Seele eine fürchterliche Leere hervorbrachte, welche ihm zuletzt unerträglich war. – Das Kleine nahet sich dem Hinschwinden, der Vernichtung – die Idee des Kleinen ist es, welche Leiden, Leerheit und Traurigkeit hervorbringt – das Grab ist das enge Haus, der Sarg ist eine Wohnung, still, kühl und klein – Kleinheit erweckt Leerheit, Leerheit erweckt Traurigkeit – Traurigkeit ist der Vernichtung Anfang – unendliche Leere ist Vernichtung. – Reiser empfand auf dem kleinen Kirchhofe die Schrecken der Vernichtung – der Übergang vom Dasein zum Nichtsein stellte sich ihm so anschaulich und mit solcher Stärke und Gewißheit dar, daß seine ganze Existenz nur noch wie an einem Faden hing, der jeden Augenblick zu zerreißen drohte. 

*

Er wollte sich nicht zudrängen und war doch wieder nicht stark genug, es zu ertragen, wenn man ihn vernachlässigte. –

*

Endlich kam nun der Tag seines Triumphes heran, wo er auf die auffallendste Art, die nur in seiner Lage möglich war, öffentlich Ehre und Beifall einernten sollte – aber eben dies erweckte bei ihm eine ganz besondre schwermütige Empfindung – auf diesen Punkt war nun bisher alle sein Wünschen und Trachten gespannt gewesen – bis auf diesen Punkt heftete sich die Aufmerksamkeit eines großen Teils von Menschen auf ihn – und wenn nun dies vorbei wäre, so sollte das alles nachlassen, und die ganz alltäglichen Szenen des Lebens sollten dann wiederkommen. – Dieser Gedanke erweckte in Reisern sehr oft den sonderbaren, im Ernst gemeinten Wunsch, daß er am Ende seiner Rede hinfallen und sterben möchte. –

*

Diese Zurücksetzung hatte ihren guten Grund in seinem Betragen – er war unteilnehmend an allem, was außer ihm vorging, und zu jedem Geschäft, was ihn aus seiner Ideenwelt herauszog, träge und verdrossen. – Was Wunder, da er an nichts teilnahm, daß man auch wieder an ihm nicht teilnahm, sondern ihn verachtete, hintansetzte und vergaß?
Allein man erwog nicht, daß eben dies Betragen, weswegen man ihn zurücksetzte, selbst eine Folge von vorhergegangner Zurücksetzung war. – Diese Zurücksetzung, welche in einer Reihe von zufälligen Umständen gegründet war, hatte den Anfang zu seinem Betragen und nicht sein Betragen, wie man glaubte, den Anfang zur Zurücksetzung gemacht.
Möchte dies alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer und in ihren Urteilen über die Entwicklung der Charaktere junger Leute behutsamer machen, daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten, ehe sie es wagten, durch ihr Urteil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte, um ihn plötzlich umzuschaffen, weil nicht die Grundlage seines Charakters, sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen schuld war.

*

Denn wie Träume eines Fieberkranken waren freilich solche Zeitpunkte in Reisers Leben, aber sie waren doch einmal darin und hatten ihren Grund in seinen Schicksalen von seiner Kindheit an. Denn war es nicht immer Selbstverachtung, zurückgedrängtes Selbstgefühl, wodurch er in einen solchen Zustand versetzt wurde? Und wurde nicht diese Selbstverachtung durch den immerwährenden Druck von außen bei ihm bewirkt, woran freilich mehr der Zufall schuld war als die Menschen?