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Werde du selbst!

Dieser Slogan hat mich stets etwas hoffnungslos gemacht. Ich wusste nie, wie ich darauf antworten konnte. Die impraktikable Forderung geht, zumindest in ihrer generellen Verwendung, zurück auf das sokratisch-platonische Verständnis des Lernens als "Wiedererinnerung" (cf. MENON). Beratung, z. B. in der Schule als Unterricht oder im therapeutischen Gespräch, wird infolgedessen verstanden als Hebammenkunst = Hilfe zur Selbstfindung: aus dem Schüler wird herausgelockt, was angeblich bereits tief in ihm liegt. Selbst zu denken heißt, das zu berühren, zu erinnern, was "immer schon in dir" steckt. Wahr ist danach nur, was wir selber machen (können). - Schauen ich mir andererseits meinen Leib an: es gibt nichts an ihm, das nicht vorher durch den Magen gegangen wäre. Meine Besonnenheit sollte dagegen keine Weiterung sein äußerer Einflüsse? Ich finde es viel weniger beunruhigend, mir vorzustellen, dass alles, was sich in meinem Gemüt befindet, durch irgendwelche sinnlichen Kanäle dort hineingelangt ist. Um mein Bewusstsein zu erweitern, müsste ich dann nicht in meinem "innersten Selbst" herumsuchen, sondern einfach nur neue Erfahrungen machen, einen neuen Sport lernen (hab' mich gerade zu einem Rückenschwimm-Kurs angemeldet!), eine weitere Sprache . . . Was gäbe meinem Selbst in dem Fall inneren Zusammenhalt: wenn es durch nichts als Erfahrung sich "aggregiert", die ja prinzipiell niemals aufhört? "Selbst" müsste dann eigentlich in dem liegen, was mich sinnlich anspricht. Viele Filmschauspieler begreifen erst bei der Uraufführung, wenn sie das ganze Werk sehen, was es mit ihrem Charakter oder dargestellten Selbst auf sich hat(te). Vorgezeichnet liegt es, wenn schon, nicht in der Figur, sondern in deren Geschichte. Ich fände es daher viel weniger verwirrend anstelle von Sei du selbst! gesagt zu bekommen: Spiel (d)eine Rolle! Oder besser noch: Lass dich ansprechen!

Moby Dick

Sollte es in den kommenden Jahren einer poetischen, kultivierten Nation gelingen, den lebenslustigen Maigöttern von damals zu ihrem Erstgeburtsrecht zu verhelfen und sie im heute selbstherrlichen Himmel, auf dem heute verlassenen Berge, wieder auf den Thron zu heben, dann wird gewiss hoch droben auf des Jupiters Olymp der grosse Pottwal über alle herrschen.
Melville MOBY DICK

Bibel-Stellen

ATHEISMUS HIN ATHEISMUS HER . . . . . . es gibt in der Bibel Texte, schafft kein anderes Buch: Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl. Es war dir mein Gebein nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren auf dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, als derselben keiner da war . . . PSALM 139 "Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn die Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Ich kann alle meine Gebeine zählen; aber sie schauen und sehen ihre Lust an mir. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. - Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen! Errette meine Seele vom Schwert, meine einsame von den Hunden! Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!" PSALM 22 Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir's, wenn du so klug bist! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne? HIOB 38 "Deshalb sage ich: Alle Sünden können den Menschen vergeben werden, selbst die Gotteslästerungen, die sie aussprechen. Wer aber den Heiligen Geist lästert, wird keine Vergebung finden. Wer etwas gegen den Menschensohn sagt, dem kann vergeben werden. Wer aber gegen den Heiligen Geist redet, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser Welt noch in der kommenden." MATTHÄUS 12 Ich habe nur gehört, der Koran sollte Texte von ähnlicher Anmut haben und seinen Reiz vor allem diesen verdanken. Gelesen habe ich sie aber noch nicht.

Psalm 22

"Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn die Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Ich kann alle meine Gebeine zählen; aber sie schauen und sehen ihre Lust an mir. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. - Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen! Errette meine Seele vom Schwert, meine einsame von den Hunden! Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!"

Psalm 139

Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl. Es war dir mein Gebein nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren auf dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, als derselben keiner da war . . .

Ästhetik

Jene Philosophen, die hiezu mir das Interessanteste mitzuteilen haben, sind - via Spinoza - Wittgenstein und Deleuze, vor allem aufgrund von drei Merkmalen, die sie teilen:
1 - Zurückweisung, was das Denken angeht, des Unzeitlichen oder Unanschaulichen
2 - Philosophie als Wagnis - nicht Verwaltung oder Weitergabe bekannter, sondern Herausdenken abenteuerlicher, der Überlieferung widerstrebender Verbindungen
3 - Ideologielosigkeit
Ihren Abenteurer-Vormarsch des Denkens durchherrscht von vornherein etwas hauptsächlich Ästhetisches, dessen Wesen im Akt des Schaffens nach- oder vorgemacht wird - und nicht erklärt durch die Anführung von Ursachen oder Gründen für ästhetische Anmut.
Die klassische Philosophie von Bewusstsein oder Erkenntnis bleibt unvollständig, solange sie die Bedeutung der Anmut als Maßstab der Lebensform vernachlässigt oder missversteht. Ästhetisches, das die ganze Geschichte der Vernunft durchglimmt, entbehrt solange einer echten Theorie (welche die bestmögliche Aussprache seine Bestandteile vorgibt), wie die Philosophie seine Ursachen oder Bedingungen formuliert, statt sich vorbildlich den Kräften zu verdanken, welche Kunstwerke hervorbringen.
Sowohl Wittgenstein wie Deleuze liefern keine Philosophie der Kunst, sondern Kunst als Philosophieren. Dieses wird von ihnen mit demselben Elan vorangetrieben wie ein Roman, ein Musikstück oder ein Gemälde und veranschaulicht so, was Ästhetik ausmacht.
Dies ist die Bedeutung  e t h i s c h e n  Seins: dass eine erst kaum zu gewahrende, durchdringende Anschauung ausgearbeitet und zu den Formen des Lebens gestellt wird, welches alleine  s o  zur Liebe fähig ist.
(Die künstliche Intelligenz kann nur in bestimmten Ursachen denken oder Gründen, jedoch nichts hervorbringen von ästhetischem Gewicht.)

DELEUZE schöpft aufsehenerregende Termini



"Zuerst gab es eine Gruppe von Begriffen", fasst etwa der Prof. Challenger die Einteilung des Seienden von Tausend Plateaus am Ende des dritten Kapitels zusammen: "der o r g a n l o s e K ö r p e r oder die destratifizierte K o n s i s t en z e b e n e; die M a t e r i e der E b e n e, das, was auf dem Körper oder der Ebene geschieht (einzelne, nicht segmentierte Mannigfaltigkeiten, die aus Intensitätskontinuen, aus Emmissionen von Partikel-Zeichen, aus Konjunktionen von Strömen bestehen); und die abstrakte M a s c h i n e oder die abstrakten M a s c h i n e n, insofern diese Körper konstruieren und die Ebene zeichnen, oder "diagrammatisieren", was geschieht (Fluchtlinien oder absolute Deteritorialisierung)."

WITTGENSTEIN drückt dasselbe mit alltäglicheren Worten aus, die er sinnbildlich verwendet, z. B in Über die Gewißheit 94-99:

"Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.

Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen.

Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden.

Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.

Wenn aber Einer sagte 'Also ist auch die Logik eine Erfahrungswissenschaft' so hätte er unrecht. Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann.

Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird."

Nochmal der Text Deleuzes: " . . . der o r g a n l o s e K ö r p e r oder die destratifizierte K o n s i s t en z e b e n e; die M a t e r i e der E b e n e, das, was auf dem Körper oder der Ebene geschieht (einzelne, nicht segmentierte Mannigfaltigkeiten, die aus Intensitätskontinuen, aus Emmissionen von Partikel-Zeichen, aus Konjunktionen von Strömen bestehen; und die abstrakte M a s c h i n e oder die abstrakten M a s c h i n e n, insofern diese Körper konstruieren und die Ebene zeichnen, oder "diagrammatisieren", was geschieht (Fluchtlinien oder absolute Deteritorialisierung)."

Übersetzt in Sinnbilder:

organloser Körper = Fluss
destratifizierte Konsistenzebene = Fliessen
Materie der Ebene oder nichtsegmentierte Mannigfaltigkeit = Wasser
abstrakte Maschine = Flußbett (Regel)

In "Wittgensteinisch" dürfte Prof. Challenger daher sagen: "Zuerst gab es eine Gruppe von Metaphern: den Fluss oder sein Fliessen, das Wasser sowie das Flussbett, insofern es Flüsse bildet und von diesen geformt wird."
Klingt weniger bombastisch, obwohl mir inhaltlich nichts abzugehen, eher klarer zu werden scheint.

Der organlose Körper

Ich lese gerade etwas in Deleuzes dickem Buch, das er mit Felix Guattari verfasst hat, an irgendwelchen Stellen und wild durcheinanander, wie die Autoren einem nahelegen. Dabei stoplerte ich immer wieder über den Begriff des "organlosen Körpers".

Wenn ich mir bildlich vorstelle, was damit gemeint sein könnte, fällt mir eine Tafel ein, wie sie z. B. in meinem HFF-Lieblings-Seminarraum 8 hängt. Sie heischt irgendwie nach Buchstaben auf sich, Zeichnungen usf., zugleich danach, dieselben wieder auszuwischen. Der Schwamm gehört zur Tafel wie der Schreibstift; ohne den einen wie den anderen wäre sie witzlos.

Erhellend kann man auch Wittgensteins unter 4.0312 versteckte Zentralaussage der Logisch-Philosophischen Abhandlung hinzuziehen: "Mein Grundgedanke ist, daß die 'logischen Konstanten' nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt." - womit, denke ich gesagt sein soll, dass die Tafel, um Text zu ermöglichen, selber keiner sein kann.

Das Bild von "Text" auf der "Tafel" führt ein bißchen in die Irre, da die Buchstaben oder Zeichen "Dinge" veranschaulichen sollen. Die Welt existiert, tritt in Erscheinung, weil "organlose Körper" angeregt oder "verstört" werden. So wie Muster oder Wirbel entstehen, wenn man seine Hand in fliessendes Wasser hält.

Ich denke, dass Deleuze und sein Schreibpartner in dieser Weise erklären möchten, wie die Welt sich ereignet: kosmische Potentiale oder Energiefelder|-flüsse (nicht unähnlich dem "Dionysischen" bei Nietzsche) werden aufgestört und bilden materielle Erscheinungen, die nicht notwenig sind und stets in andere Zustände übergehen können oder möchten.

Tumore wären, so gesehn, nichts Unnatürliches, sondern ein Freisein des organlosen Körpers. Andere Möglichkeiten, in den Genuß des Hauptstrom zu kommen, bestehen darin, unseren zufälligen Leib auszublenden, z. B. durch den Gebrauch von Drogen oder masochistische Verfahren, zu denen unter anderem die Magesucht zählt.

Deleuze wie Wittgenstein sind bekennende Schüler Gottlob Freges, dessen Philosophieren das Psychologische gegenstandslos macht - läuft daraus hinaus, dass, wenn wir denken oder handeln oder wahrnehmen, nicht "wir" denken oder handeln oder wahnehmen, sondern "etwas" Sinnvolles uns in diesem Momente einnimmt, das unpersönlich ist. Bei Wittgenstein heißt dieses "etwas" zunächst Logik, später Lebensform - bei Deleuze u. a. "organloser Körper", man könnte es auch "Begehren" nennen: der pausenlose Wunsch, Verbindungen einzugehen sowie sich aus diesen wieder zu befreien.

Während Deleuze den "organlosen Körper" favorisiert, hält Wittgenstein sich mehr bei der akuten "Lage der Organe" auf. Er wundert sich darüber, wieso die Welt, die tausenderlei andere Formen annehmen konnte, gerade die heutige hat und hält das für bedeutend. Deleuze ist in diesem Punkte, denke ich, eher bei Nietzsche und dessen Vorstellung der "ewigen Wiederkehr": die Welt nimmt sich so aus wie heute, weil sich alles wiederholt, sie also bereits unendlich viele Male so gewesen ist.

Deutsche oder französische Philosophie


Zu Deleuzes und Guattaris 1000 Plateaus fällt mir Hesses Glasperlenspiel ein als Kritik des philosophischen Tuns schlechthin.
Je länger ich mich mit Philosophie beschäftigte, desto mehr leuchtet mir der Aphorismus Davilas ein, Philosophie sei ein Genre der Literatur. Empören kann dieses Verdikt nur jene, welche die Literatur geringschätzen. Was leistet sie, was ist ihr Zweck? Literatur stiftet Theorien, die bedeutend, nicht wahr sein müssen. Sie zieht sich zusammen in der Philosophie, welche sich erneut zusammenzieht in den Wissenschaften: der Erweisung sowie Anwendung von wahren und dem Verwerfen widerlegter Theorien.
Wittgenstein ist kein Philosoph, sondern ein Meta-Philosoph: er betrachtet die Formung und das Schicksal von "Literaturen", darunter Philosophien und deren Übergänge sowie Verhältnisse zu den Wissenschaften. Diese Meta-Philosophie hat keine eigenen Inhalte, ist kein Schiedsgericht, sondern ermöglicht eine Palette oder Übersicht u. a. des philosophischen Angebotes, dem keine Grenzen gezogen werden.
Deleuzes und Guattaris "Literatur" favorisiert die Nomaden. Wenn sie eine Pflanze bemühen, was Philosophen öfters tun, um ihren Vormarsch zu versinnbildlichen, ziehen sie das Gestrüpp dem Baume vor, der das Denken der deutschen Rundumerklärung überkront.
Die Deutschen brauchten eine ordentlichere Philosophie, weil ihnen das Chaos mehr eingeschrieben ist als anderen Völkern infolge einer geographisch herausfordernderen Lage sowie mehr wechselhaften Wetters. Vergleicht man Europa mit eine Wohnung, leben die Deutschen auf dem Flur. Kein anderes Land dieser Welt von ähnlicher Größe hat mehr Nachbarn, mehr Durchgangsverkehr, ist auch rein genetisch vielfältiger zusammengesetzt - steht näher am Nervenzusammenbruch - als die Deutschen.
Das ungesunde deutsche Wetter hat lange das Entstehen robuster Regierungsformen hintertrieben. Nicht wenige deutsche Kaiser starben im Kindbett, während vergleichsweise in Frankreich stabile Dynastien heranwuchsen und den französischen Staat auf festere Beine stellten. In Deutschland gibt es noch nicht mal eine nennenswerte Aristokratie.
Wer als Franzose dem Sein etwas hinzudichten möchte, das ihm nicht eingeboren ist, wird daher immer auf der Hut nach etwas Unordentlichem sein, umgekehrt in Deutschland, wo die Erfahrung und das Talent leben, dem Chaos zu begegnen.
Man könnte andererseits finden: Wenn sich die Deutschen auf etwas besinnen, das ihnen vertraut ist, dann das Chaos, weswegen ihrem Geist auch Romantik entsprang, die Aufklärung aber dem französischen, dessen gründliche Verstandesmäßigkeit auch einen Deleuze oder Guattari befängt, indem sie bei allem Nomadentum auf einer rationalen Basis - des dialektischen Materialismus - beharren.

FOUCAULT - DERRIDA - DELEUZE . . .

. . . gaben aus Frankreich einen philosophisch Ton an, der bis heute nachwirkt, weswegen ich sie hier nochmal kurz zusammenfasse:

LACAN ortet im Unter|Bewußtsein keine Erlebnisse, sondern Deutungen.

FOUCAULT steckt jede Epoche der abendländischen Geschichte ab als Bewußtseins- oder Wissensblase, die bestimmte Dinge auf Kosten anderer sicht- und aussprechbar macht.

DERRIDA baut vor allem Widersprüche ab, welche das westliche Denken ermöglichen, indem sie einer Seite mehr Rechte vor ihren Gegenteil einräumen.

DELEUZE geht es um die Entstehung von Formen, welche sich aus einem so gut wie wirklichen Spannungsfeld verkörpern als "bunte Mischung" in unterschiedlichen Schichten, dort weiter entfalten und verschieben.

 BAUDRILLARD bespricht das "Erbe der Wikinger": das kriegerische Ich, welches seine Vorstellungen oder deren Ermöglichung jenem vorzieht, das sie wahr machen oder widerlegen könnte.

BADIOU bestimmt die Menschenseele als Treue zu wahren Ereignissen - in Wissenschaft, Kunst oder Liebe.

Wild

Der Film von Nicolette Krebitz erinnert mich an einige der verwegendsten Thesen, die Deleuze mit seinem Freund Guattari in Tausend Plateaus entspinnt.

Deleuze hat seine Wurzeln weniger in der Philosophie als in den Wissenschaften, vor allem in der Chaos|Katastrophen-Theorie um René Tom, deren Lehre über die Beständigkeit von Gliederungen und Formen-Entstehung Deleuze zum Schöpfen seiner an Rudolf Steiner gemahnende Metaphysik verwendet.

Sämtliche Formen sieht er danach angelegt in einem so gut wie wirklichen "Feld der Stimmigkeit", aus dessen Bedingungen oder Beständen sich die wahrnehmbare Welt unentwegt materialisiert. Die "Atome" dieses Feldes sind mannigfache Verhältnisse von Zeichen, Dingen, Wesen, die schlechthin möglich sind. Durchwaltet werden sie von unterschiedlichen Richtungen, bedeutenden Spannungen, sog. "Körpern ohne Organe".

Diese schlagen sich stofflich nieder in drei Schichten: der irdischen, der lebenden und der menschenähnlichen, die ihrerseits zerfällt in unwillkürliche und absichtliche Verhältnisse, welch letztere (nicht unähnlich Foucaults Epochen) geschichtlich aufeinander folgen in fünf sog. "Zeichen-Regimen" mit jeweils eigenen Möglichkeiten.

Jetzt zu WILD - denn gemäß Deleuzes Metaphysik können Bestandteile vor allem der menschenähnlichen Schichtung sich aus ihrer Niederkunft lösen, um in "Fluchtlinien" - durchs Feld der Stimmigkeit - anderswo anzudocken und so überraschende wie originelle Beziehungen einzugehen. Solcherart "fliegt" etwa der Schamane eine Verbindung an, die sein "Adler-" oder eben "Wolfwerden" beinhaltet.

Vor allem das Ende von WILD hat mich erinnert, was das bedeuten könnte.

Die Quelle der Bedeutung

Was ich nur bei Ludwig Wittgenstein finde, ist der originelle Vorschlag, als Quelle der Bedeutung, also von Begriffsbildung und Denken, ein zwischenmenschliches Handeln zu sehen. Wittgenstein tauft diese Keimzelle "Sprachspiel".

Eine der ungewöhnlichsten, kühnsten und fruchtbarsten Findungen in der Philosophie seit ihren Anfängen!

Gemeint ist damit jene spontane Antwort von Lebewesen aufeinander, die sich wiederholen lässt. Wenn ich z. B. mit meinem Finger auf etwas zeige, schaut eine Katze nicht weiter hin, der Hund auf Fingerspitze, ein Mensch in die Richtung, in welche der Finger zeigt.

Denken entsteht und lebt für Wittgenstein in einer bestimmten Weise von Menschen, aufeinander zu antworten, die sich ausbauen, auch abändern lässt, ihre Bedeutung aber immer dem mit vorgestellten "Dabeisein" verdankt.

(Wittgenstein war neben Sokrates der einzige Philosoph, der als Soldat im Krieg gekämpft hatte. Es könnte sein, dass sein "Bedeutung = Zusammenspiel"-Befund den Ursprung in dieser Erfahrung hat.)

Die Verstandestätigkeit entspringt demzufolge nicht dem Bemühen, jene von allen Philosophen vor und leider auch nach Wittgenstein unterstellte Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden. In seinen Philosophischen Untersuchungen macht Wittgenstein mit etwas den Anfang, das sich bis dahin niemand als Startpunkt vorstellen konnte, und es fällt, wenn man es zum ersten Mal liest, schwer, Verständnis für etwas so offensichtlich Vielfältiges zu entwickeln wie das "Sprachspiel" als den aller Bewusstheit zugrundeliegenden, ja diese recht eigentlich ausmachenden "Truppenteil".

Dennoch könnte sich Wittgensteins Genie immer noch durchsetzen kraft dieses Erkennens: der mehrfachen Wechselbeziehung - von Menschen, Umgebung und Sprache - als Ur-Einheit von Denken und Bedeutung.

Damit erfüllt Wittgenstein den Philosophentraum, endlich hinauszukommen über das Subjekt-Objekt-Schema als Startpunkt des Denkens, ohne ungenau werden zu müssen. Wie es möglich sein könnte, Bedeutung schlechthin zu besichtigen, noch bevor der einzelne Mensch kraft ihrer die Welt objektiv macht, war vor Wittgenstein niemandem eingefallen.

(Wittgenstein ist der immanenteste alle Philosophen, immanenter noch als Deleuze, für welchen beispielsweise die Bedeutung noch einem latenten "Feld" entspringt, das die Möglichkeiten jedweder Materialisierung in sich tragen soll. Für Wittgenstein sind solche "Gottesvorstellungen" bereits Weiterungen der grundlegenderen Weise von Menschen, einander anzusprechen und sich in Geschichten zu finden.)

Es gibt für Wittgenstein nichts Tieferes als das Anspringen der Menschen aufeinander, alles weitere lässt sich darauf zurück führen oder ist ihm entwachsen (also z. B. auch die Naturwissenschaften oder das menschliche Ich, welches es urtümlich nicht gibt usf.)

Was mir persönlich an Wittgenstein mehr als an anderen Philosophen behagt, ist die große Freiheit, welche sein Vormarsch empfiehlt. Denn die "Sprachspiele" liegen nicht notwendig in einem Archiv, um abgerufen werden zu müssen, wenngleich man sie archivieren kann und sich häufig archivierter bedient, sondern es ist möglich, unentwegt neue zu erfinden, die dann nicht Aktualisierungen latenter Schemata sind, sondern das Sein spontan vermehren.

"Wenn ich nicht ein richtigeres Denken, sondern eine neue Gedankenbewegung lehren will", schreibt Wittgenstein in seinem Nachlass, "so ist mein Zweck eine ‘Umwertung von Werten’ und ich komme auf Nietzsche, sowie auch dadurch, dass meiner Ansicht nach, der Philosoph ein Dichter", also Deuter und Schöpfer von Sprachspielen "sein sollen".

(Es stellt sich damit im übrigen auch das Fremdwort "Nihilismus" als Wahrzeichen eines Scheinauswuchses heraus, denn Abwesenheit von Bedeutung wäre nur vorstellbar in Abwesenheit von Bewußtsein, dessen Wesen - bestehend im Aufeinanderantworten - an sich moralisch ist.)