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Warum ich schließlich Wittgenstein vorziehe

Ich blicke mal wieder zurück auf ein Encounter mit meiner Zahnärztin, welches zur Folge hatte, dass des mir in Mund und Kopf weniger weh tut.

Nun denke ich nach, was die post|moderne Philosophie mir über Zahnschmerzen zu sagen hätte. Letztlich bringt sie es dahin, dass nie sicher sein kann, ob ich überhaupt welche habe.

Interessanterweise setzt sich Wittgenstein - für uns alle - sehr tiefschürfend auseinander mit "Zahnschmerzen", deren Wesen, und kommt schließlich zu der Lösung, ihr Inhalt bestehe - logisch unerbittlich - darin, dass meine Zahnärztin mir hilft. Verallgemeinert: alle seelischen Erscheinungen sind zwischenmenschliche Funktionen, haben also keine Bedeutung ohne m|ein Gegenüber.

Das ist das Wesen des Sprachspiels als Quelle jeglicher Begrifflichkeit = es gehören immer mindestens zwei dazu, damit Bedeutung statthat. Es gibt auf der Welt keinen Philosophen, der neulich etwas Originelleres zustandegedacht hat. Denn Ethik stellt sich gewissermaßen heraus als Quelle jeglicher Begriffsschöpfung.

(Auch das Träumen ist demnach nichts Persönliches, sondern besteht darin, dass man sich seine Träume erzählt.)

FAILED MUSICALS

  • Found Nemo
  • The Loin King 
  • The Undergraduate
  • Mr. Saigon
  • Fiddler in the Hood
  • Pants Him At The Opera
  • Oklahomo
  • My Fat Lady 
  • Rocky Horror Podcast Show
  • Singing in the Snowstorm

WARUM DER GESELLSCHAFTLICHE ABSTIEG ENTSTIGMATISIERT GEHÖRT oder FRAUEN MIT KÖPFCHEN: HEIRATET MEHR DUMME MÄNNER!



Die erstaunlichsten Funde ergaben, wie ich gestern in Largos "Das passende Leben" (Frankfurt 2017 S. Fischer) nachlas, die Zürcher Longitudinalstudien über die kindliche Entwicklung.

Sie wurden 1954 von Andrea Prader und Guido Fanconi initiiert. In diesen Studien wurden seit 1954 bei mehr als siebenhundert Kindern die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter untersucht. Mitte der 1970er Jahre übernahm Remo H. Largo die Leitung der Studien.

Die Zürcher Longitudinalstudien haben eine grosse internationale Ausstrahlung und gehören zu den umfassendsten Studien über die kindliche Entwicklung.

Hier die 2 Ergebnisse, welche mich am meisten verblüfften.

1) Kinder sind einem Elternteil mehr fremd als verwandt, ähneln ihm zu höchsten 25 - in der Regel nur um die 15-20%

2) Bei der Vererbung von Anlagen verfängt die "Regression zur Mitte" = große Eltern erzeugen Kinder, die kleiner, und kleine Eltern Kinder die größer sind als sie - dasselbe gilt für die Intelligenz.

Es werden mit anderen Worte zwei "dumme" Eltern immer Kinder mit einem IQ zeugen, der über dem ihren liegt - und umgekehrt.

Der zweite Fall führt zu schweren seelischen und gesellschaftlichen Verwerfungen.

Aus folgendem Grund:

Ein Mann und seine Frau steigen gesellschaftlich umso leichter auf, je intelligenter sie sind. Sie haben aber - kraft der Regression zur Mitte - auf jeden Fall weniger intelligente Kinder. Für solche wird die Schule zum Martyrium, und sie werden, falls sie diese schaffen dank endloser Nachhilfestunden und Sonderinternaten, doch niemals das Selbstbewußtsein ihrer Eltern entwickeln.

Soviel zum seelischen Schaden.

Der gesellschaftliche geschieht durch das Einpflegen solch innerlich gebrochener Existenzen in irgendwelche Führungspostionen durch die Machtmittel ihrer Eltern.

Von da aus richten sie dann schweren wirtschaftlichen Schaden an und blockieren Fühungspositionen für die per Voreinstellung intelligentern Kinder weniger mächtiger Eltern.

Der gesellschaftliche Schaden - immerns!

Schon Plato empfahl dagegen im Staat die "Lüge des Sokrates" - so:

"Ihr seid alle Brüder", soll den Menschen erzählt werden, "den geborenen Herrschern unter euch aber ist wertvolles Gold beigemischt, den Kadern Silber, den übrigen Eisen und Erz. Meist werdet ihr euch ähnliche Kinder erzeugen, manchmal aber auch aus Gold einen silbernen Nachkommen, aus Silber einen eisernen und so fort. Immer sollen deswegen die Herrscher auf ihre Nachkommen achten: falls einer eisenhaltig ward, gehört er unters Volk. Wird aus dessen Mitte aber ein gold- oder silberhaltiger geboren, gehört er unter die Kader oder Herrscher." Denn es sei wissenschaftlich erwiesen, dass ein Gemeinwesen untergehe, wenn sich Eisen und Erz seiner bemächtigen. - Wird irgendjemand diese Lüge glauben?

Wie die Zürcher Longitudinalstudien beweisen, irrt Plato mit "Meist werdet ihr euch ähnliche Kinder erzeugen" - heißen müsste es vielmehr "Meist werdet ihr euch unähnliche Kinder erzeugen . . ." Der Rest - verfängt!

Was es noch sehr schwer macht, der hiermit beschriebenen Herausforderug beizukommen, ist die Stigmatisierung des gesellschaftlichen Abstiegs. Es darf eben für eine Akademikerfamilie keinen Gesichtsverlust mehr bedeuten, wenn die Tochter Friseuse oder der Sohn Bademeister wird. Ausschlaggebend für beider und infolge unser aller Glück ist, in welchem Beruf sie sich am sichersten fühlen. (In Betroluccis Der Letzte Kaiser wird die Hauptfigur schließlich zufrieden als Gärtner.)

P. S. Fatal ist infolgedessen die Tendenz der auftrebenden Frauen, nur Partner attraktiv zu finden, welche intelligenter sind als sie selber - weil solchen Verbindungen, wenn sie denn zustande kommen, mit großer Sicherheit Kinder entspringen werden, welche beide Eltern enttäuschen. Besser wäre, den dümmeren Lebenspartner, den manche kluge Frau sich "aus Not" dann doch gewählt hat, als die Chance zu erkennen, klügere Kinder zur Welt zu setzen. Denn indem der "Notendurchschnitt" der Eltern sinkt, erhöht sich jener der Kinder.

Wittgensteins Programm

 

WITTGENSTEINS ANLIEGEN


Ludwig Wittgenstein ist der bedeutendste Philosoph der Neuzeit. Ihm ist an der Überwindung der auf Plato und Aristoteles zurückgehenden und das philosophische Denken der letzten 2.000 Jahre prägenden Vorstellung gelegen, dass wir als Menschen einer Außenwelt gegenüberstehen, welcher wir uns durch „Werkzeuge“ des Denkens bemächtigen.

Eine die Welt und ihre Verhältnisse planende Philosophie, die berechnet und begründet, ersetzt Wittgenstein durch die Besinnung auf Bedeutung. Denn Wissen kann bei näherer Betrachtung nicht den Urgrund bilden für menschliches Streben und Innesein. Wittgenstein weist auf, wie das Denken nicht etwa vermittelt zwischen Menschen und dem, was sie umgibt, sondern vielmehr einem Sein oder Feld entspringt, in dem Rede und Welt beheimatet sind und in einem innigen Verhältnis zueinander stehen – nicht wie eine Karte zu ihrem Gebiet oder ein Bild zu dem, was es wiedergibt, sondern wie ein Hammer zum Nagel oder ein Kunstwerk zu seinem Betrachter.

Menschen können die Welt zwar reflektieren, bewältigen, doch „inbegriffen“ oder in ihr zu Hause sind sie nicht durch Vorsicht oder die Bilder, welche sie sich von ihr machen. Das vergegenwärtigende Denken untermauert – nichts. Seine Ideengebäude kommen ständig in Not und außer Mode. Dass sie an sich bedeutungsleer sind, wird nur nicht genügend nachvollzogen, solange anstelle von ohnmächtig gewordenen Formeln noch deren Abwesenheit – als „Nihilismus“ – regiert.

Wittgenstein liegt daran, diese Abwesenheit verschwinden zu lassen, weil in ihr der Irrtum weiterlebt, die Welt müsse alles in allem vorstellbar sein. Nihilismus wird witzlos, sobald sich zeigt, dass er durch die Abwesenheit von Falschgeld charakterisiert wird. Wittgenstein lenkt unsere Aufmerksamkeit stattdessen auf den Umlauf der wahren Währung dank jener uns alles reichenden „Lichtung“, die Rede und Welt einbindet und von ihm ausgemacht wird in den Regelmäßigkeiten und Possen des gewöhnlichen Lebens.


DIE ILLUSION DES FORTSCHRITTS


Wittgenstein will die herkömmliche Philosophie des Seienden und seiner Berechnung ersetzen durch eine Philosophie spontaner Bedeutung und Besinnlichkeit.

Die Philosophie der Berechnung entspringt der Auffassung, der Mensch stehe der Welt gegenüber und bediene sich ihrer Vorstellung, um die Verhältnisse zu deuten und handzuhaben. Wittgenstein weist nach, dass unser Sein in der Welt nicht auf ihrer Vergegenwärtigung beruht, welche nur Abkömmling ist von etwas Durchgreifenderem, Bedeutenderem, das Menschen und Welt zusammenfasst und unverfälscht erscheint in Gepflogenheiten und Sprache.

Keineswegs bestritten wird die Welt als Vorstellung, nur gelangen wir infolge solcher Vergegenwärtigung nicht zu dem, was Menschen und Sein wesenhaft ausmacht. Dieser Irrtum wachse seit der Renaissance, meint Wittgenstein, mit dem Gebäude der Wissenschaften, welche gegenstandslose Verfahren und Instrumente entwickelten, um die Welt zu deuten. „Der ganzen modernen Weltanschauung“, schreibt er in der Logisch-philosophischen Abhandlung (auch bekannt als Tractatus), „liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien“ (6.371).

Was die Naturgesetzte erklären, ist nicht sehr umfangreich. Wohl liefern sie wirksame Mittel, aber keinen Zweck. „So bleiben sie bei den Naturgesetzen als bei etwas Unantastbarem stehen, wie die älteren bei Gott und dem Schicksal“, heißt es kritisch in der Logisch-philosophischen Abhandlung. „Und sie haben ja beide Recht [sic!], und Unrecht [sic!]. Die Alten sind allerdings insofern klarer, als sie einen klaren Abschluss anerkennen, während es bei dem neuen System scheinen soll, als sei alles erklärt“ (6.371).

Die Magie der Primitiven reklamiert nicht – wie unsere die Welt vergegenwärtigenden Wissenschaften – die Erklärungsmacht für alles, was es gibt und geben wird. Der Glaube an die Allmacht der Naturgesetze, das Organon der Wissenschaften, ist so stark, dass er als absolut sicher gilt: Ihre Handhabung verbessert das Leben der Menschheit. „Unsere Zivilisation ist durch das Wort ‚Fortschritt‘ charakterisiert“, beklagt Wittgenstein in diesem Kontext in seinen Vermischten Bemerkungen. „Der Fortschritt ist ihre Form, nicht eine ihrer Eigenschaften, dass sie fortschreitet. Sie ist typisch aufbauend. Ihre Tätigkeit ist es, ein immer komplizierteres Gebilde zu konstruieren. Und auch die Klarheit dient doch immer nur dem Zweck und ist nicht Selbstzweck. Mir dagegen ist die Klarheit, die Durchsichtigkeit, Selbstzweck. Es interessiert mich nicht, ein Gebäude aufzuführen, sondern die Grundlage aller möglichen Gebäude durchsichtig vor mit zu haben. Mein Ziel ist also ein anderes als das der Wissenschaftler & meine Denkbewegung von der ihrigen verschieden.“

Wenn sich der Witz der Welt erschöpft in der wissenschaftlich-physischen Vergegenwärtigung ihrer Handhabungsmöglichkeiten, dann werden auch die Menschen zu nichts anderem als „Kräften“, die man ausbeuten, „Dingen“, die man bewältigen kann. Außerdem bleibt unter der Herrschaft des Fortschritts die Gegenwart grundsätzlich zurück hinter einer vorgestellten Zukunft, welche die grausamsten Opfer rechtfertigt.

Wissenschaft und Fortschritt schieben die Bedeutungs- oder Sinn-Fragen der Menschheit, die immer hier und jetzt existieren, prinzipiell auf. „Ich könnte sagen“, schreibt Wittgenstein in den Vermischten Bemerkungen, „wenn der Ort, zu dem ich gelangen will, nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, gäbe ich es auf, dahin zu gelangen. Denn dort, wo ich wirklich hin muss, dort muss ich eigentlich schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht.“

Die Leiter steht für Planung und Wissenschaft. Darüber hinaus bezieht sich Wittgenstein hier auf den Hintergrund oder das Feld, welches alles bereits einbinden muss, damit Bedeutung überhaupt stattfindet. Die Techniken der Wissenschaft sind einer von zahllosen Abkömmlingen dieses Grundes, welcher das Vergegenwärtigen ermöglicht, durch dessen Früchte jedoch zugedeckt zu werden droht.

Denn die Technik steht nicht nur zu Gebote, sondern wirkt zugleich stilbildend – in einem Maß, das wir Menschen bald oder vielleicht sogar heute schon nicht mehr außerhalb eines Zusammenhangs zu leben verstehen, der die Kräfte der Technik ebenso unverrückbar einbindet wie uns selbst. Unabhängig von Wissenschaft und Planung verfügten wir über keine Existenz und deswegen auch über keinen Halt mehr, um die modernen Verhältnisse, welche sich als Ganzes bewegen, noch zu beeinflussen.

Dass sie sich in eine vorteilhafte Richtung bewegen, in die wir sie sogar lenken, ist für Wittgenstein das fromme Wunschbild des Fortschritts. Sein Philosophieren bezweckt, den akuten Verläufen durch die Kritik ihrer inneren Voraussetzungen das Alleinrecht an Sein und Welt der Menschen zu entziehen, damit diese wieder zum pulsenden Ursprung ihres ganzen Lebens zurückgelangen.


WOVON MAN NICHT SPRECHEN KANN, DARÜBER MUSS MAN SCHWEIGEN …


So lautet der notorische Schlusssatz der Logisch-philosophischen Abhandlung – Wittgenstein bezieht sich damit auf Ethik, Ästhetik und Logik: Sinnvolle Aussagen lassen sich nur über die Welt treffen, nicht jedoch über das, was diese erschafft oder was in ihrem Kontext nahegelegt wird.

„Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich“, schreibt Wittgenstein in seinen Vermischten Bemerkungen. „Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefasst. Nur das Übernatürliche kann das Übernatürliche ausdrücken.“

Seinen Tractatus hat er geschrieben, um dieses Übernatürliche negativ zu bestimmen: Es umfasst alles, was insofern eine Rolle spielt, als es im Tractatus nicht vorkommen kann. „Lass nur die Natur sprechen & über die Natur kenne nur ein höheres [sic!], aber nicht, was die anderen denken könnten.“

Die Absicht oder Strategie des Tractatus lässt sich besser nachvollziehen, wenn man sich ein existenzielles Feld vorstellt, das zwischen den Polen VERGEGENWÄRTIGUNG, SOLLEN und ANMUT angesiedelt ist; die Sprache aber beschränkt sich auf den Bereich der VERGEGENWÄRTIGUNG und kann daher weder Ethisches noch Ästhetisches betreffen.

Das gilt zumindest im Hinblick darauf, was Wittgenstein im Tractatus noch als „Sprache“ gelten lässt. Denn sein Tractatus kann gelesen werden als Parodie des wissenschaftlichen Weltbilds, dessen Zurückstufung seine Philosophie im Ganzen leisten soll. Der Tractatus kennt daher nur die logisch-wissenschaftliche „Sprache“ der Vergegenwärtigung. Wittgenstein verleiht dem Begriff „Sprache“ später eine viel umfassendere Bedeutung, als es noch im Tractatus der Fall ist. Trotzdem ist es hilfreich, den im Tractatus postulierten Sprachbegriff nachzuvollziehen, da er anschaulich macht, was uns heute bestimmt und, wie Wittgenstein findet, zu entkernen droht.

Unter „Sprache“ wird (im Tractatus) ausschließlich die Abbildung der Wirklichkeit verstanden: Die Sprachbestandteile sind den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, nicht willkürlich zugeordnet, sondern weisen Bildern gleich dieselbe innere Ordnung auf wie das, was sie vergegenwärtigen – kraft derer sie es abbilden.

Das Sprachverständnis des Tractatus ist immanent, indem es auf Strukturen fußt, die sich in der Materie wiederholen.

Konkret muss man sich das wie eine Fotografie oder eine Zeichnung vorstellen in Bezug zu dem Sachverhalt, welchen diese wiedergibt. Das Bild hat ebenso ein materielles Substrat wie die Tatsache, welche es gegebenenfalls bewahrheitet, indem es ihr gleich die Materie im Raum verteilt. Eine wahre Aussage ist ein Bild, dessen Anordnung sich in der Wirklichkeit wiederholt. Andernfalls ist sie falsch, jedoch nicht sinnlos, solange sie eine innere Ordnung aufweist, deren Wahrwerdung vorstellbar ist.

Denken besteht laut dem Tractatus im Anfertigen von Bildern der Wirklichkeit, die dann wahr oder falsch werden können. Ethische Aussagen sind in einer solchen Sprache sinnlos – weil sie von vornherein wahr sein müssten. Was jedoch nicht falsch werden kann, ist keine Vergegenwärtigung der Welt. Andere Aussagen gibt es – zumindest in der Welt des Tractatus – nicht.

Dasselbe gilt für ästhetische Aussagen – sie sind unmöglich, weil es die Anmut der Wirklichkeit ist, welche den Inhalt der Bilder von der Wirklichkeit, welche das Denken verfestigt, beglaubigt oder verwirft; sie kann nicht selber vergegenwärtigt werden.

Damit erledigt sich auch das Problem des Solipsismus – einer der originellsten Befunde des Tractatus zu einem der zähesten Probleme der Philosophiegeschichte: Denn das „denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht“ (Tractatus 5.631). Damit ist gemeint, dass unser Gemüt zwar voller Gedanken und Vorstellungen ist, diese Bilder aber nicht uns, sondern vielmehr der „Vergegenwärtigung“ – als Spiegel der Wirklichkeit – angehören, und es daher nicht heißen muss „Ich denke, also bin ich“, sondern „Denken geht vor sich, also bin ich nicht“.

Jeder Mensch wird so seinen unverwechselbaren Satz an Bildern entwerfen und verwalten, die seine und nur seine Welt ausmachen, aber doch über den Sinn, welcher sie formt, mit der Wirklichkeit verbunden bleiben.

Die Vergegenwärtigungssprache, welche der Tractatus beschreibt, ist jene der Wissenschaft, und es ist das Hauptanliegen des Textes, den Leser in die Lage zu versetzen, nachzuvollziehen, wie wenig kraft dieser Sprache gesagt werden kann, indem sie nur Tatsachen betrifft, nicht aber deren Anmut, oder was über sie hinaus zu tun oder zu lassen wäre.

Der Tractatus ist einer der fabelhaftesten philosophischen Texte überhaupt, ebenso rigoros wie witzig, vergleichbar einem aufgefächerten Koan. „Meine Sätze erläutern dadurch“, heißt es unter 6.54, „dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“

Dieses Statement beinhaltet den Wink, dass der Tractatus idealerweise als Nachahmung herkömmlichen „Vergegenwärtigungs“-Philosophierens gelesen werden sollte, dessen Wesen und Beschränktheit er mustergültig vor Augen führt. Zu wirklich bedeutenden Aspekten – meist ethischer oder ästhetischer Natur – kann auf diese planende, berechnende Weise nichts gesagt werden.

„6.4312 Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch das Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit. (Nicht Probleme der Naturwissenschaft sind ja zu lösen.)“


ENTSCHÄRFUNG DER METAPHYSIK


Wittgensteins stiftet kein eigenes System der Vergegenwärtigung, sondern hat es sich zur Aufgabe gemacht, das ultimative Vergegenwärtigen zu verwinden: die darin liegende Vorstellung einer allem zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeit, deren Nachvollzug den Menschen zum erfolgreichen Verarbeiten von Gegenständen und der Welt bemächtigt. Der Metaphysiker formuliert solche Gesetze im Allgemeinen, bevor sie vom Forscher anschließend „durchgezogen“ und zweckmäßig gemacht werden. Die Philosophie bzw. Metaphysik ist so gesehen die Wiege der westlichen Wissenschaften und macht deren Wesen aus.

Die Methode der Vergegenwärtigung führt Wittgenstein – womöglich spöttisch – in seinem Frühwerk vor. Der Zersetzung des darin liegenden Alleinvertretungsanspruchs ist dann sein weiteres „Anti-Philosophieren“ gewidmet. Der Metaphysik werden die Zähne gezogen, indem die Strenge ihres Begriffsapparats als tyrannische Überspitzung herausgestellt wird, die eher einem Ausbeutungswillen als dem Innesein ihrer natürlichen Quellen zu verdanken ist.

Diese macht Wittgenstein ausfindig in den Läufen eines „organischen Werdens“, das sich entsprechend seiner Umgebung in der Welt ausbildet und sich in den Gepflogenheiten der Menschen manifestiert, die wiederum in der Wüste andere sind als zum Beispiel im Gebirge oder im Dschungel, in der Stadt andere als auf dem Land, im Warmen andere als im Kalten.

Im Gegensatz zu den Vergegenwärtigungen der Metaphysik und ihres Abkömmlings, der Technik, sind die unmittelbaren Sinngehalte der Lichtung biegsamer, wie Wittgenstein nachweist, indem er als ihr Merkmal die „Familienähnlichkeit“ anführt. Wenn etwas ursprünglich Sinn macht, dann nicht, wie Sokrates „vor Augen führte“, aufgrund einer in allen seinen Instanzen eisern wiederkehrenden Eigenschaft, sondern weil durch sein Zutagetreten ein Thema erklingt, gleich dem Gegenstand eines Mosaiks, der sich erst im Zusammenkommen seiner Bestandteile zeigt, ohne in einem von ihnen alleine enthalten oder wiederkehrend zu sein. Wittgenstein veranschaulicht dies anhand des Spinnens eines Fadens, bei dem „Faser an Faser“ gedreht wird. „Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine [sic!] Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.“

„Das Denken“, kritisiert Wittgenstein dagegen den stellenden, planenden Gestus, „ist mit einem Nimbus umgeben. – Sein Wesen, die Logik, stellt eine Ordnung dar, und zwar die Ordnung a priori der Welt, d. i. die Ordnung der Möglichkeiten, die Welt und Denken gemeinsam sein muss. Diese Ordnung aber, scheint es, muss höchst einfach sein. Sie ist vor aller Erfahrung; muss sich durch die ganze Erfahrung hindurchziehen; ihr selbst darf keine erfahrungsmäßige Trübe oder Unsicherheit anhaften. – Sie muss vielmehr vom reinsten Kristall sein. Dieser Kristall aber erscheint nicht als eine Abstraktion; sondern als etwas Konkretes, ja als das Konkreteste, gleichsam Härteste.“

Wittgenstein hält diese Überzeugung oder Forderung für irrig, fatal, findet aber gleichzeitig, dass man ihr einmal seine Seele verschrieben haben muss, um danach den „Weg der Erlösung“ zu beschreiten. Deswegen setzt jedes sinnvolle Wittgenstein-Studium ein mit dem Nachvollzug des Tractatus. (Wittgenstein hatte verfügt, dass dieser zusammen mit dem ihn dekonstruierenden Spätwerk veröffentlicht werden sollte.)

Die metaphysische Einstellung ist besessen davon, das Wirkliche zu stellen mit ihrem Begriffsapparat. Selbst Schmerzen, Vorstellungen oder Träume werden versuchsweise anschaulich gemacht, statt sie als etwas zu erleben, was in einem aufkommt, sich äußert und unmöglich vergegenwärtigt werden kann.

Eines der befreiendsten Erlebnisse besteht dank Wittgensteins Spätphilosophie in dem Aha-Erlebnis, dass es zwar ein Innesein, aber keine innere Bühne gibt, die dessen exklusiver Schauplatz wäre – es sich vielmehr in der Außenwelt zuträgt, die fälschlich so heißt, weil es ohne innere auch keine äußere Bühne gibt. Wittgenstein wird oft unterstellt, er sei ein Behaviorist, der „Inneres“ leugne: Gefühle, Träume usw. Dabei werden sie von ihm eher befreit – aus dem fiktiven Verlies einer hermetischen Innenwelt in jenen Beziehungsreichtum entlassen, der das Sein der Menschen untereinander in feinster Weise mustert und dadurch bedeutsam macht. Hat man dies erst einmal begriffen, kann man nie wieder zurückfallen in die vertricksten, Geister haschenden Mythen herkömmlicher (metaphysischer) Psychologie.


WIE BEDEUTUNG ENTSTEHT


Wittgensteins Vormarsch demonstriert, dass wissenschaftliche Herangehensweisen wie Logik, Mathematik, Naturgesetze usw. Abkömmlinge oder „Abmagerungen“ von etwas Bedeutenderem sind, das in GRAMMATIK, LEBENSFORM und NATURGESCHICHTE sowie im Sinnbild des SPRACHSPIELS zum Ausdruck kommt.

Die GRAMMATIK beinhaltet alle Möglichkeiten selbstverständlichen Sprechens und wird durch sonst nichts gerechtfertigt. Sie regelt, was es mit den Dingen auf sich haben kann, und verleiht einem so die nötige Freiheit, zu sprechen. Zugleich ist sie wie alles Zwischenmenschliche voller Fallstricke und Anreize, fehlzugehen, und die Aufgabe der Philosophie besteht – laut Wittgenstein – darin, solche Verirrungen, die ihr „Rohmaterial“ bilden, aufzulösen.

Wittgensteins Spätwerk, die Philosophischen Untersuchungen, ist voll von Beispielen besinnlicher Missverständnisse, die zum Beispiel in der Suggestion irreführender Bilder oder Gleichnisse bestehen, die einen verführen können, etwas zu sagen, was sich nicht sagen lässt, oder Bedeutungen zu erfinden, die es nicht gibt.

Als Beispiel seien hier – Philosophische Untersuchungen 345 zitierend – eine falsche Angabe über den Gebrauch der Wörter „manchmal“ und „immer“ sowie die Auflösung dieses Irrtums genannt: „,Was manchmal geschieht, könnte immer geschehen‘– was wäre das für ein Satz? Ein ähnlicher, wie dieser: Wenn ,F(a)‘ Sinn hat, hat ‚(x).F(x)‘ Sinn. ‚Wenn es vorkommen kann, dass Einer [sic!] in einem Spiel falsch zieht, so könnte es sein, dass alle Menschen in allen Spielen nichts als falsche Züge machten.‘ – Wir sind also in der Versuchung, hier die Logik unsrer Ausdrücke misszuverstehen, den Gebrauch unsrer Worte unrichtig darzustellen. Befehle werden manchmal nicht befolgt. Wie aber würde es aussehen, wenn Befehle nie befolgt würden? Der Begriff ‚Befehl‘ hätte seinen Zweck verloren.“

Die philosophische Untersuchung klärt hier das Verhältnis und den richtigen Gebrauch von „manchmal“ und „immer“: Was immer geschieht, kann nie manchmal geschehen, obwohl der Satz „Was manchmal geschieht, könnte immer geschehen“ oberflächlich Sinn macht und damit zur (falschen) Generalisierung von Einzelfällen verleitet.

Die Grammatik regelt das gewöhnliche Sprechen einer Gemeinschaft mit fundamentalen Gebrauchsmustern, deren alltägliches Funktionieren einen Sprecher trotzdem immer wieder auf Abwege bringt, ihn täuscht, ihm etwas vormacht. Die diesbezügliche Aufgabe der Philosophie besteht nach Wittgenstein nicht darin, irgendwelche Grundlagen oder Richtlinien nachzuliefern, sondern darin, die normalen Möglichkeiten einer Sprache dort, wo sie verschüttgegangen sind, wieder in den Blick zu rücken. Dies geschieht nicht durch Erklärungen, sondern durch Beispiele, Vergleiche, Umstellungen, welche die pathologisch gewordenen Stellen wieder beweglich oder „gesund“ machen (die Sprache wird mit anderen Worten nicht wie ein Algorithmus oder wie eine Maschine aufgefasst, sondern wie ein Organismus).

Das SPRACHSPIEL, in dem sich Menschen, Alltag und Sprache gegenseitig bedingen, wird in Wittgensteins Spätphilosophie zum Ursprung der Bedeutung.

Die Verstandestätigkeit entspringt hiermit zum ersten Mal im westlichen Denken nicht der Gegenüberstellung von Einzelnem und Gegenstand, welche der Philosoph versucht, aufeinander zu beziehen. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen beginnen mit etwas, was sich bis dahin niemand als Startpunkt vorstellen konnte, und es fällt, wenn man das Werk zum ersten Mal liest, schwer, Verständnis für etwas zu entwickeln, das so offensichtlich zusammengesetzt ist wie das „Sprachspiel“, als Keimzelle der Besinnlichkeit.

Doch Wittgensteins Genie besteht genau in diesem Erkennen der dreifachen Wechselbeziehung – von Menschen, Umgebung und Sprache – als Ureinheit der Bedeutung. Dadurch erfüllt er den Traum eines jeden Philosophen, endlich hinauszukommen über das Subjekt-Objekt-Schema als Startpunkt des Denkens, ohne dabei doppeldeutig werden zu müssen. Wie es möglich sein könnte, Bedeutung schlechthin zu besichtigen, noch bevor der einzelne Mensch einer Welt gegenübertritt, darauf war vor Wittgenstein noch niemand gekommen.

Was er unter „Sprachspiel“ versteht, veranschaulicht Wittgenstein ab dem zweiten Paragrafen seiner Philosophischen Untersuchungen: „Denken wir uns eine Sprache […]. Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ‚Würfel‘, ‚Säule‘, ‚Platte‘, ‚Balken‘. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.“

Am wichtigsten hier: die „Vollständigkeit“, welche „aufzufassen“ einem geraten wird. „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen“, fügt Wittgenstein erklärend hinzu. „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“

Weitere Sprachspiele, welche Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen anführt, sind nicht immer der Wirklichkeit entnommen, sondern manchmal als „Vergleichsobjekte“ erfunden worden, um die Aufmerksamkeit auf wichtige Merkmale zu lenken. Als existierende Sprachspiele zitiert er:

• Befehlen und nach Befehlen handeln
• Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen oder nach Messungen
• Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung)
• Berichten eines Hergangs
• Über den Hergang Vermutungen anstellen
• Eine Hypothese aufstellen und prüfen
• Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme
• Eine Geschichte erfinden und lesen
• Theater spielen
• Reigen singen
• Rätselraten
• Einen Witz machen, erzählen
• Ein angewandtes Rechenexempel lösen
• Aus einer Sprache in die andere übersetzen
• Bitten, danken, fluchen, grüßen, beten

Es hilft, sich vorzustellen, die hier aufgelisteten Sprachspiele seien gerade erst entstanden, spontan in die Welt getreten vor Millionen Jahren, um zu erkennen, dass in ihnen die Keimzelle von zum Beispiel Physik, Architektur, Geschichte, Theoriebildung oder Humor liegt.

Wie viele Sprachspiele gibt es?

Unendlich viele – neue kommen ständig in die Welt, alte verblassen.

Sprachspiele als Teil einer Kultur sind Erweiterungen einer noch primitiveren organischen Entwicklung, welche Wittgenstein als die NATURGESCHICHTE der Menschen beschreibt: „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.“ Nicht alle Sprachen verwenden Wörter, einige bestehen aus Nummern – oder Gesten – oder Tönen. Auch Bienen, Ameisen, Vögel oder Schimpansen haben ihre jeweilige Sprache. Die menschliche Wortsprache aber ist Teil der menschlichen Naturgeschichte, welche deswegen nicht etwa erklärt, warum wir sprechen, sondern diesen Entwicklungsschritt eben mit sich bringt.

Von großer Bedeutung ist schließlich noch die Beziehung zwischen Sprachspiel und LEBENSFORM, Wittgensteins Bezeichnung für das Unbewusste, in Form des Alltags.

„Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen“, schreibt Wittgenstein dazu in den Philosophischen Untersuchungen, „die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzählige Andere [sic!]. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich [einen Alltag] […] vorstellen.“

Zu einer Sprache, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht, gehört dann zum Beispiel der Alltag „Krieg“. Besteht eine Sprache nur aus Fragen und einem Ausdruck der Bejahung oder der Verneinung, ist sie im Alltag „Gerichtsverfahren“ anzusiedeln.

Ein Alltag besteht aus sich wiederholenden Aktivitäten, egal, ob sie nun kultureller oder biologischer Natur sind. Sich einen menschlichen Alltag vorzustellen, heißt, sich eine Sprache – wohlgemerkt noch kein Sprachspiel – vorzustellen: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll […] hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder […] [eines Alltags] […].“

Dass sich der menschliche Alltag aus etwas sich Wiederholendem zusammensetzt, beinhaltet unter anderem, dass gesprochen wird – also Sprachspiele stattfinden.

Der Alltag kann nun beispielsweise jener der Geschäftswelt sein; eines seiner Sprachspiele wäre dann die Werbung. Er könnte auch im Bereich der Therapie verortet sein; in dem Fall wäre ein Sprachspiel die Psychoanalyse. Im Alltag der Wahrsagerei bestünde ein Sprachspiel im Handlesen, in einer Welt, die sich nur ums Glücksspiel dreht, hieße ein zugehöriges Sprachspiel Lotto, usw.


BEREICHE DER BEDEUTUNG


Wittgenstein philosophiert immanent. Bedeutung kann demzufolge niemals erklärt, also auf etwas Vergegenwärtigtes oder Theoretisches zurückgeführt, sondern nur beschrieben oder erlebbar gemacht werden. Das Besinnliche ist immer phänomenal. Es muss unmittelbar von seiner Erscheinung abgelesen werden. Oder es leuchtet ein infolge einer Neuordnung ursprünglich verwirrender Worte, durch kulturelles Einfühlen (im Fall fremder Rituale) oder die Erinnerung an das, was wir normalerweise tun oder sagen.

Der Bedeutungsbereich, welchen Wittgenstein in den vielen Tausend Seiten seines Spätwerkes impliziert, zerfällt in die Familien ANMUT, REGEL, BRAUCH und MACHENSCHAFT.

ANMUT muss erblickt werden, um sich einstellen zu können – in Gesichtern, Gemälden, Landschaften … „Seele“ beispielsweise ist eine Anmut des menschlichen Körpers. Ist der betreffende Mensch traurig, ist dieser anders „gemustert“, als wenn er fröhlich oder ärgerlich ist.

REGELN signalisieren Bedeutung, indem sie menschliches Handeln ausrichten und dabei gleichzeitig von diesem geformt werden.

BRÄUCHE tun ihre Bedeutung in Ritualen kund (die es heute kaum noch gibt), zum Beispiel in Form des Ausblasens der Kerzen auf dem Geburtstagskuchen, des Weihnachtsbaums, des Fangens des Brautstraußes, des Singens der Hymne durch die Fußballnationalmannschaft, eines Silvesterfeuerwerks, Germany’s Next Topmodel u. Ä. m.

MACHENSCHAFTEN entfalten ihre Bedeutung in der Entwicklung gezielter Gebilde: Vorstellungen, Bauten oder Maschinen. Wittgenstein merkt kulturkritisch an, dass wir diesem Aspekt momentan zu viel Bedeutung beimessen. Auf Kosten der anderen und, wie er wohl auch meint, unseres Seelenheils. „In der Großstadt-Zivilisation“, schreibt er in seinem Nachlass, „kann sich der Geist nur in einen Winkel drücken. Dabei ist er aber nicht etwa atavistisch und überflüssig, sondern er schwebt über der Asche der Kultur als ewiger Zeuge – quasi als Rächer Gottes. Als erwarte er eine neue Verkörperung (in einer neuen Kultur).“

Als Ingenieur stand Wittgenstein den Machenschaften von Theorie und Technik besonders skeptisch gegenüber, die für ihn wegen des universalen Geltungsanspruchs der dahinter stehenden Wissenschaften in den Bereich der „Metaphysik“ fallen. Dabei wird die Wissenschaft nicht verkannt als Quelle echter Bedeutung, sondern nur die Diät beklagt, auf welche sie einen setzt, indem andere Möglichkeiten der Bedeutung zu Tode gehungert werden.

„Die Krankheit einer Zeit heilt sich durch eine Veränderung in der Lebensweise der Menschen“, schreibt Wittgenstein in seinen Bemerkungen zu den Grundlagen der Mathematik, „und die Krankheit der philosophischen Probleme konnte nur durch eine veränderte Denkweise und Lebensweise geheilt werden, nicht durch eine Medizin, die ein einzelner [sic!] erfand. Denke, dass der Gebrauch des Wagens gewisse Krankheiten hervorruft und begünstigt und die Menschheit von dieser Krankheit geplagt wird, bis sie sich, aus irgendwelchen Ursachen, als Resultat irgendeiner Entwicklung, das Fahren wieder abgewöhnt.“


RÜCKHOLUNG DES SELBST – Wittgensteins Philosophie der Psychologie


Wittgensteins Neuformulierung des Wesens der Individualität dürfte, sofern sie einmal nachvollzogen wurde, mehr zur geistigen Gesundung Europas und des Westens beitragen als sämtliche parallel vorstellbare Psychotherapien oder ökonomische oder technische Allheilmittel. Wittgensteins Vormarsch gibt die frischeste, unerschrockenste und gesündeste Antwort auf die Fragen „Wer bin ich?“ und „Was ist ein Mensch?“ seit Sokrates.

Wittgensteins Spätwerk Philosophische Untersuchen geht größtenteils auf folgende sogenannte „mentale“ Phänomene und Begriffe ein: „verstehen“, „lesen“, „weiterwissen“, „Regelfolgen“, „Empfindung“, „denken“, „vorstellen“ und „Vorstellungen“, „träumen“, „Ich-Bewusstheit“, „beabsichtigen“, „wollen“ usw. Wittgensteins Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Sprachspielen laufen hinaus auf den Zerfall des Trugbilds einer „inneren Welt“, aus der er das Seelenleben befreit, wodurch es echter, genießbarer wird.

Wittgenstein zersetzt die über 2.000 Jahre alte philosophische Vorstellung, das Gemüt des Menschen sei aufgebaut nach dem (und gerechtfertigt durch das) Vorbild der Welt äußerer Gegenstände. Seit den Zeiten des heiligen Augustin wird eine „Innenwelt“ voller geistiger Angelegenheiten als erwiesen erachtet; dasselbe gilt– in verweltlichter Form – für Descartes oder später für Kant und seine „transzendentale Psychologie“.

Die „Innenwelt“ genießt ein enormes Ansehen. Die in ihren Vergegenwärtigungen erscheinende „Geistigkeit“ macht sie sowohl philosophisch als auch religiös interessant. Geist, der sich eigentlich nicht vergegenständlichen lässt, bekommt Gewicht und Prestige kraft seiner Verkörperung durch (innere) Angelegenheiten nach dem Muster wirklicher Gegenstände, die man behandeln (sich vorknöpfen und „hinkriegen“) kann. Verloren geht dadurch freilich, wie Wittgenstein uns zeigt, etwas unendlich viel Wertvolleres: das lebendige, atmende Seelenleben.

Wittgenstein verdeutlicht als Erster im Hauptstrom abendländischer Philosophie den Unterschied zwischen (unechter) Innenwelt und (echtem) Seelenleben.

Seine Methode des Philosophierens besteht in einem unausgesetzten Zwiegespräch mit sich selbst, in dessen Verlauf er Fragen stellt und den Antworten, die ihm sein Inneres gibt, lauscht: „Jeden Morgen muss man wieder durch das tote Geröll dringen, um zum lebendigen, warmen Kern zu kommen“, schreibt er in seinen Vermischten Bemerkungen. „Beim Philosophieren muss man ins kalte Chaos hinabsteigen und sich dort wohl fühlen [sic!].“ Er ist mit anderen Worten kein Behaviorist, der dem Innigen die Existenz abspricht, sondern sein Dementi betrifft allein die „innere Bühne“ mit ihren „mentalen Gegenständen“.

Die im Verlauf von 2.000 Jahren versteinerte Vorstellung, das „Ich“ könne seine „mentalen Inhalte“ betrachten, sich irgendwie vorstellen, hat sich dermaßen festgesetzt, dass sie als Gemeinplatz gilt und ihre Leugnung folglich als Mangel an Verstand betrachtet wird. Jeder bedeutende westliche Philosoph seit Plato – und heute auch jeder Psychologe – geht in der einen oder anderen Weise von „inneren Angelegenheiten“ des Selbst oder Bewusstseins aus. Sie alle nehmen an, dass Vorstellungen, Gedanken, Eindrücke, Ahnungen und dergleichen einen Standort im menschlichen Gemüt haben.

Plato, Aristoteles, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, William Occam und seit der Renaissance Rationalisten wie Descartes, Spinoza und Leibnitz oder Empiriker wie Locke, Berkeley, Hume – sie alle gehen aus von „geistigen Gegenständen“, mit denen der Mensch inwendig verkehrt und umgeht, wenn er etwas „weiß“, „wahrnimmt“, „sich vorstellt“, „glaubt“, „denkt“ oder „beabsichtigt“. Dass es „mentale Inhalte“ gar nicht geben könnte, ist vor Wittgenstein keinem bedeutenden Philosophen aufgefallen. Es erscheint einfach unvorstellbar, weil die Besinnlichkeit als Inneres, denkt man, irgendwie nötig ist, um Äußeres zu spiegeln oder zu bestätigen, wenn man diese Trennung – zwischen innen und außen – einmal vollzogen hat.

Indem er den selbstverständlichen Gebrauch von Wörtern wie „denken“, „meinen“, „beabsichtigen“ usw. sorgfältig nachvollzieht, stellt Wittgenstein jedoch heraus, dass die Grundannahme eines inneren Geschehens unnötig dualisiert – zu dem eingebildeten Zweck einer Vermittlung zwischen innerer und äußerer Bühne, welche nur seinsmäßig verschieden gedacht zu sein scheinen, um in fantasierter Weise wiedervereint werden zu können.

Als Erstes ist Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen daher aus auf die Zersetzung von Augustins oder Descartes’ „inneren Bewandtnissen“, jener sinnlosen „Doppelung“, der zufolge wir nicht nur erfahren, fühlen oder denken, sondern auch beobachten und somit begründen könnten, was Erfahren, Fühlen, Denken usw. im Einzelfall ausmacht.

Die pathologische „Doppelung“ resultiert nach Wittgensteins Erkenntnissen aus einer mehrfachen Verkennung unserer alltäglichen Sprache, einem Missverständnis von deren Grammatik, welchem Trugbilder entspringen.

Diese bringt Wittgenstein stückweise zum Verschwinden, indem er endlich herausstellt, dass es sich bei „Denken“, „Verstehen“, „Lesen“, „Meinen“, „Beabsichtigen“, „Glauben“ usw. nicht um von der Außenwelt abgesetzte Vorgänge handelt. Das Tätigkeitsmerkmal „Denken“ unterscheidet sich nicht wesentlich von zum Beispiel „Genießen“, „Trinken“ oder „Zögern“ – dasselbe gilt auch für so vorstellungsgeladene Begriffe wie „Erinnerung“, „Wahrnehmung“ oder „Traum“. Sie bedeuten nicht etwas dank ihrer Rolle auf einer „inneren Bühne“, sondern verkehren, sobald es mit ihnen etwas auf sich hat, auf der gleichen Ebene wie alle anderen menschlichen Erscheinungen.

Doch wie schlich sich das Trugbild ein?

Wir malen uns dafür zum Beispiel aus, dass, wenn wir etwas Vernünftiges sagen, irgendein innerer Hergang vorgeschaltet sein muss, weil es uns drängt, zu glauben, vernünftiges Sprechen könne nicht „einfach nur so“ vor sich gehen.

Obwohl es genau das tut.

Ähnlich verhält es sich, wenn wir irgendeiner Regel folgen – wir denken dann, dass wir diese innerlich jedes Mal erst „verstehen“ müssen, um dann ihr entsprechend handeln zu können.

Aber wir befolgen eine Regel, wenn wir sie befolgen, „ohne Weiteres“.

(Eine Person lernt, mit zehn Fingern zu tippen. Bald gelingt es ihr „blind“ – sie folgt der Regel, welche in der Buchstabenordnung auf der Tastatur liegt, ohne diese dabei „vor Augen“ zu haben. Im Gegenteil, sobald sie sich diese vergegenwärtigt, vertippt sie sich …).

Auch wenn wir jemanden wiederkennen oder identifizieren, konsultieren wir keine „inneren Bilder“, sondern es stellt sich etwas Unvermitteltes ein.

„Denk doch einmal gar nicht an das Verstehen als ‚seelischen Vorgang‘! Denn das ist die Redeweise, die dich verwirrt …
In dem Sinn, in welchem es für das Verstehen charakteristische Vorgänge (auch seelische Vorgänge) gibt, ist das Verstehen kein seelischer Vorgang.
(Das Ab- und Zunehmen einer Schmerzempfindung, das Hören einer Melodie, eines Satzes: seelische Vorgänge)“ (Philosophische Untersuchungen 154).

Wittgenstein liefert hier Beispiele für innere Vorgänge, nämlich das Ab- und Zunehmen einer Schmerzempfindung, das Hören einer Melodie usw. Im Vergleich zu diesen ist das Verstehen aber kein solcher Vorgang. Es kann zwar seelische Vorgänge beinhalten, also etwa eine abnehmende Schmerzempfindung oder das Hören einer Melodie, doch sie machen das Verstehen nicht aus. Ob jemand etwas verstanden hat, ob „Verstehen vor sich ging“, erkennt man nicht an dem, was der Person dabei „durch den Kopf“ geht, sondern daran, was sie – für alle sichtbar – als Nächstes tut, infolgedessen eingesehen oder nicht richtig erfasst hat.

Ähnlich ist es mit dem Denken: „,Denken‘ nennen wir wohl manchmal, den Satz mit einem seelischen Vorgang begleiten, aber ‚Gedanke‘ nennen wir nicht jene Begleitung. – Sprich einen Satz und denke ihn; sprich ihn mit Verständnis! – Und nun sprich ihn nicht, und tu nur das, womit du ihn beim verständnisvollen Sprechen begleitet hast“ (Philosophische Untersuchungen 332).

Wir neigen mit anderen Worten dazu, das, was wir sagen, für „Denken“ zu halten, weil uns dabei irgendetwas durch den Kopf geht: der „Gedanke“. Was wir sagen, wird aber nicht durch das zum Denken, was uns dabei durch den Kopf geht, nicht durch eine bestimmte Vorstellung, Melodie o. Ä. m. So wie es etwa auch unmöglich ist, das Verständnis, mit welchem man einen Satz spricht, von diesem getrennt zuwege zu bringen. Ähnlich lässt sich der Ausdruck, mit dem man etwas sagt, also sein Ernst oder seine Leichtigkeit, nicht davon abziehen und an sich zustande bringen, um dann eventuell „zugemischt“ zu werden. „Verständnis“, „Ernst“, „Leichtigkeit“ usw. begleiten nicht ein gesondertes Sprechen oder Tun, ebenso wenig, wie „Denken“ mit dem, worin es sich vollzieht, „einhergeht“. Denken hat keinen hinzutretenden, sondern "hitzigen" Charakter: Es zeigt sich zum Beispiel in der Vorsicht, Aufmerksamkeit oder Andacht, mit der etwas gesagt oder getan wird.

„Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ‚Bedeutungen‘ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens“ (Philosophische Untersuchungen 329).

Ein anderer geistiger Begriff, die „Vorstellung“, bleibt bedeutungslos, solange wir nur unsere eigenen Vorstellungen untersuchen. Denn das Wesen einer Vorstellung liegt nicht in dem, was wir uns ausmalen, wenn wir uns etwas vorstellen, sondern im Gebrauch des Wortes „Vorstellung“.

„Die Vorstellung ist nicht ein Bild, noch ist der Gesichtseindruck eines. Weder ‚Vorstellung‘ noch ‚Eindruck‘ ist [sic!] ein Bildbegriff, obwohl in beiden Fällen ein Zusammenhang mit einem Bild statthat, und jedes Mal ein anderer“ (Zettel 638).

Die Alltagsverwendung des Wortes „Vorstellungen“ (der allgemein vorgeschriebene oder erlaubte Gebrauch dieses Wortes) bestimmt, dass Vorstellungen dem Willen unterliegen. Man kann also sich oder jemand anderen auffordern: „Stell dir eine Wiese mit Pferden vor!“ Schon stellt sich das entsprechende „Bild“ ein. Andererseits funktioniert die Grammatik des Wortes „Bild“ in diesem Falle nicht. Man kann zum Beispiel nicht fragen: „Wo befindet sich die wirkliche Wiese, von der das Bild angefertigt wurde?“ Vorstellungen lassen sich nicht wie Bilder mit dem vergleichen, was sie darstellen. Dies finden wir nicht heraus, indem wir unsere Vorstellungen untersuchen, sondern indem wir die Alltagsverwendungen der Worte „Vorstellung“ und „Bild“ miteinander vergleichen.

Ein weiterer – zentraler – geistiger Begriff ist der „Eindruck“. Wir sind instinktiv der Meinung, dass Eindrücke uns etwas mitteilen, noch bevor wir sprechen – dass es daher auch ohne Sprache bereits etwas auf sich haben muss mit der Welt. Deswegen kommen uns Eindrücke – insbesondere über das Gesichtsfeld – vor wie eine Art Abbild oder etwas damit Verwandtes. Es sieht so aus, als ob es etwas gibt und wir es wortlos wahrnehmen können. Denn so kommt es uns ja vor, wenn wir eine vertraute Umgebung erblicken: Sähen wir von den sie beschreibenden Worten ab, meinen wir, blieben doch die Gegenstände oder Sinneseindrücke unverändert zurück. Es stapeln sich demzufolge, spekuliert man, in unserem Gemüt „Bilder“ vorheriger Wahrnehmungen, die dazu verwendet werden, hinzukommende Eindrücke zu identifizieren – ob sie mit ihnen übereinstimmen oder nicht.

Eine Klärung dieses Missverständnisses im Stil Wittgensteins könnte zum Beispiel so aussehen: Ich sage jemandem, der weiß, was Eieruhren sind, er soll eine Eieruhr aus der Küche holen. Er tut es. Was ist dabei geschehen? Nun, er hat meine Aufforderung gehört und die Eieruhr gebracht. Oder hat er sich zunächst eine Eieruhr ins Gedächtnis gerufen, nachdem er meine Aufforderung verstanden hat, und anschließend den seinem Erinnerungsbild entsprechenden Gegenstand aus der Küche geholt? Was aber, wenn ich ihn aufgefordert hätte, sich eine Eieruhr vorzustellen? Würden wir dann immer noch geneigt sein, zu denken, er rufe sich eine Eieruhr ins Gedächtnis, indem er meine Aufforderung versteht, und stelle sich dann eine weitere vor, welche dem Gedächtnisbild entspricht?

Das Wort „Eieruhr“ ermöglicht dem Verständigen eine Vorstellung, zu deren Identifizierung das angenommene Erinnerungsbild nicht nötig ist. Man räumt schließlich gezwungenermaßen die Unmittelbarkeit der Abfolge „Hören des Wortes | Vorstellung der Eieruhr“ – ohne dazwischengeschaltetes Bild – ein.

Indem wir nachvollziehen, dass „Bild“ und „Vorstellung“ nicht dieselbe Bedeutung (Grammatik) haben, werden wir nicht mehr darauf bestehen, meint Wittgenstein, dass „innere Bilder“ bei Vorgängen wie dem Befolgen einer Aufforderung eine Rolle spielen müssen.

Auch „Erinnerung“ oder „Gedächtnis“ sind sprachlich, und man muss sehen, welche Rolle sie in der Sprache spielen (dürfen), um zu verstehen, was es mit ihnen auf sich hat. Wenn mich jemand fragt „Erinnerst du dich an letzten Winter?“, kann ich „Ja!“ antworten, ohne dass mir dabei irgendwelche Bilder durch den Kopf gehen müssen. Mir können freilich auch Bilder durch den Kopf gehen, und sie können auch vom letzten Winter sein, aber sie machen das Erinnern nicht aus. Das Spiel mit dem Wort „Erinnerung“ geht anders. Es erlaubt mir zum Beispiel, zu sagen: „Letzter Winter – ich versuche mal, mich zu erinnern …“ Anschließend kann ich alle möglichen Bilder in mir heraufbeschwören, muss das aber nicht tun. In ihnen läge sowieso nicht die Erinnerung, sondern vielmehr in meinen Worten „Jetzt erinnere ich mich, dass …“ sowie in den Worten, die darauf folgen. Eine Erinnerung besteht somit in den Worten, welche auf „Ich erinnere mich, dass …“ folgen. Begleitende oder konsultierte Bilder können die Erinnerung illustrieren, aber nicht begründen.

Worin bestünde dann aber – in Ermangelung eines „inneren Bereichs“ – das menschliche Selbst? Mein Ich?

Wittgenstein war ein sehr privater Mann, entwickelte seine Philosophie im Rahmen eines „inneren Zwiegesprächs“ und zog keinesfalls das Gesellschaftliche dem Individuellen vor. Seine Philosophie stellt, wenn überhaupt, das „Kultivierte“ über das „Gemeine“ oder das Althergebrachte über das „Gedeichselte“, von oben oder außen Aufgezwungene. Trotzdem sprach er dem menschlichen Selbst die Identität ab. Innere Zustände oder Vorgänge, die exklusiv und daher kennzeichnend für ein bestimmtes Ich sind, spielen keine Rolle und sind folglich bedeutungslos. Den Nachweis führt Wittgenstein in seinem „Privatsprachen-Argument“, der Paradenummer seiner Spätphilosophie.

Dieser Nachweise funktioniert ungefähr so: Sprachliche Sätze schaffen etwas Bedeutendes nur unter der Voraussetzung, dass sie auch unwahr sein könnten. Andernfalls wäre jeder Satz wahr, auch solche, die sich widersprechen. Damit aber Sätze sowohl wahr als auch falsch sein können, müssen sie einen autonomen Sinn haben, welchen sie an die Wirklichkeit herantragen, die ihn dann verifiziert (wahrer Satz) oder falsifiziert (falscher Satz). Einen solchen Sinn jedoch bringt nicht ein Mensch allein zustande, er entsteht vielmehr in den Sprachspielen einer menschlichen Gemeinschaft. Insofern verfügt ein Mensch über keine sinnvolle Sprache, die ihm alleine dient, und ist infolgedessen nahtlos ein Bestandteil seiner „sprechenden Umgebung“, selbst indem er Zahnschmerzen hat – ein Beispiel, welches Wittgenstein öfters anführt.

Beispielsweise könnte eine Person jedes Mal, wenn sie Zahnschmerzen hat, ein selbst erfundenes Zeichen in ein Buch schreiben, das sonst niemand zu sehen bekommt. Schon bald aber wird die Person dann nicht mehr in der Lage sein, anhand ihrer Aufzeichnungen festzustellen, ob die Schmerzen, welche sie an diesem Morgen hat, dieselben sind wie jene, die sie vor drei Tagen plagten. Das eigene Gedächtnis reicht nicht aus, um solche Urteile zu fällen. Ein die Öffentlichkeit ausschließender Bezug zum eigenen Gemüt ist daher bedeutungslos. Etwas anderes wäre es, wenn die Person das Ausmaß ihrer Schmerzen zum Beispiel mit Ziffern bewertete: „1“ für „gering“, „5“ für „mittel“ usw. Die Zahlen wären aussagekräftig, weil sie nicht mehr allein der Person gehören, sondern die Öffentlichkeit, in welcher sie als Angaben einer Intensität gelten, ins Spiel bringen und damit eine Bedeutung erlangen.

Natürlich kann man Bücher in Geheimschrift verfassen – solange sich diese übersetzen lässt. Ist sie aber prinzipiell unübersetzbar, nur zu verstehen von einer einzigen Person, sagt sie auch dieser nichts, weil sich ein Mensch „nicht selber die Hand schütteln“ kann.

Hieraus folgt, dass es keine „privaten Gegenstände“ gibt. Selbst unsere geheimsten Gedanken, Absichten oder Träume – unsere Zahnschmerzen – sind prinzipiell „öffentlich“. Das Individuum des Kapitalismus oder der Wissenschaften ist eine leere Hülle.

Das Käfergleichnis, welches Wittgenstein dafür in den Philosophischen Untersuchungen findet, hat mindestens die Wucht von Platos Höhlengleichnis, manche halten es aber sogar für noch bedeutender:

„Angenommen, es hätte Jeder [sic!] eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir ‚Käfer‘ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern [sic!] schaun; und Jeder [sic!] sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass Jeder [sic!] ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, dass sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort ‚Käfer‘ dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ‚gekürzt werden‘; es hebt sich weg, was immer es ist.
Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von ‚Gegenstand und Bezeichnung‘ konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus“ (Philosophische Untersuchungen 293).

Ein „Ausdruck der Empfindung“, um dessen Grammatik es hier geht, wäre zum Beispiel „Jubel“ oder „Schmerz“. Haben Schmerzen einen „inneren Gegenstand“, der ihnen Inhalt verleiht – den sie „bedeuten“? Dieser gliche dann dem Käfer in Wittgensteins Gleichnis, den niemand außer seinem Besitzer sehen kann. Ist folglich unter Menschen von „Schmerzen“ die Rede, kann dieses Wort, wenn es denn eine Bedeutung hat, diese nicht durch einen „Gegenstand“ erhalten, den sonst niemand zu Gesicht bekommt.

„,Ja, aber es ist doch da ein Etwas, was meinen Ausruf des Schmerzes begleitet! Und um dessentwillen ich ihn mache. Und dieses Etwas ist das, was wichtig ist, – und schrecklich.‘ – Wem teilen wir das nur mit? Und bei welcher Gelegenheit? – Freilich, wenn das Wasser im Topf kocht, so steigt der Dampf aus dem Topf und auch das Bild des Dampfes aus dem Bild des Topfes. Aber wie, wenn man sagen wollte, im Bild des Topfes müsse auch etwas kochen?“, heißt es zu dem Thema in den Philosophischen Untersuchungen 296-7.

Es sieht auf den ersten Blick so aus, als ob die Schmerzen (das Kochen) nicht weiter wichtig seien in dem Bild, welches wir uns von ihnen machen, zum Beispiel als Arzt. Der Dampf in der (sprachlichen) Wiedergabe des Topfes versinnbildlicht hier die Charakterisierung eines Schmerzes durch den Empfindenden, indem er zum Beispiel dessen Sitz in bestimmten Stellen seines Körpers angibt. Diese Fähigkeit, Schmerzen zu lokalisieren und in gewissem Maß zu beschreiben (als „dumpf“, „stechend“, „flimmernd“ u. Ä. m.), verleitet uns zu der Vorstellung, bei diesen handle es sich um unseren „Privatbesitz“. Aber dergleichen gibt es nicht.

„,Aber du wirst doch zugeben, dass ein Unterschied ist zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen.‘ – Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! – ‚Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts.‘ – Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, dass ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen lässt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will“ (Philosophische Untersuchungen 305).

Wir haben als Menschen die Neigung, alles, dem wir uns widmen, zu vergegenständlichen. Es erhält, indem wir es uns vergegenwärtigen, eine Art Körper, wenn keinen sichtbaren, dann einen unsichtbaren. So ist es aber nicht immer richtig, denn es gibt – wie zum Beispiel im Fall von Schmerzen – Lebensäußerungen, welche nur ausgedrückt, nicht aber „in die Enge getrieben“ und gestellt werden können. Wenn wir Kindern das Wort „Schmerz“ beibringen, dann nicht wie ein Namensschildchen, das einer Sache umgehängt werden kann wie im Fall von „Apfel“ oder „Bleistift“, sondern indem sie zum Beispiel lernen, es statt „Aua“ zu verwenden, den Schrei gewissermaßen ersetzend.

Um jemanden zu verstehen, der Schmerzen äußert, muss ich mir diese nicht vergegenwärtigen, sondern seine Signale richtig deuten. In der Grammatik des Wortes „Schmerz“ liegt nicht die Beschreibung eines (inneren) Gegenstands, sondern die Anbahnung von Hilfsmaßnahmen. Besinnlich und unverborgen wird Schmerz zum Auslöser und Lenker eines mitmenschlichen Verhaltens. Indem wir Schmerzen äußern, teilen wir niemandem mit, was wir „haben“ (oder „sind“), sondern leiten einen zwischenmenschlichen Vorgang ein.

Schmerz steht in den philosophischen Untersuchungen Wittgensteins ein für alles „Mentale“. In welchem zwischenmenschliche „Muster“ liegen, welches die Sprache zum Gebrauch von allen, die an ihrer Gemeinschaft teilhaben, verwaltet. Das gilt sogar für Träume, die wir nicht privat, sondern „für alle“ haben, wie aus alten Texten (Homer, Gilgamesch, klassische chinesische Romane) hervorgeht.

Mit der „inneren Bedeutungsquelle“ voller mentaler Gegenstände wurde laut Wittgenstein ein geisterhafter Zusammenhang fantasiert, entsprechend dem unterstellten „Wesen“ äußerer Materie, ob es sich bei diesem nun im frühen Mittelalter noch um ein Gefüge vorgestellter „Formen“ handelt oder in der heutigen Wissenschaft um Kräfte, Felder und Partikel. Die absolute wissenschaftliche Objektivität spiegelt sich in dem ihr gegenüber verharrenden isolierten, hermetisch verriegelten Subjekt. Beide sind Kehrseiten einer Geisteshaltung, die Wittgenstein zersetzen möchte.

Die kulturellen Erweiterungen seines neuen Selbstbegriffs wären nachhaltig. Jenseits des einsamen, habgierigen, ängstlichen, total privatisieren Individuums, mit dem wir heute leben und dessen einzige Wirklichkeit in der Macht besteht, sich „zu entfalten“, taucht eine Gelegenheit auf, dem Menschsein tiefere Bedeutung zu verleihen oder diese wiederzuentdecken.

„Man kann einen alten Stil gleichsam in einer neuen Sprache wiedergeben; ihn sozusagen neuaufführen [sic!] in einer Weise, die unserer Zeit gemäß ist. Man ist dann eigentlich nur reproduktiv. Das habe ich beim Bauen getan. – Was ich meine, ist aber nicht ein neues Zurechtstutzen eines alten Stils. Man nimmt nicht die alten Formen & richtet sie dem neuen Geschmack entsprechend her. Sondern man spricht, vielleicht unbewusst, wirklich die alte Sprache, spricht sie aber in einer Art und Weise, die der neuern Welt, darum aber nicht notwendigerweise ihrem Geschmacke, angehört“ (Vermischte Bemerkungen).

„Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen“, schreibt Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen 242. Und Davila ergänzt mit dem Aphorismus „Wenn der Dialog der letzte Ausweg ist, ist die Situation nicht mehr zu retten“. Es ist immer eine grundsätzliche Übereinstimmung vonnöten, um ins Gespräch zu kommen, und diese wird nicht hergestellt durch Argumente, sondern ein verlockendes Bedeutungs-, d. h. Gemeinschaftsangebot.


VOM WERT DES RITUALS – Wittgensteins Bemerkungen über Frazers Golden Bough


Wittgenstein wurde schnell mehr von Künstlern geschätzt als von Philosophen, denen er die Rundumerklärung untersagte. Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke, alles Wittgensteinianer – ebenso wie der US-Amerikaner David Foster Wallace, der eine vielversprechende Karriere als Mathematiker aufgab, um Schriftsteller zu werden. Der Filmemacher Terrence Malick, vom Studium her ein Philosoph, hat seine Doktorarbeit zwar nicht fertiggestellt, sie beschäftigte sich aber mit Wittgenstein und Heidegger.

Was Künstler anspricht, ist Wittgensteins Unmittelbarkeit im Hinblick auf Bedeutung, deren Urzelle, das Sprachspiel, eine anschauliche, dramatische Einheit darstellt. Bedeutung kann ursprünglich nicht erklärt, nur erlebt werden. Die Erklärung wird erst später eine Eigenschaft des „metaphysischen Sprachspiels“, welches Theorien entwickelt, um sich die Wirklichkeit zu vergegenwärtigen. Daraus wiederum haben sich die Wissenschaften entwickelt, die heute alles beherrschen.

Andere Bedeutungsquellen gerieten dadurch ins Hintertreffen, zum Beispiel Sprachspiele, die kaum mehr vorkommen oder nur noch in nicht ernst genommener Form, aber insbesondere für Künstler von Interesse sind wie beispielsweise alles Rituelle.

Das Ritual ist uns so fremd geworden, dass wir seinen Wert als Quelle tiefer Bedeutung zunehmend verkennen. Wenngleich wir ihm, wo es heute noch vorkommt, unbedingt Folge leisten. Beispiele sind das Ausblasen der Kerzen auf dem Geburtstagskuchen, die Schiffstaufe, das Feuerwerk zum Neujahr, der Cirque de Soleil oder Hochzeitsfeierlichkeiten. Oder DJ Bobo, der weder singen noch tanzen kann, aber einen begnadeten Sinn für rituelle Verläufe hat und dabei mehr Weihrauch einsetzt als so mancher Missionar. Sein Publikum geht nach dem Erlebnis seiner Shows tief befriedigt nach Hause.

Wittgenstein arbeitet die Bedeutungsquelle des Rituellen heraus in seinen Bemerkungen über Frazers Golden Bough, eine Vergleichsstudie über Mythologie und Religion des schottischen Anthropologen James George Frazer, in welcher dieser zu dem Schluss kommt, dass sich der menschliche Geist von Magie über Religion zur Wissenschaft entwickelt.

Frazer beurteilt die Rituale der Primitiven als vorwissenschaftlich, beruhend auf einem falschen Verständnis der Welt, und huldigt damit dem Mythos der archaischen Dummheit. Alle unsere Vorfahren, insbesondere aber die, welche nichts Wissenschaftliches hervorbrachten, werden als intellektuell minderwertig betrachtet. Sie waren so dumm, dass die dachten, es durch Tanzen regnen lassen zu können. Damit wird ihnen jene kausale Besessenheit unterstellt, die uns heute beherrscht und in deren Rahmen Tätigkeiten nur als sinnvoll erachtet werden, wenn sie auch etwas bewirken.

Doch dieses Urteil gleicht jenem, das jemand fällen könnte, der uns beim Abfeuern von Neujahrsraketen beobachtet und sagt: „Sie denken, wenn sie keine Raketen verschießen, bleibt das neue Jahr aus.“

Die Neigung, alles zu erklären, also in einer Theorie zu verankern, anstatt es wörtlich zu nehmen, ist Ausdruck der Krankheit unserer Zeit, die grobe, närrische Resultate hervorbringt, wenn ihre Deutungsmuster auf primitive Bräuche angewandt werden.

„Seine Erklärungen der primitiven Gebräuche“, schreibt Wittgenstein über Frazer, „sind viel roher als der Sinn dieser Gebräuche selbst.“

Wittgenstein erinnert uns daran, dass wir den Sinn primitiver Gebräuche durchaus verstehen können, weil das, was sie ursprünglich aufkommen ließ, in uns weiterlebt und nicht erklärt werden muss.

Frazer beschreibt und erklärt zum Beispiel ausgiebig den Brauch des Tötens des „Waldkönigs von Nemi“. Dazu Wittgenstein: „Und die Erklärung ist es hier gar nicht, die befriedigt. Wenn Frazer anfängt und uns die Geschichte von dem Waldkönig von Nemi erzählt, so tut er dies in einem Ton, der zeigt, dass hier etwas Merkwürdiges und Furchtbares geschieht. Die Frage aber ‚Warum geschieht dies?‘ wird eigentlich dadurch beantwortet: Weil es furchtbar ist. Das heißt, was uns bei diesem Vorgang furchtbar, großartig, schaurig, tragisch etc., nichts weniger als trivial und bedeutungslos vorkommt, das hat diesen Vorgang ins Leben gerufen.“ Frazers „Erklärung ist im Vergleich mit dem Eindruck, den uns das Beschriebene macht, zu unsicher.“

Was einen an dem Brauch beeindruckt, meint Wittgenstein, ist weniger Frazers Erklärung (die Primitiven würden nicht davor zurückschrecken, die Natur mit „jedem erdenklichen Mittel“ zu beeinflussen) als das Gefühl der „Majestät des Todes“, welches wir mit den Betroffenen teilen.

„Wenn man mit einer Erzählung vom Priesterkönig von Nemi das Wort ‚die Majestät des Todes‘ zusammenstellt, so sieht man, dass die beiden eins sind.
Das Leben des Priesterkönigs stellt das dar, was mit jenem Wort gemeint ist.
Wer von der Majestät des Todes ergriffen ist, kann dies durch so ein Leben zum Ausdruck bringen. – Dies ist natürlich auch keine Erklärung, sondern setzt nur ein Symbol für ein andres. Oder: eine Zeremonie für eine andere.“

Dies ist die Weise, wie wir Rituale verstehen: Wir halten eine uns bekannte Zeremonie neben eine noch unbekannte, um so deren Wesen zu begreifen. Wenn wir bekannte Symbole, zum Beispiel den Sensenmann oder einen Totenkopf mit einer Krone – in einen Zusammenhang mit der Ermordung des Priesterkönigs von Nemi stellen, helfen sie uns beim Verständnis dieses Rituals.

Rituale dienen weder der Erkenntnis noch einem Zweck. Sie führen nichts im Schilde. Wenn ich die Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen ausblase, will ich damit keine weiteren Ereignisse beeinflussen. Wir handeln auf eine bestimmte Weise – und sind damit zufrieden.

„[…] das Prinzip, nach dem diese Gebräuche geordnet sind, ist ein viel allgemeineres […] und in unserer eigenen Seele vorhanden, so dass wir uns alle Möglichkeiten selbst ausdenken könnten.“

Rituale: Bundeswehr (Fahneneid), Modenschau, Rockkonzerte, Fußballnationalmannschaft (Hymne), Preisverleihungen, Hochzeit, Beerdigung, Festessen.

Das Ritual bindet im Gegensatz zur Unterhaltung alle Anwesenden ein. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob man eine Dommesse als Zuhörer oder Gläubiger besucht. Letztere, so Wittgenstein, unterscheiden sich von Ersteren, indem ihr ganzes Leben von der Religion durchdrungen ist. Wer die Bibel als Literatur konsumiert, erfährt etwas anderes als ein Gläubiger, der darin liest.

„Unsere Seele will anders als der Verstand ‚erlöst‘ werden, und wem dies zuteilwurde (Wittgenstein selber wohl während des Ersten Weltkriegs), ist danach nicht mehr in der Lage, von Herzen zu zweifeln. ‚...sei erst erlöst & halte an Deiner Erlösung (halte Deine Erlösung) fest – dann wirst Du sehen, dass Du an diesem Glauben festhältst. Das kann also nur geschehen, wenn Du dich nicht mehr auf diese Erde stützt, sondern am Himmel hängst. Dann ist alles anders und es ist ‚kein Wunder‘, wenn Du dann kannst, was Du jetzt nicht kannst. (Anzusehen ist freilich der Hängende wie der Stehende aber das Kräftespiel in ihm ist ja ein ganz anderes & er kann daher ganz anderes tun als der Stehende.)“

Wittgenstein begann ursprünglich zu philosophieren, um das Wesen der Mathematik zu erhellen, und seinen Befunden zufolge beruht sie auf den von allen geteilten Gewohnheiten einer größeren Gemeinschaft.

Rituale sind in diesem Sinne „mathematische Formationen“ oder „Verläufe“, möglichst elegant und mühelos.

Die Rituale als Sinneinheiten unserer Gesellschaft wären das, in was sich Zuwanderer integrieren ließen.

Es könnten zu diesem Zweck eigene (neue) Rituale gestiftet werden – wenn der Wert solcher „Keimzellen der Bedeutung“ erkannt würde.


MAN WIRD OFT VON EINEM WORT BEHEXT, ZUM BEISPIEL VOM WORT „WISSEN“ – Wittgensteins Über die Gewissheit


Wittgenstein möchte den Ausdruck „Ich weiß“ für Fälle reservieren, „in denen er im normalen Sprachverkehr gebraucht wird“ – weil, wie er in Über die Sicherheit 482 schreibt, „das ‚Ich weiß‘ keine metaphysische Betonung verträgt.“

Unter „metaphysisch“ versteht er, wie gesagt, „strenge Gewissheit“. Das Sprachspiel mit dem Wort „wissen“ aber sieht keine Superwahrheiten vor. Sie klingen entweder sinnlos („Ich weiß, dass es eine Welt gibt!“) oder lächerlich beziehungsweise komisch („Ich weiß, dass meine Hände an meinem Unterarm befestigt sind“).

Echtes Wissen ruht in selbstverständlichen Gegebenheiten und kommt in praktischen Sätzen zum Ausdruck wie „Wenn ich mein Auto vor dem Werkstattbesuch wasche, wird es geflissentlicher repariert“ oder „Es wird leichter etwas vergeben als erlaubt“. Es ist die Frucht von gemeinsamem Handeln sowie dessen Ergebnissen.

Wittgenstein benutzt zur Veranschaulichung das Sinnbild eines Flusses, dessen Bett dem Wasser in ihm Form und Richtung gibt, von diesem aber auch unentwegt verändert wird. Das Bett stellt unseren „Wissensgrund“ dar, der unser Tun (das Wasser) führt sowie von ihm verändert wird.

Ohne Fluss kein Bett, ohne Tun kein Wissen. Nach Wittgensteins Beobachtungen entsteht das Besinnliche nicht durch Nachdenken, sondern durch Handeln – im Sprachspiel, welches ein mehrere Größen einbindender Verlauf ist. Ohne Teilnahme keine Bedeutung, kein Wissen.

Nur das zwischenmenschliche Handeln schöpft und erhält echte Bedeutung. Es unterschiedet sich von Verhalten, indem es von seinen Gründen, nicht den Ursachen her erfasst wird. (Gründe beziehen sich auf das „Ufer“, Ursachen liegen rein „im Fluss“, sind – im Gegensatz zu den Gründen – endlos.)

Handlungen haben im Gegensatz zu Ursachen keine Geschichte, kein „Volumen“, wie Wittgenstein sich ausdrückt.

„Tun scheint selbst kein Volumen der Erfahrung zu haben. Es scheint wie ein ausdehnungsloser Punkt, die Spitze einer Nadel. Diese Spitze scheint das eigentliche Agens. Und das Geschehen in der Erscheinung nur Folge dieses Tuns. ‚Ich tue‘ scheint einen bestimmten Sinn zu haben, abgelöst von jeder Erfahrung“ (Philosophische Untersuchungen 620).

Wir agieren, wenn wir etwas tun, das den Namen Handlung verdient, spontan. Es gibt nichts, was einer Handlung vorausgeht und ihr angehört, indem es sie zum Beispiel auslöst. Insbesondere nicht unser Wille. Im Willen lebt unsere Fähigkeit, nicht aber der Anstoß, zu handeln.

Handlungen sind begründet und können infolgedessen gerechtfertigt werden, Verhalten dagegen ist verursacht. Man fragt einen Menschen nicht nach den Ursachen seines Handelns, sondern nach den Gründen. Welche er angeben können muss, um sein Tun als Handeln zu identifizieren. Ursachen werden dagegen nicht erfragt, sondern beobachtet – als Ereignisse, die einem bestimmten Tun immer wieder vorangehen.

Es wird von einem Menschen erwartet, dass er die Gründe seines Handelns angeben kann – die Ursachen seines Verhaltens muss er hingegen nicht kennen. Gründe können vorgeschoben oder angezweifelt werden, Ursachen nicht.

In Gründen äußert sich das in einer Handlung anwesende „Ufer“: das nicht hinterfragte „Wissen“ einer Gemeinschaft. Gründe sind insofern nichts Persönliches, keine Ausgeburten desjenigen, der sie hat, sondern etwas Allgemeingültiges, von ihm unabhängig Geltendes, das er für sein Handeln in Anspruch nimmt. Handeln unterliegt immer der öffentlichen Kritik, muss gerechtfertigt werden können.

Handeln ist – insofern – konventionell: indem es Konventionen entweder genügt oder diese sogar stiftet (Formung des Ufers durch den Fluss).

Die Urhandlung, Quelle jeglicher Bedeutung, aber ist das Sprachspiel, das, „was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt […] gleichsam […] etwas Animalisches“.

Bedeutung lebt in den Mustern einer „animalischen“ Regelmäßigkeit, die Vertrautheit erzeugt, ohne deswegen zu erstarren. Der Fluss bewegt sein Bett.

Die Einheit von Fluss, Bett und der Bewegung der beiden bildet unser Bewusstsein, welches infolgedessen eine Funktion seiner Umgebung, von „Welt, Klima und Schwerkraft“ ist. Auf die Bemerkung eines seiner Studenten, er wolle nicht wieder in der Steinzeit leben, erwiderte Wittgenstein, ein Steinzeitmensch würde wohl nicht anders empfinden, nur umgekehrt, wenn er in unserer Mitte landen sollte.

In seiner Notizensammlung Über die Gewissheit beschäftigt sich Wittgenstein mit der Frage des Wissens. Macht es Sinn, zu sagen, man „wisse“ Sachen, die zum „Ufer“ gehören, die unserer Lebenswelt und dem Denken in ihr die Form verleihen?

Jemand sagt zum Beispiel, er „wisse“, dass die Erde sich um ihre Achse drehe oder rund und keine Scheibe sei, oder er sei sich ganz sicher, zwei Augen im Kopf zu haben. Klingt irgendwie komisch.

„Wenn ich sage ‚Wir nehmen an, dass die Erde schon viele Jahre existiert habe‘ (oder dergl.), so klingt es freilich sonderbar, dass wir so etwas annehmen sollten. Aber im ganzen System unsrer Sprachspiele gehört es zum Fundament. Die Annahme, kann man sagen, bildet die Grundlage des Handelns und so natürlich auch des Denkens“ (Über die Gewissheit 411).

Wir können nicht das, was unser Denken instand setzt, zu dessen Gegenstand machen.

„Das, worauf ich abziele, liegt auch in dem Unterschied zwischen der beiläufigen Feststellung ‚Ich weiß, dass das …‘, wie sie im gewöhnlichen Leben gebraucht wird, und dieser Äußerung, wenn der Philosoph sie macht“ (Über die Gewissheit 406).

Der „Philosoph“, befürchtet Wittgenstein, gebraucht „Ich weiß“ anders als der normale Mensch – und bringt infolgedessen unseren Verstand durcheinander, indem er etwa Sätze sagt wie „Ich weiß, dass die Welt seit mindestens 2.000 Jahren existiert“ oder „Ich weiß, dass die Vergangenheit nicht nur Erinnerung, sondern wirklich ist“ usw.

„Ist es aber eine genügende Antwort auf die Skepsis der Idealisten oder die Versicherungen der Realisten: ‚Es gibt physikalische Gegenstände‘, dass es Unsinn ist? Für sie ist es doch nicht Unsinn. Eine Antwort wäre aber: diese Behauptung, oder ihr Gegenteil, sei ein fehlgegangener Versuch, (etwas) auszudrücken, was so nicht auszudrücken ist. Und dass er fehlgeht, lässt sich zeigen; damit ist aber ihre Sache noch nicht erledigt. Man muss eben zur Einsicht kommen, dass das, was sich uns als erster Ausdruck einer Schwierigkeit oder ihrer Beantwortung anbietet, noch ein ganz falscher Ausdruck sein mag. So wie der, welcher ein Bild mit Recht tadelt, zuerst oft da den Tadel anbringen wird, wo er nicht hingehört, und es eine Untersuchung braucht, um den richtigen Angriffspunkt des Tadels zu finden“ (Über die Gewissheit 37).

Ein Wissensanspruch versucht immer, dem Zweifel, es könne sich auch andersherum verhalten, zu begegnen (die Welt könne also „nicht existieren“, wenn ich zu wissen vorgebe, dass sie es tue). Aber macht ein Zweifel immer Sinn?

Von dem, was für uns feststeht, können wir nicht sagen, wir wüssten es. Denn das Feststehende „gehört zur Methode unseres Zweifelns und Untersuchens“. Ein Zweifel muss immer einen Inhalt haben, dessen Bestehen er infrage stellt. Die Möglichkeit dieses Inhalts kann er nicht auch noch anzweifeln, ohne leer, also sinnlos zu sein.

Von „Wissen“ kann man nur reden, wo auch „Irren“ möglich ist – und umgekehrt. Wenn ich Sydney für die Hauptstadt Australiens halte, ist dies ein Irrtum im Schatten des Wissens, dass es tatsächlich Canberra ist. Wenn ich hingegen glaube, dass die Welt nicht existiert, ist dies kein Irrtum im Schatten des Wissens, dass es sie gibt, sondern ein Merkmal meines Wahnsinns.

Das, worin wir uns nicht irren können, ohne dass unsere Welt sich auflöst, kann auch nicht gewusst werden – vielmehr sind wir uns seiner sicher.

Einen Wissensanspruch geltend zu machen gegenüber dem, was feststeht, verleiht diesem keine größere Gewissheit, sondern den falschen Schein derselben. Freilich kann, was normal erscheint, verschwinden – infolge von zum Beispiel Wahnsinn, Drogen, Täuschung, Geistesstörung, unerhörten Ereignissen, Verwirrung, Blindheit oder „geistiger Wiedergeburt“. Das stellt aber nicht die Hinlänglichkeit seines Gegebenseins infrage, welches wir weder „wissen“ noch „bezweifeln“ können, weil es diese Operationen überhaupt erst ermöglicht.

So gibt es kein „Superwissen“ über die Welt, nur einen vertrauten, fließenden Verkehr der Menschen untereinander sowie mit den Dingen ihrer Umgebung.

Im Kielwasser Wittgensteins stellt sich jede Form überweltlicher Gewissheit – ob sie sich in Ideologien zeigt, im wissenschaftlichen Vormarsch oder in der Mathematik (zu deren Fanatismus Wittgenstein das unerschrockenste Verhältnis hat) – als Trug heraus. Sein Feingespür, dass wir in puncto Gewissheit nie über diejenige unserer normalen Sprachspiele hinauskommen, unterhöhlt die Superrealitäten der Wissenschaft ebenso wie diejenigen des ihr nacheifernden ideologischen Gegenübers.

Die gottähnliche Sicherheit des kartesianischen Subjekts ist übergegangen in die Wissenschaften, welche inzwischen bestrebt sind, unseren Alltag unbewusst immer mehr ihren Algorithmen anzugleichen.

Die organische oder normale Gewissheit im Sinn Wittgensteins ist eine Handlungskategorie, die Bedeutung schöpft im unbedachten Tun und Denken unseres Alltags, welcher sie rechtfertigt, ohne selber gerechtfertigt werden zu können. Man kann sich höchstens einen anderen einhandeln. Er liefert das menschliche Maß an Normalität, das weiterlebt, auch wenn alles ringsum zusammenbricht oder erstarrt, und dann hinarbeitet auf dessen Wiederauferstehung.


„WAS AUF EINER LEITER ERREICHBAR IST, INTERESSIERT MICH NICHT“ – Wittgenstein über das Wunder der Normalität


Die Quelle jeglicher Bedeutung und echter Besonderheit liegt für Wittgenstein in der Normalität.

„Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen“, schreibt Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen. „(Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, dass ihm dies einmal aufgefallen ist. – Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“

In den Vermischten Bemerkungen fügt er hinzu: „Ich könnte sagen, wenn der Ort, zu dem ich gelangen will, nur auf einer Leiter zu ersteigen wäre, gäbe ich es auf, dahin zu gelangen. Denn dort, wo ich wirklich hin muss, dort muss ich eigentlich schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht.“

Damit soll gesagt sein, dass die Quelle tiefer Bedeutung im Unbewussten oder im Alltag liegt, in unserer normalen, eingespielten, unmittelbaren Umgebung (inklusive deren Wesen und deren Möglichkeiten) sowie in der Sprache, in welcher sie sich vollzieht. Wittgenstein lehnt daher jede Form von Jargon ab, äußert sich fast ausschließlich in Alltagsbegriffen. Er tut dies, um im Gründlicheren zu bleiben, da alle Terminologien bereits Abkömmlinge dieses Nährgrunds sind. Es ist ihm egal, was für „Bauten“ darauf errichtet werden, da diese bereits etwas von einem Luftgespinst haben. Entscheidend für den Philosophen ist der lebendige Urgrund – seine Bewegungen, denn er bleibt nie „mit sich identisch“. Zwar verändert er sich selten blitzartig, jedoch wird er sachte mitgenommen wie das Flussbett vom darin strömenden Wasser, wenn man es nicht zu sehr betoniert.

Nichts Selbstverständliches ist jemals bedeutungslos!

Wittgenstein braucht deswegen auch nur auf der Stelle stehen zu bleiben und sich in die natürlichen Formen und Läufe seiner Umgebung zu versenken, um in Stimmung zu kommen. Sein Philosophieren besteht in einem unausgesetzten Zwiegespräch mit sich selbst, in dessen Verlauf er Fragen stellt und den Antworten lauscht, die ihm der Werktag gibt: „Jeden Morgen muss man wieder durch das tote Geröll dringen, um zum lebendigen, warmen Kern zu kommen“, schreibt er in seinen Vermischten Bemerkungen. „Beim Philosophieren muss man ins kalte Chaos hinabsteigen und sich dort wohl fühlen [sic!].“

Die normale Welt, das Tor zur Bedeutung, wird seiner Meinung nach erniedrigt, indem man sie vergleicht mit etwas angeblich Fundamentalerem oder Wirklicherem wie der Metaphysik und ihrem Gott und ihrem die Welt stellenden, vorsichtigen Denken. So wie wir heute das Diesseits von Physik oder Mathematik für realer halten als die normale Menschenwelt, welche es auch verändert, der seine Regeln aber allzeit entspringen.

Wittgensteins Methode, zu denken, verzichtete auf jede Systematik, buchstabiert keine Regeln, es sei denn, man möchte die besinnliche Auseinandersetzung ausschließlich in Alltagsworten eine Regel nennen: „Unsere Zivilisation ist durch das Wort ‚Fortschritt‘ charakterisiert“, schreibt er dazu in seinen Vermischten Bemerkungen. „Der Fortschritt ist ihre Form, nicht eine ihrer Eigenschaften, dass sie fortschreitet. Sie ist typisch aufbauend. Ihre Tätigkeit ist es, ein immer komplizierteres Gebilde zu konstruieren. Und auch die Klarheit dient doch immer nur dem Zweck und ist nicht Selbstzweck. Mir dagegen ist die Klarheit, die Durchsichtigkeit, Selbstzweck. Es interessiert mich nicht, ein Gebäude aufzuführen, sondern die Grundlage aller möglichen Gebäude durchsichtig vor mit zu haben. Mein Ziel ist also ein anderes als das der Wissenschaftler & meine Denkbewegung von der ihrigen verschieden.“

Wittgenstein charakterisiert damit seine Hinwendung zur Alltagssprache nicht als Ausdruck von Bescheidenheit, sondern des Wunsches nach echter Tiefe und Klarheit, welche bloße Abstraktion nicht liefern kann, sondern nur das, worauf sie ruht und das sie nährt.


SELBSTLOSIGKEIT – Wittgensteins Befreiungsschlag gegen die Identität


In seiner Logisch-philosophischen Abhandlung (Tractatus) verblüfft uns Wittgenstein mit folgender Behauptung: „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem [sic!] zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts“ (Tractatus 5.5303).

Klar, zwei Steine zum Beispiel können nicht identisch sein, sonst wären sie ja einer. Dass aber ein Ding mit sich selbst identisch sein soll, ist ein merkwürdiger Gedanke, denn durch ihn wird etwas verdoppelt: Im Ding ruht seine „Dingheit“: Ein Stein hätte eine Identität kraft seiner „Steinheit“. Es wird auf diese Weise ein metaphysisches Schattenreich postuliert, in dem alles, was es gibt, noch einmal existiert: als Rücksicht, zu deren Bestimmung man aber auf nichts zeigen kann mit Ausnahme des Gegenstands, welcher sie deutet.

Solcher Art, meint Wittgenstein, wird weiter nichts gesagt. Man kann mit anderen Worten gleich bei der Sache bleiben und deren „Prinzip“ vergessen.

Dinge haben – infolgedessen – keine Identität: nichts „Bestimmtes“, das sie erst zu dem macht, was sie „unabänderlich“ sind.

Das trifft auch auf unser Selbst zu: „Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht“, behauptet er in der Logisch-Philosophischen Abhandlung 5.631.

Damit ist nicht gemeint, dass uns nichts durch den Kopf geht. Vielmehr ist unser Gemüt im Gegenteil voller Gedanken und Vorstellungen. Nur untermauern diese nichts Prinzipielles, meint Wittgenstein. Er will damit zum Ausdruck bringen, dass bestimmte Bewusstseinsinhalte einen Menschen nicht „identifizieren“ oder unverwechselbar machen.

Das Auflösen des „Trugs“ sogenannter „Identität“ und die darin liegende Kritik oder sogar Feindlichkeit gegenüber dem Ich sind weniger philosophisch als religiös bestimmt, sie wollen zu „Selbstlosigkeit“ führen, zum Beispiel im Buddhismus oder im „kenotischen Christentum“, dem zufolge der Herr bei der Menschwerdung auf seine göttlichen Attribute verzichtete als Vorbild für das „Leerwerden“ des menschlichen Ichs, an dessen Stelle die göttliche Gnade treten soll. (Auch Dostojewski und vor allem Tolstoi, Wittgensteins Lieblingsautor, stehen beispielhaft für den selbstlosen Geist der Entäußerung.)

Je länger man sich mit Wittgenstein beschäftigt, desto mehr kommt man zu der Auffassung, dass es, will man echt bleiben, weder feststehende Gegenstände oder Subjekte noch eine stabile Identität irgendeiner vorstellbaren Sache geben kann. Dies ist – im Sinne Wittgensteins – jedoch nicht etwa bedauerlich, sondern wird als Unmittelbarmachung des Lebens durch das Ernstnehmen seiner mehrenden Möglichkeiten begrüßt. Nietzsche, der diese Vorstellung anstieß, schreckte innerlich noch zurück vor der jähen Abwesenheit des Prinzipiellen und sein Romantizismus hinderte ihn daran, die besinnliche Fülle des Alltags, seiner Äußerungen und Entwicklungen als hinreichende Antwort auf den „Tod Gottes“ oder der Metaphysik zu würdigen.

Ähnlich ging die Nietzsche folgende französische Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Wittgenstein noch am nächsten verwandt unter den jüngeren Philosophen dürften Martin Heidegger und Gilles Deleuze sein, der dem Vorantreibenden ebenfalls den Vorrang gibt vor dem Feststehenden, nur dass er als Kartesianer (wie alle französischen Philosophen) nicht die Geheimmechanismen zu erraten vermag für dessen Entstehen, die überflüssig und irrelevant sind („Rhizom“ zum Beispiel heißt bei Wittgenstein „Sprache“). Deleuze hat Wittgenstein zum „Totengräber der Philosophie“ erklärt, was insofern sogar zutrifft, als Wittgenstein das Prinzipielle abtut. Andererseits dürfte Deleuze Wittgenstein kaum gelesen haben, der jedoch seinerseits wiederum viele Philosophen nicht kannte und seinen Studenten davon abriet, deren Werke zu lesen.

Ein anderer Denker, der Wittgenstein gleicht, ist Meister Eckhart, dessen „Gelassenheit“ in der für Wittgenstein typischen Offenheit, inneren Freiheit und „charakterlosen Denke“ wieder auflebt.

Wittgensteins Ziel, „der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas“ zu zeigen, ist erreicht, wenn man die Vorstellung aufgibt, ein bestimmtes ICH zu sein, das über private Inhalte – mentale Gegenstände und Vorgänge – verfügt. Stattdessen philosophiert man lieber selbstlos ohne Bestimmungen bzw. Rücksichten, zum Beispiel auf Familie, Stamm, Nation, Klasse, Volk, Beruf, Geschlecht oder Eigentum, zu dem auch Wissen und ICH zählen. Selbst die Vorstellung des geistigen Eigentums löst sich so auf. „Tragen meine Bemerkungen keinen Stempel an sich“, schreibt Wittgenstein im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen, „der sie als die meinen kennzeichnet, – so will ich sie weiter auch nicht als mein Eigentum beanspruchen.“

„Ehrgeiz ist der Tod des Denkens“, heißt es in den Vermischten Bemerkungen – wobei man „Ehrgeiz“ ersetzen sollte durch „Ich“ sowie dessen „Besitztümer“ (Theorien, Vorstellungen, Träume, Urteile, Wissensbestandteile).

Dadurch wird folgende Frage immer vordringlicher: Wenn man absieht von der „Fiktion des ICH“, die nichts bedeutet, was macht den „befreiten“ Menschen denn dann noch aus?

Der Mensch ist sein Körper, zusammengefasst in seinem Gesicht und dieses wiederum zusammengefasst in seinen Augen. Haltung, Gang, Stimme und Kleidung machen ihn beseelt. Ebenso wie die Tatsache, dass er spricht.

„Wenn der Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“, lautet das berühmte Bonmot Wittgensteins. Warum können wir ihn nicht verstehen? Weil sich sein Unterbewusstsein zu stark von unserem unterscheidet, um uns in dessen Sprache, wenn es denn eine gäbe, hineinzufinden. Gleichzeitig gibt es einige Gemeinsamkeiten, die wir durchaus nachvollziehen können: die elegante Bewegung des Körpers, die königliche Ausstrahlung – eine innere „Katzenhaftigkeit“ könnten wir uns auch noch vorstellen. Nicht vorstellen könnten wir uns hingegen, was es hieße, als sprechender Löwe auf der Welt zu sein, wie unser Geist oder unsere Seele als Löwe beschaffen wären. (Ähnlich geht es einem, wenn man in eine völlig fremde Kultur gerät. Wir können uns einen Löwen vorstellen, der deutsch spricht. Aber „löwisch“, das fiele uns schwer …)

In seinen Tagebüchern 1914–16 schreibt Wittgenstein am 15.10.1916:

„Ist es wahr, dass sich mein Charakter nach der psychophysischen Auffassung nur im Bau meines Körpers oder meines Gehirns und nicht ebenso im Bau der ganzen übrigen Welt ausdrückt?
Hier liegt ein springender Punkt.
Dieser Parallelismus besteht also eigentlich zwischen meinem Geist, i. e. dem Geist, und der Welt.
Bedenke nur, dass der Geist der Schlange, des Löwen, dein Geist ist. Denn nur von dir her kennst du überhaupt den Geist.
Es ist nur freilich die Frage, warum habe ich der Schlange gerade diesen Geist gegeben.
Und die Antwort hierauf kann nur in einem psychophysischen Parallelismus liegen: Wenn ich so aussähe wie die Schlange und das täte, was sie tut, so wäre ich so und so.
Das Gleiche beim Elefanten, bei der Fliege, bei der Wespe.
Es fragt sich aber, ob nicht eben auch hier wieder (und gewiss ist es so) mein Körper mit dem der Wespe und der Schlange auf einer Stufe steht …
Ist das die Lösung des Rätsels, warum die Menschen immer glaubten, ein Geist sei der ganzen Welt gemein?
Und dann wäre er freilich auch den unbelebten Dingen gemeinsam.“

Man sieht mit anderen Worten das Leben in seinen Gestalten; die Kreaturen sind ebenso beseelte Körper wie verkörperte Seelen.

„Körper“ und „Geist“ im herkömmlichen Sinn schließen einander aus und können nie zusammenfinden – eine von ihrer Erscheinung her ausdrucksstarke Gestalt jedoch sowie ein sprechendes Bewusstsein können sich in einem Körper vereinen. Und dieser ist der Mensch: sein Wesen und seine Möglichkeiten.


DER NEUE STIL DES DENKENS – nach Ludwig Wittgenstein


Der späte Wittgenstein denkt nicht abstrakt, sondern in Bildern bzw. Metaphern.

Zum Beispiel schreibt er in Zettel 452: „Wie kommt es, dass die Philosophie ein so komplizierter Bau ist? Sie sollte doch gänzlich einfach sein, wenn sie jenes Letzte, von aller Erfahrung Unabhängige, ist, wofür du sie ausgibst. – Die Philosophie löst Knoten auf in unserem Denken: daher muss ihr Resultat einfach sein, das Philosophieren aber so kompliziert wie die Knoten, welche es auflöst.“

Was er hier sagen will, wird vermittelt durch die Metapher des „Knotens“ – im Folgenden durch jene des „Netzes“:

„Die Menschen sind im Netz der Sprache verstrickt und wissen es nicht“ (Philosophische Grammatik 462).

Ein weiteres Beispiel stammt aus den Vermischten Bemerkungen:

„Die Gefahr eines langen Vorwortes ist, dass der Geist des Buches sich in ihm zeigen muss und nicht beschrieben werde kann. Denn ist ein Buch nur für wenige geschrieben, so wird sich das eben dadurch zeigen, dass nur wenige es verstehen. Das Buch muss automatisch die Scheidung derer bewirken, die es verstehen und die es nicht verstehen. Auch das Vorwort ist eben für solche geschrieben, die das Buch verstehen.
Es hat keinen Sinn, jemandem etwas zu sagen, das er nicht versteht, auch wenn man hinzusetzt, dass er es nicht verstehen kann. (Das geschieht oft mit einem Menschen, den man liebt.)
Willst du nicht, dass gewisse Menschen in ein Zimmer gehen, so hänge ein Schloss vor, wozu sie keinen Schlüssel haben. Aber es ist sinnlos, mit ihnen darüber zu reden, außer du willst doch, dass sie das Zimmer von außen bewundern!
Anständigerweise hängt ein Schloss vor der Türe, das nur die anzieht, die es öffnen können und den anderen nicht auffällt.
Aber es ist richtig zu sagen, dass das Buch meiner Meinung nach mit der fortschreitenden europäischen und amerikanischen Zivilisation nichts zu tun hat.“

Die Aussage seiner Rede liegt hier in der Metapher des „Schlosses“ zu einem „Zimmer.“

Diese Ausdrucksweise – alltagssprachlich und in Sinnbildern – führt dazu, dass jene, die „metaphysischere“ Ausdrücke gewohnt sind, dazu neigen, Wittgenstein nicht ernst zu nehmen oder für lächerlich zu halten.

Dies geschieht vor allem aus der Sicht des stellenden Stils, eines Abkömmlings von Mathematik und Logik.

Aus dieser Warte geschriebene Philosophie versucht, möglichst inhaltsfrei zu bleiben, wie es Wittgenstein selbst in seinem Frühwerk tut, das diesen Gestus auf die Spitze treibt (womöglich sogar parodiert). Die Überzeugung besteht hier darin, dass das Grundsätzliche in der Abstraktion herauskommt, am besten anhand von Algorithmen, und nicht etwa in Gestalt von Kultur und Ritus. Wer dieser Überzeugung anhängt, beginnt den Mathematikunterricht schon bei kleinen Kindern mit der Mengenlehre, statt sie „Äpfel“ und „Schafe“ zählen zu lassen, und lehrt, dass unsere denkerischen Wurzeln am besten durch künstlich intelligente Maschinen vorgestellt werden, deren genaue Verläufe nur eine neue Priesterkaste von Fachleuten hinbekommt.

„Denn wenn wir auch in unsern Untersuchungen das Wesen der Sprache – ihre Funktion, ihren Bau – zu verstehen trachten“, charakterisiert Wittgenstein den abstrakten Ansatz, „so ist es doch nicht das, was diese Frage im Auge hat. Denn sie sieht in dem Wesen nicht etwas, was schon offen zutage liegt und was durch Ordnen übersichtlich wird. Sondern etwas, was unter der Oberfläche liegt. Etwas, was im Innern liegt, was wir sehen, wenn wir die Sache durchschauen, und was eine Analyse hervorgraben soll.“

Das rechnende, stellende Denken hat einen „Röntgenblick“, indem es versucht, den „Knochenbau“ seines Gegenstands zu erfassen und zu zerlegen (etwa die Schemata und Kategorien des Denkens sowie die Staffelung seiner Begriffe).

Wittgenstein meint dagegen, was eigentlich zähle, liege schon „offen zutage“ und würde „durch Ordnen“ übersichtlich. Die westliche Metaphysik versucht demgegenüber, „unter die Oberfläche“ zu schauen, wo sie nach den Fundamenten gewissermaßen im Keller sucht, der ausgeleuchtet werden muss. Dabei liegt, was wir wirklich brauchen – im Keller liegt schon auch etwas, nur benötigen wir es in der Regel nicht –, in unserem Blickfeld. Statt weiter Phantomen und Trugbildern hinterherzujagen, müssten wir uns nur einmal vorurteilsfrei umschauen.

Seine neue Methode beschreibt Wittgenstein im 108. Abschnitt der Philosophischen Untersuchungen wie folgt:

„Wir erkennen, dass, was wir ‚Satz‘, ‚Sprache‘, nennen, nicht die formelle Einheit ist, die ich mir vorstellte, sondern die Familie mehr oder weniger miteinander verwandter Gebilde. – Was aber wird nun aus der Logik? Ihre Strenge scheint hier aus dem Leim zu gehen. – Verschwindet sie damit aber nicht ganz? – Denn wie kann die Logik ihre Strenge verlieren? Natürlich nicht dadurch, dass man ihr etwas von ihrer Strenge abhandelt. – Das Vorurteil der Kristallreinheit kann nur so beseitigt werden, dass wir unsere ganze Betrachtung drehen. (Man könnte sagen: Die Betrachtung muss gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.)
Die Philosophie der Logik redet in keinem andern Sinn von Sätzen und Wörtern, als wir es im gewöhnlichen Leben tun, wenn wir etwa sagen ‚hier steht ein chinesischer Satz aufgeschrieben‘, oder ‚nein, das sieht nur aus wie Schriftzeichen, ist aber ein Ornament‘ etc.
Wir reden von dem räumlichen und zeitlichen Phänomen der Sprache; nicht von einem unräumlichen und unzeitlichen Unding. [Randbemerkung. Nur kann man sich in verschiedener Weise für ein Phänomen interessieren.]“

Der entscheidende Sinn liegt hier in „unser eigentliches Bedürfnis“; wenn uns philosophische Probleme plagen, werden wir nicht befriedigt durch weitere Berechnungen, sondern nur durch „vollständige Klarheit“, die sich einstellt, wenn wir das besinnliche Verhältnis von Worten in den Blick nehmen.

„Richtig war, dass unsere Betrachtungen nicht wissenschaftliche Betrachtungen sein durften […]. Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d. i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen.“

Was unser Bedürfnis angesichts eines philosophischen Problems befriedigt, ist dessen Auflösung ins Selbstverständliche normal menschlicher Intelligenz, sodass wir danach mit keinem Verwirrungsersatz zurückbleiben. Das übersichtlicher Machen „durch Ordnen“ heißt, beispielsweise zu sagen: „Jene Benennung, Vorstellung, Wortverwendung gehört in der Normalsprache zu dieser hier und nicht, wie du ursprünglich dachtest, zu der dort.“ „Schmerz“ ist zum Beispiel nicht wie „Stuhl“ der Name für einen Gegenstand, den er bezeichnet, sondern ersetzt den Ausruf „Aua“. Oder stellt euch „Gewissheit“ nicht als höheren Grad des Wissens oder Glaubens vor, sondern als Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Gepflogenheiten. Stellt euch Rituale nicht als erfolglose Versuche vor, die Natur zu kontrollieren, sondern wie Tänze als menschliche Gesten oder körperliche Antworten auf bedeutende Angelegenheiten oder Erscheinungen.

Wittgenstein verwirft die Vorstellung der Notwendigkeit von Grundlagen und erinnert uns daran, dass wir uns allzeit in einem „zünftigen“ Zusammenhang bewegen, dem alle Bedeutung entspringt, auch jene, die in Verallgemeinerungen liegen mag, welche seine Erweiterungen sind, ihm jedoch nichts Fundamentales bringen.

Die Therapie, um unser Verständnis der Quelle aller Bedeutung dort, wo es leidet, zu heilen, besteht daher nicht in der Konsultierung ihrer abstrakten Auswüchse, sondern in der begrifflichen Aufhellung durch das Mittel des Sinnbilds.

Die Metapher ist deswegen besonders geeignet, weil sie auf der Bedeutungsebene ansetzt. Die Verbindungen, welche sie stiftet, stellen frische Wahrheiten heraus. Die Grammatik wird dadurch freilich nicht entlang irgendeines Standards ausgerichtet, sonst würde sich die Metaphysik ja wieder einschleichen. Vielmehr wird dem gesunden Menschenverstand im Namen der Grammatik – durch neu erscheinende Verbindungen – gestattet, wieder ins Licht zu treten.

Wittgenstein ruft uns ins Gedächtnis, dass planerischen Fähigkeiten, die sich dazu eignen, die Natur zu überwältigen, nicht erlaubt werden sollte, das wesentlich menschliche und weder serielle noch anwendungsbezogene, noch weltanschauliche Tun zu ersetzen, noch den ihnen zugrundeliegenden gesunden Menschenverstand, welchen die Grammatik unserer normalen Sprache verkörpert.


WITTGENSTEINS PROGRAMM


Das Philosophieren Wittgensteins dreht sich in erster Linie um BEDEUTUNG und weniger um ERKENNTNIS. „Was ist wahr?“ tritt zurück hinter „Was ist erheblich?“. Es geht Wittgenstein dabei weniger um einen klugen als um einen klaren Kopf.

Als Sitz echter Bedeutung umkreist Wittgenstein das menschliche Miteinander, verkörpert im unbedachten Alltag und seiner Sprache, welche Wittgenstein mit einem Fluss und dessen Bett vergleicht, die sich unausgesetzt aneinander ausbilden. Das Schöpfen von Bedeutung findet dabei in unmittelbaren, sich einbürgernden oder wieder in Vergessenheit geratenden „Flusswirbeln“ statt, die etwas Spielerisches haben, also mindestens zwei Menschen einbeziehen und von Wittgenstein daher im Wahrzeichen des „Sprachspiels“ zusammengefasst werden.

Es gibt unendlich viele – akute wie mögliche – Sprachspiele. Eine mächtige Familie derselben hat mit „Behauptung“ zu tun und entwickelt sich in der alles erklärenden Metaphysik sowie deren Verästelungen Mathematik, Wissenschaften, Technik, Ideologie usw. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die Welt planenden Standards anpassen, was ihnen in vielen Fällen auch gelingt. Hierbei kommt es dahin gehend zu der Verwirrung, dass diese Prinzipien – nicht der menschliche Alltag, das „Unbewusste“, welchem sie ihre Geburt verdanken – Träger aller Bedeutung sind. Wittgenstein versucht, diese in seinen Augen verhängnisvolle Fehleinschätzung aufzudecken, die zur Folge haben kann, dass entartende „Machenschaften“ unserer Lebensform diese erledigen.

Sein Unterfangen ist so schwierig, wie einen heutigen Intellektuellen davon zu überzeugen, dass die Mathematik ihre Geltung der Gewohnheit und nicht irgendetwas Unverbrüchlichem verdankt. Was Wittgenstein an der Philosophie faszinierte, war sein innerer Wunsch, die Mathematik zu rechtfertigen. Was er dabei herausbrachte, bildet den Körper seiner Philosophie, deren mathematische Teile zu umstürzlerisch sind, um momentan ernst genommen zu werden.


WITTGENSTEIN UND HEIDEGGER


Unter den Philosophen kommt als Einziger Heidegger an Wittgenstein heran. Was aber unterscheidet die beiden?

Heidegger ist sich wie Wittgenstein unserer unmittelbaren Umgebung und deren selbstverständlicher Verläufe als Sitz und Quelle echter Bedeutung bewusst. Als trainierter Philosoph fragt er sich jedoch, wieso es dies alles – das Universum und seine Möglichkeiten – gibt und „nicht vielmehr nichts“, während der ursprüngliche Ingenieur Wittgenstein entzückt die Hände zusammenschlägt angesichts des Wunders sowie der Möglichkeiten solcher Schöpfung.

Heidegger will „das Sein“ gerechtfertigt wissen und kommt deswegen letztendlich nur zum „Warten“ und nie an den Punkt, „mit den Augen zu denken“. Im Stil Wittgensteins drängt sich einem als Gegenbild das Theater auf: Wir müssen die Komödie zu Ende spielen und das Unglück ermüden. Während Heidegger sich fragt, wer der Autor des Spielplans sein könnte und woher unsere Einfälle auf der Bühne kommen, graut es Wittgenstein davor, eine „erbärmliche Aufführung“ zustande zu bringen, das Repertoire bedeutender Möglichkeiten verkümmern zu lassen. Dafür, scheint er zu befürchten, könnten wir einmal zur Rechenschaft gezogen werden, wenn nicht in dieser, dann in einer anderen Welt.

Heidegger urteilt wie Wittgenstein skeptisch über die Technik, wenn sie dazu übergeht, ergänzende Möglichkeiten menschlichen Seins und Glücks auf Diät zu setzen (zum Beispiel den Sinn fürs Rituelle, der heute nur noch in scheckigen Tätowierungen zum Ausdruck kommt).

Heideggers Frustration lässt sich gegenwärtig besser nachvollziehen als Wittgensteins latente Begeisterung (die eher in Deleuze weiterlebt). Sie gehört in eine Zukunft, in welcher das heutige Selbst verschwunden ist – nicht in einen Roboter, sondern in eine integrierte Subjektivität, welche nicht länger im Ich und seinen Geschäften stattfindet. Wittgenstein graut davor, dass wir es nicht bis dorthin schaffen könnten, denn es gibt keine sichtbare Brücke, nur das brennende Bedürfnis nach dem einzigen noch möglichen Ausweg.


Heidegger wartet auf die Erlösung vom Nichts durch das Sein – während Wittgenstein uns die Augen für das am nächsten Liegende und Offensichtlichste öffnen will.