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DELEUZE & DIE DREIFALTIGKEIT


Wenn ich Hamann lese, Kants Freund und christlichen Gegenspieler, muss ich immer wieder auch an Deleuze denken, dessen Metaphysik auf einmal christlich schmeckt.
Haman deutet die Welt am Leitfaden Paulus' als Ausfluss Gottes, der gar nicht anders kann, als sich in dieser Weise "herabzulassen".
Bei Deleuze materialisiert sich alles Seiende aus dem so gut wie wirklichen Raum seiner Möglichkeiten, welcher - das ist Deleuze sehr wichtig - nicht wesentlich verschieden von ihm gedacht werden darf.
So wie das Dogma der Dreifaltigkeit Gottvater und dessen Herabkunft, Gottsohn, unbedingt in einem sieht.
Die Materialisierungen werden wahr - lt. Deleuze - kraft von etwas Durchgreifendem ("Intensivem"), das einer Art Feld oder nichtgegenständlicher Wölbung bzw. räumlicher "Formation" entspricht, welche die Ausdehnung in Raum und Zeit leistet.
Christen würden das heiliger Geist nennen.
Zur These, dass Frankreichs postmodernes Denken eine Weiterung der "polysemischen" Bibelauslegen des Mittelalters ist, könnte man daher diejenige gesellen, dass es sich bei Deleuze verwandt im Hinblick auf das Dogma der Dreifaltigkeit verhält.

GLAUBST DU AN GOTT?


Fast alle Leute, welche diese Frage stellen, hängen einer Art Yeti-Theorie an: dass Gläubige auf die Existenz eines Wesens bauen, das noch kein Mensch gesehen hat. Und Atheisten signalisieren dann sogar, wenn man ihnen dieses Wesen zeigen würde, "die Fußabdrücke" würden ihnen reichen, könnten sie es sich mit ihrem Unglauben nochmal überlegen.

Mir kommt die Existenz eines Yeti-Gottes wenig wahrscheinlich, irgendwie auch absurd vor. Die einzige Gottes-Vorstellung, die mir etwas sagen könnte, wäre die des Schöpfers von allem, des Seienden schlechthin. Gott wäre, solcherart gedacht, ein "lauter Nichts". Wie kann man ihn dann aber erfahren? Ich denke mal, durch Innerwerdung der Beschränktheit des Seinden: indem man sich wundert, dass es so gekommen ist, wie es kam, wo's doch auch ganz anders hätte kommen können.

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Da wir nicht wissen wann wir sterben werden, sehen wir das Leben wie einen unerschöpflichen Brunnen. Und doch geschieht alles nur wenige Male. Unsere Erlebnisse wiederholen sich nur sehr selten. Wie oft noch wirst du dich an einen Nachmittag in deiner Kindheit erinnern? Einen Nachmittag, der sich so tief in dein Wesen eingeprägt hat, das du dir dein Leben ohne ihn nicht einmal vorstellen kannst. Vielleicht wirst du dich noch vier oder fünfmal an ihn erinnern. Vielleicht nicht einmal so oft. Wie oft wirst du den Vollmond noch aufgehen sehen? Vielleicht noch zwanzig mal. Und doch ist alles unendlich.

P. Bowles HIMMEL ÜBER DER WÜSTE

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Der vollkommenste Tag der Welt
Es war gegen Ende meiner Landstreichertage, wenn man mich fragte, in welchem Jahr, welchem Monat, an welchem Nachmittag, ich wüsste keine Antwort. Ich kann nur sagen, dass es der vollkommenste Tag der Welt war, und dass ich ihn deswegen im Gedächtnis bewahrt habe, jenseits von Zeit und Wirklichkeit. Jeder Mensch hält so einen Tag in Ehren, in den er sich zurückziehen kann, wenn die Jahre verzweifelter werden. Für jeden ist es ein anderer Tag. Für manchen ist es die Erinnerung an eine Frau, oder an eine verklingende Melodie, oder an die glückstrunkene Nacht an einem Casino-Tisch im flüchtigen Wahn, das Spiel des Lebens gewonnen zu haben.

Auch gehört der vollkommenste Tag nur einen selbst. Wer einem Gesellschaft dabei leistete, wird sich nie in derselben Weise erinnern; wenn er sich überhaupt an etwas erinnert. Es ist ein Tag, der ausschließlich einem selbst gehört. So denke ich an meinen eigenen Tag. Ich erinnere mich nicht mehr meiner Begleiter, wenn ich damals überhaupt ihre Namen wusste. Ich erinnere mich nur, dass wir zu viert waren. Von all den Städten und Bahnhöfen dieser Jahre waren wir irgendwo in Kansas, im Weizen. War’s in Norton, war’s in – nein, ich glaube, es muss in Philippsburg gewesen sein. Wie wir schwärmende Herbstvögeln zusammengekommen waren, weiß ich nicht mehr. Es war ein zufälliges Treffen unter dem Wasserturm eines Verlade-Bahnsteigs an einem vollkommen verschwendeten Tag.

Die Stadt war klein genug, um uns gleichgültig zu sein. Von etwas Kleingeld hatten wir Trauben-Sprudel aus der Fabrik ebendieser Stadt gekauft. Wir tranken ihn langsam, genüsslich, und fanden es großartig, im Schatten eines Wassertanks ausgestreckt auf den unebenen Planken des Verlade-Bahnsteigs zu dösen. Ich weiß nicht, ob wir nach Osten oder Westen unterwegs waren oder von welchem Zug wir gesprungen waren, oder worauf wir warteten. Wir waren einfach da, Wandervögel, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ohne Begehr.

Wir räkelten uns in der Makellosigkeit unserer Jugend und Gesundheit, rußig vom Lokomotivenrauch, geschwärzt von der Sonne vieltausender Meilen. Wir lachten, spannten aus, und die Welt konnte auf uns warten. Die Welt kann immer auf einen warten, wenn man jung ist. Es schickte sich damals nicht, jemand zu fragen, woher er kam und wohin er wollte. Meistens wollte er nirgendwo hin, egal wie weit oder wie schnell er bis jetzt gereist war. Was ihn umtrieb, ging niemanden etwas an; er hätte ein Dieb sein können, ein Revolverheld oder einfach nur vom Pech verfolgt. In den nächsten 48 Stunden mochte er unter einen Zug fallen und sterben, oder das Gesetz wartete hinter dem Horizont auf das Ende seiner Glückssträhne.

Nein, es gab keinen Grund für irgendeinen von uns, sich zu beeilen. Es gab wichtigeres. Auf den unebenen Planken, auf denen wir palaverten und dösten, waren wir in Abrahams Schoß. Unterschwellig spürten wir, glaube ich, dass wir dem Zeitfluss entronnen waren, heimlich, unbemerkt. Es war Frühherbst, die Hitze nicht mehr drückend. Wir tranken den Sprudel - eine Flasche nach der anderen - wie Ambrosia, die Welt vergessend.

Ich war die Nacht zuvor auf einem Lokomotiven-Tender gefahren – mindestens das fällt mir ein, indem ich mich anstrenge -, und der Junge, der jetzt neben mir saß, war über das Dach des schnellen Zuges herangekrochen, um mir Gesellschaft zu leisten. Als ich ihn hinunterklettern sah, war ich vor Angst ins Schwitzen geraten. Ich war zu groß für solche Kunststücke an einem schlingernden Zug. Er war der einzige Mensch, den ich je mit solchem Schneid und solcher Wendigkeit, buchstäblich im Tanz mit dem Tode die Trittleiter eines rasenden Zuges hinaufwirbeln sah. Er war einer der vollkommensten Gleichgewichtskünstler, den ich je erblickt hatte, und ich dachte mir, er würde einen sehr guten Leichtgewichtskämpfer abgeben.

Dann war da ein Indianer, Mexikaner wäre vielleicht das bessere Wort, nur dass er wie jemand aussah, der mit Geronimo geritten sein konnte. Ein ganz und gar wildes Gesicht, das durch irgendeine genetische Laune aus der Eiszeit zu uns gekommen war. Er hätte einer von Attilas Männern oder mit den ersten Jägern über die Landbrücke nach Amerika gezogen sein können . . .

Loren Eiseley ALL THE STANGE HOURS

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Apus Gedanken kehrten zurück zu jenem längst vergangenen Sommertag: Er und seine Schwester hatten im Freien nach einem Kälbchen gesucht, und sie waren weiter gegangen, um die Eisenbahn zu sehen. Sie waren gerannt, dass sie ganz außer Atem gerieten. Wie andres damals alles ausgeschaut hatte.

Die Bäume entlang der Gleise von Asharu nach Durgapur waren inzwischen gewichen, mit dem Horizont verschmolzen. Apu sah, wie der Bahndamm sich vom fernen Dorf über die Shonadanga-Ebene ihm entgegen schlängelte. Bei der Kurve nach Nishchindipur erblickte er den Rosenapfelbaum, den er so gut kannte, und darunter stand, ihrem Zuge nachschauend, seine Schwester, bleich und traurig.

Sie hatten sie nicht mitgenommen; sie fuhren weg und ließen sie zurück. Obwohl sie jetzt schon lange tot war, fühlte sich Apu ihr nahe - an jedem Ort, an dem sie zusammen gewesen waren: am Fluss, im Bambushain oder unter dem Mangobaum. Jede Ecke ihres verfallenen alten Haus in Nishchindipur atmete ihr liebes, unsichtbares Wesen. Und jetzt würde er für immer von dort wegfahren.
Er wusste, dass niemand sonst Durga wirklich geliebt hatte, niemand, nicht einmal seine Mutter. Niemandem sonst tat es leid, dass sie zurückgelassen wurde.

Da durchzog sein Herz etwas Seltsames. Es war weder Kummer noch Einsamkeit. Er wusste nicht, was es war. Es bestand aus allem möglichen Gefühlen, so vielen Erinnerungen, die ihn durchströmten: Aturi die Hexe – die Treppe hinunter zum Fluss – der Pfad unter dem Chalta-Baum – Ranu – die Spiele, die er nachmittags spielte – die Spiele, die er mittags spielte – Potu – Durgas Gesicht und all die Dinge, nach denen sie sich sehnte, und die sie niemals bekommen hatte…

Und da stand sie immer noch und schaute.

Die Worte seines Herzens ergossen sich in Tränen, immer und immer wieder versuchte er, ihr etwas zu sagen: „Ich geh’ nicht wirklich weg, Didi… ich hab’ Dich nicht vergessen… es ist nicht so, dass ich dich verlassen will… sie nehmen mich fort von hier!“

Und das stimmte, er hatte sie nicht vergessen und würde sie nie vergessen.
Später in seinem Leben, als er den Erdball so gut kennen lernte, seinen Gürtel aus Wasser und seine Zöpfe aus Blau, als sein Körper erbebte von der Geschwindigkeit der Bewegung – wenn von einem Schiffsdeck aus die überirdische Schönheit des blauen Himmels von einem Augenblick zum nächsten neu aufleuchtete, wenn die azurnen Hänge eines weinrebenverzierten Berges in die Ferne hinter die fahle Grenze des Meer-Horizontes verschwanden, wenn der süße Sirenengesang ferner Ufer, kaum zu erkennen durch Nebelhüllen, seine Ohren erreichte wie Götterrauschen – in solchen Momenten kehrten seine Erinnerungen zurück in eine stürmische Mosunnacht, in den dunklen Raum eines alten Hauses, zum unerbittlichen Regenrommeln, als die Tochter einer armen Dorf-Familie zu ihm aufsah von ihrem Totenbett und fragte „Apu, wenn ich wieder gesund bin, zeigst du mir dann die Eisenbahn?“

Die Signale des Bahnhofs von Majherpara wurden blasser und kleiner in der Ferne; schließlich konnte er sie nicht mehr sehen.

Bibhutibhushan Bandopadhyay PATHER PANCHALI

Wittgenstein und Deleuze

ÄSTHETIK > ETHIK
Jene Philosophen, die hiezu mir das Interessanteste mitzuteilen haben, sind - via Spinoza - Wittgenstein und Deleuze, vor allem aufgrund von drei Merkmalen, die sie teilen:
1 - Zurückweisung, was die Mittel des Denken betrifft, des Übersinnlichen oder Unanschaulichen
2 - Philosophie als Wagnis - nicht Verwaltung oder Weitergabe bekannter, sondern Herausdenken abenteuerlicher, der Überlieferung widerstrebender Verbindungen
3 - Ideologielosigkeit
Ihr Abenteuer-Vormarsch des Denkens hat von vornherein etwas hauptsächlich Ästhetisches, welches hergestellt, also nicht erklärt wird (vermittels der Anführung von Ursachen oder Gründen für ästhetische Anmut).
Die klassische Philosophie von Bewusstsein oder Erkenntnis bleibt unvollständig, solange sie die Bedeutung der Anmut vernachlässigt oder missversteht. Ästhetisches, das die ganze Geschichte der Vernunft durchglimmt, entbehrt solange einer echten Theorie (welche die bestmögliche Aussprache seine Bestandteile vorgibt), wie die Philosophie noch seine Ursachen oder Bedingungen formuliert, statt sich vorbildlich den Kräften zu verdanken, welche es hervorbringen.
Sowohl Wittgenstein wie Deleuze liefern keine Philosophie der Kunst, sondern die Kunst des Philosophierens. Dieses wird von ihnen mit demselben Elan vorangetrieben wie ein Roman, ein Musikstück oder ein Gemälde und veranschaulicht auf diese Weise, worin Ästhetik besteht. (. . . ist zugl. die Bedeutung e t h i s c h e n Seins: dass eine erst kaum gewahrte, durchdringende Anschauung ausgearbeitet und zu den Formen des Lebens gestellt wird - welches allein so auch zur Liebe fähig wird. - Die künstliche Intelligenz kann nur in bestimmten Ursachen denken oder Gründen, jedoch nie anmutig werden.)

Berliner Schule vs. film noir

UNVERNUNFT wird heute schlecht gelitten: alles muss algorithmisch sein oder hat es, was dasselbe heißt, "schon mal gegeben" (Sequel-Wahn). Wo es keine Erklärungen gibt, sind diese nur noch nicht gefunden worden, können aber als noch abwesende unterstellt werden usf.

Worauf ich hinaus will, erhellt ev. durch ein Nebeneinanderhalten von Berliner Schule und Film Noir.

Die Produkte der Berliner Schule signalisieren eine tiefere Bedeutung nahe der Oberfläche, vielleicht sogar auf dieser selbst, der man inne werden kann und soll durch ruhige Betrachtung, imgrunde Nichtstun (Lauschen statt Rauschen). Die so vergegenwärtigte Welt ist sinnvoll, wenn man sich ins rechte Mustern nur findet und somit zum besseren Menschen wird. Die das nicht können oder wollen, sind Narren (deren Abwesenheit oder sogar Vernichtung die Welt zu einem besseren Ort machen würde).

Die Berliner Schule drückt in reinerer Form das Credo der Moderne aus, des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und seiner Krimis, die heute alle psychologisch sind, also eine Erklärung liefern für das Sosein der Welt und damit auch ein Rezept für deren Besserung.

Die Romane von Autoren wie Spillane oder Goodis, auf denen der film noir basiert, waren im Vergleich zu heutigen Krimis eher kurz, da sie hauptsächlich auf einem absurden Einfall beruhten mit einer rätselhaften Sogwirkung. Der Held von Nightfall z.B. soll von Bankräubern für ihre Tat hingehängt werden, erschießt draufhin einen von ihnen und türmt mit der Beute, die er aber verliert, ohne sich zu erinnen, wo. Die vertrixten Geschichten des film noir haben etwas potentiell Komisches nach dem Schema "Glauben Sie mir bitte, das ist jetzt nicht, wonach es aussieht!" Aber sie sind auf der Seite des unvernünftigen, dessen Welt reicher an Möglichkeiten ist als die seiner Gegner.

Von Deleuze her könnte man sagen, sie befinden sich näher an der Immanenzebene, sind daher stärker getrieben - dermaßen voller Verlangen, dass selbst die Homosexuellen auf Weiber abfahren

Plato DER STAAT

Gestern ging ich mit Glaukon, dem Sohne des Ariston, hinunter zum Hafen, um der Göttin zu huldigen und den Festzug anzuschauen, der zum ersten Mal stattfand.

Unsere Leute machten während diesem keinen üblen Eindruck, die Thraker jedoch konnten sich ebenfalls sehen lassen.

Nachdem wir also gebetet und lange genug zugeschaut hatten, machten wir uns auf den Weg zurück in die Stadt. Da erblickte uns Polemarchos, der Sohn des Kephalos, aus der Ferne und jagte uns seinen Sklaven hinterher: Wir möchten bitte auf ihn warten!

"Warten wir auf ihn", meinte Glaukon.

Mit Polemarchos keuchten Adeimantos, der Bruder des Glaukon, heran und Nikeratos, und noch andere, die dem Festzug gefolgt waren.

"Sokrates!" rief Polemarchos. "Gehst du schon nach Hause?"

"Erraten", erwiderte ich.

"Und wir?"

"Was soll mit euch sein?"

"Du musst uns erst noch erschlagen - oder du bleibst!"

"Vielleicht gelingt es mir ja, euch zu überzeugen, mich auch ohne Blutvergießen gehen zu lassen."

"Und wenn wir dir gar nicht erst zuhören?"

"Tja dann . . .", meinte Glaukon.

"Stellt euch vor, wir wären taub!"

"Wusstet ihr", sagte Adeimantos, "dass es heute Abend noch einen Fackellauf zu Ehren der Göttin auf Pferden geben wird?"

"Auf Pferden?" sagte ich. "Wie das denn? Reichen sie etwa die Fackeln herum, während die Pferde aneinander vorbeireiten?"

"Du sagst es", erwiderte Polemarchos. "Und danach gibt es dann noch eine Feier, bei der man gewesen sein muss! Wir essen vorher etwas, anschließend gehen wir hin. Da kann man jede Menge junger Männer treffen und sich mit ihnen unterhalten. Verpasst diese Gelegenheit ruhig."

"Ja, wenn das so ist", meinte Glaukon, "sollten wir vielleicht doch lieber bleiben."

"Sieht ganz so aus", stimmte ich ihm zu.

Mutti

Gestern sah ich mal wieder den Faust. Ich denke immer, ich kenne das Stück nicht gut genug, aber der Deutschunterricht war nicht vergebens, fast alles ist irgendwie präsent bis in einzelne Worte oder Begriffe ("Gretchenfrage" . . .).
Was mir diesmal auffiel: Goethes notorische Gutgestimtheit. Innerlich kann ihn nichts wirklich umstossen. Die Verzweiflungen seines Spiegelbildes Faust werden immer aufgewogen durch dessen Alter Ego Mephisto.
Goethe hatte bekanntermaßen nur gearbeitet, wenn es ihm leicht fiel, sonst lieber eine Pause eingelegt. Für Schillers übermenschliche Disziplin hatte er nur Kopfschütteln übrig und machte sie mittelbar verantwortlich für den frühen Tod des Freundes.
Ich hatte Goethes Gemüt lange der Tatsache zugeschrieben, dass er Hesse war. Nachdem ich neulich aber Dichtung und Wahrheit las, denke ich, seine Mutter ist die Verantwortliche. Goethe hatte eine Mutter, die ihn für den größten hielt. Ähnlich Freud. So eine Mutter garantiert ein ungebrochenes, Welt und Wahrheit zugewandtes Selbstbewusstsein.
Goethes Mutter war sehr kindlich, nicht unähnlich seiner späteren Frau, die von ihrer Schwiegermutter mit dem Term (in heutiger Sprache) "Betthase" belegt wurde.
Schopenhauer hatte dagegen eine sehr kalte Mutter, die einem älteren Ehemann verkuppelt worden war, den sie nicht liebte. Heute hätte sie nicht mehr geheiratet, wäre eine bekannte Professorin, womöglich Ministerin o. ä. geworden. Trotzdem hielt sie ihren Sohn, weil er eben von ihr war, für ein Genie. Was zumindest Schopenhausers - pessimistischer - Philosophie einen gewisse Wohlgenährtheit verlieh.
Als komplizierteste ist mir Katharina, die Mutter Johannes Keplers, in Erinnerung, eine Gastwirtstochter und Kräuterfrau, die später der Hexerei angeklagt wurde. Ihr Sohn verbrachte einen Gutteil seiner Gelehrten-Existenz damit, sie aus den hochkomplizierten Prozessen von damals zu lösen und vor dem Scheiterhaufen zu bewahren. Sein Bruder hing noch mit 40 Jahren am Schürzenband der Mutter.
Kepler hätte die schleifenartigen Bewegungen der Planeten am Himmel wohl nicht als Audruck von Ellipsenbahnen deuten können, denke ich manchmal, wenn er nicht schon sehr früh Sinn in die Vorgänge seiner schizoiden Mutter zu lesen gezwungen gewesen wäre.
Ein anderes, hochkompliziertes Mutterverhältnis beschreibt Moritz in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser, den manche für den besten deutschen Roman, besser als Wilhelm Meister, halten.
Goethe kannte Moritz, nannte ihn seinen "Bruder", aber sie waren sehr unterschiedliche Naturen. Ich spekuliere manchmal, Goethe ahnte, dass ihm die Tiefe eines Moritz abging, die nur zu haben war durch eine glücklose Kindheit.
Houllebecq - auch so ein Autor, der zehrt von der Abwesenheit der Mutter.
Die (nicht besonders originelle) These im Hintergrund meiner Überlegungen: dass sich alles Entscheidende von dem besonderen Verhältnis zur Mutter ableiten lässt bei Autoren und wohl auch Lesern. Wer eine kühle Mutter hatte, wird Anton Reiser für einen besseren Roman halten. Und es wird diesen Roman krank finden, wer eine "Goethe-Mutter" innehatte.
Der Faust ist und bleibt deswegen für mich ein rücksichtlos optimistisches Gedicht, spielt nur mit dem Horror, erlebt ihn aber nicht. Es sei denn man schnitte die Gretchen-Tragödie heraus und machte sie zu einem selbstständigen Werk. Jelinek würde das wahrscheinlich bringen, aber der fröhliche Brocken Goethe ragt gewaltig und dürfte selbst sie einschüchtern.
P. S. Der Faust ist eine Komödie, wie Dantes "Göttliche Komödie", indem er auf ein Gelingen hinausläuft.