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Nespresso-Kapseln . . .


. . . sollen neuerdings - durch ihr Verschwinden - die Welt verbessern. Das ist Augenwischerei. In welcher Hinsicht? Unsere gesamte moderne Zivilisation incl. all ihre Werte, der erreichten wie "immer noch nicht" erreichten, beruht auf der flüchtigen Voraussetzung, dass uns täglich mehr Energie zur Verfügung steht als die Sonne liefert. Sobald es damit - nach Erschöpfung der Kohle-, Öl und Uranvorräte - vorbei ist, brauchen wir eine neue Gesellschafts- und Werteordnung, um zu überleben. Zwänge, von denen wir wähnen, uns befreit zu haben, kehren zurück, vielleicht in anderem Gewand, aber es bleiben Zwänge. Ein schönes Sinnbild für die Emanzipation scheint mir das Autofahren bzw. der Führerschein: verschafft einem "Freiheit", außerordentliche Beweglichkeit, den Horizont erweiternd und die Möglichkeiten des Erlebens. Und doch ist es nur eine Funktion überschüssiger Energie, abnehmend mit der unausgesetzten Leerung der Speicher derselben. Unsere heutige Freiheit, Individualität entspringt nur zu geringem Grad unserem Wollen oder Können, sondern einem vorübergehenden Rausch aus flüchtigen Quellen. Die Nespresso-Kapsel ist ein Ausdruck davon und wird das drohende Ende, indem man auf sie verzichtet, um 2 Sekunden verschieben, nicht erübrigen, wie ihre Opferung suggerieren möchte. Heldenhaft wäre eher die Entwicklung genauerer Vorstellungen über Notwendigkeiten und Gestalt einer kommenden Zeit nach dem Ausklang des Energie-Intermezzos, die "Neugründung" der Menschheit gewissermaßen. Wie fantasielos da bis jetzt die Zukunftsromane sind! The Walking Dead entwickelt seine gesamte "neue Zivilisation" auf der Basis von verrottenden Hilfsquellen der alten (Konservennahrung, Verbrennungsmotoren, Patronen). Interessant würde es erst, wenn man wirklich sich wieder aus der Umwelt ernähren müsste: was das für Folgen auf die Gesellschaft und ihre Werte, das Individuum und seine Befreiung hätte. Es wäre vorstellbar, dass gerade die emanzipiertesten Menschen sich dann als die größte Gefahr für die Gesellschaft herausstellten und wie heute Terroristen unschädlich gemacht werden müssten.

Virtuelle Realität

Der misnomer schlechthin! Unsere Gegenwart verfügt über viel zuviel Energie | Material um "virtuell" sein zu können. Nur wer geringe Chancen hat, seine Ideen im dreidimensionalen Raum zu materialisieren, und daher in einer Welt der Konzepte, Entwürfe und Ideen verharrt, lebt und handelt "virtuell". Wie z. B. jene intelligenten Vorfahren, die "ums Lagefeuer" saßen und "Geschichten erzählten". Sie hatten kein anderes Mittel als die Sprache, um wahr werden zu lassen, was sie sich vorstellten = konnten es nicht in Filme, Bauten oder Waren umsetzen. Ihre naturale Umgebung oder kulturellen Artefakte waren gegenüber dem Reichtum der Vorstellung viel begrenzter, schlichter, als sie es gegenwärtig sind. Heute kann und muss alles gleich wirklich, greifbar sein oder werden. Die ständig sinkenden Kosten stofflicher Umsetzung ermöglichen die Verwirklichung selbst des simpelsten Einfalls, und kursorische Vorstellungen materialisieren sich augenblicklich zu Artefakten, die nur schwer wieder zu entfernen sind aus unseren Landschaften, Museen, Bibliotheken oder FB-Nachrichtenströmen, die sie verstopfen. Wir leben im nicht radikaler denkbaren Gegenteil einer virtuellen Welt. Überall versperren uns realisierte Vorstellungen den Blick, Geschmack, Distinktion, Konformität oder Protest signalisierend. Jede mentale Regung wird rücksichtslos - schon im Kindergarten - in materielle Gegenstände umgesetzt und erzeugt ein Übergewicht an physischen Artefakten, welches die Fähigkeit betäubt, sich rein etwas vorzustellen oder Eindrücke zu unterscheiden, die mit einer geringfügigen Mobilisierung von Stoffen einhergehen. Nur die mangelnde bzw. abhanden gekommene Ahnung vom wahren Wesen der Virtualität konnte dazu führen, dass unsere Wirklichkeit, die von härtester Materialität gekennzeichnet ist, uns "virtuell" vorkommt. Echte Virtualität könnte höchstens im Zeichen einer kommenden Ära neuer Nachhaltigkeit stehen, welche den Materialeinsatz entkoppelt hat vom Wachstum des Nutzen. Materialität ist bequemer, als sich etwas vorzustellen. Es ist leichter, einen Film anzuschauen, als ein Buch zu lesen - ein Objekt zu erwerben, als einen Gedanken zu formulieren. Es fordert geringeren persönlichen Aufwand, seine gesellschaftliche Besonderheit durch Objekte (früher Sportwagen | heute iPhone - Katzen-Postings . . .) zu signalisieren als beispielsweise durch kultiviertes Auftreten, "Gesprächsführung" oder andere persönliche Eigenschaften, deren Erwerb sich hinzieht.

Emanzipation . . .

. . . zeigt sich bei näherem Hinschauen als eine Funktion des Energie-Verbrauchs = je freier eine Person ist, desto mehr Energie (nicht nur inwendig, sondern Sonnenergie aus ihren verschiedenen Speichern und Quellen) steht ihr zu Verfügung. Auch geht Emanzipation, scheint's, immer einher mit einer Zunahme der Arbeitswut. Steinzeitmenschen, hörte ich neulich eine Vorlesung auf Youtube, haben wie z. B. auch Raubtiere nur wenige Stunden, höchstens sechs am Tag gearbeitet, die restlichen 10 waren Freizeit. Nach Mobilisierung der entsprechenden Enegiequellen arbeitet eine Person, je freier oder emanzipierter sie ward, umso längere Stunden. Selbst in der Freizeit wird, wo's geht, durch "Aktivitäten" versucht, den Kalorienverbrauch zu erhöhen. Sobald die Energie indessen knapp wird, bricht die gesamte Emanzipationsordnung, wie wir sie heute kennen, in sich zusammen. Energie muss aber nicht knapp werden, habe ich mich von Freunden, die mehr davon verstehen als ich, belehren lassen, indem es vor dem Ganzverbrauch der Sonnenspeicher Kohle und Öl gelingt, die Sonnenkraft effektiver zu sammeln (in Sonnenlichtfarmen, durch Windkraftwerke usf.) oder in Kernkraftwerken zu erzeugen. Gefahr lauert eher in der der Atmosphäre, die durch Zunahme von Emanzipation (Freiheit und Betriebsamkeit) der von ihr Beschirmten immer weniger in die Lage gerät, das Leben überhaupt zu schützen. Um zu überdauern, müssten wir daher entweder die Emanzipation oder die Anzahl derer verringern, welche sich ihr verschrieben haben. Anders ausgedrückt: entweder muss unser Lebensstandard sinken durch zurückgehende Energiekonsumierung - oder die Bevölkerung der Welt. Das wirksamste Mittel, letzteres zu erreichen, scheint in der Ausbildung der Frauen zu bestehen. Nachweislich haben die meisten Kinder die Analphabetinnen, je besser eine Frau aber ausgebildet ist, desto weniger Kinder bringt sie zu Welt. Besteht der Witz von Ausbildung am Ende darin, uns zum Verbrauch bzw. der Umsetzung von immer mehr Energie zu befähigen?

Sozialstaat . . .

. . . ist nur als Nationalstaat möglich: seine daseinsvorsorgende Inklusivität beruht darauf, dass sie an den Grenzen aufhört. Gleichheit und Gerechtigkeit aber, welche den Anspruch auf Umverteilung begründen, sind keine nationalen Grundsätze, sondern gelten wie auch die Menschenrechte, aus denen sie sich herleiten, weltweit. Die ultimative Umverteilung muss daher als universalistische Ideologie auf den Weltstaat bzw. die Weltgesellschaft zielen. Da es diese noch nicht gibt, müssen Staaten, in denen die Menschenrechte das höchste Gebot sind, ihre Sozialsysteme für die Zuwanderung öffnen. Diese dürfte die davon betroffenen Sozialstaaten indessen eher zerstören, als ihr Vorbild zu globalisieren. Der Sozialstaat befindet sich angesichts der Globalisierung mit ihrer umfassenden Mobilisierung von Produktionsfaktoren und Informationsströmen in der Defensive. Ein Ausbau des Sozialstaats bei gleichzeitiger Öffnung der Grenzen könnte sich als nicht nachhaltig erweisen. Warum sollte daher die Interessensgemeinschaft der Leistungsträger den Sozialstaat nicht als Bodensatz des ohnehin aus der Mode gekommenen Nationalstaats sehen und die Zuwanderung als Anlaß nehmen, ihn abzubauen? Dies wäre eine konsequente »liberale« Lösung = völlige Faktorenmobilität & völlige Freizügigkeit. Möglich würde sie nur, wenn der Staat sich auf seinen rechtsstaatlichen Kern zurückzieht und soziale Interventionen unterlässt (wie dies etwa in den USA im 19. Jahrhundert während der Masseneinwanderung aus Europa der Fall war). Freilich läge dies nicht im Interesse der Unterschichten in den Sozialstaaten, die gegen eine solche Entwicklung »populistischen« Widerstand leisten würden, den wir in der Tat gerade beobachten. Die Protestparteien scheinen allerdings auch nichts anderes in ihrem Programm zu haben, als die Abschaffung des Sozialstaates, der mit seinem Protagonisten R. Blüm in eine Zeltstadt am Rande Europas abgeschoben werden könnte.

Leitwerte

Rechtsstaatlichkeit, Fairplay, Rechte des Individuums, Beschränkung der Staatsgewalt, Verbindung von Individualismus und Gemeinwohlorientierung, Meinungsfreiheit (inklusive Religionsfreiheit), Arbeitsethos, Orientierung am Fortschritt, Ausbildung von Vertrauen, Wertschätzung von Bildung und Erziehung. Ein wichtiges, wenn nicht das entscheidendes Element ist dabei das Vertrauen. Es gibt, wie empirische Vergleiche verschiedener Länder zeigen, eine enge Korrelation zwischen dem Ausmaß von Vertrauen und der ökonomischen Effizienz. Das Maß des Vertrauens ist ein Maß der Zivilisiertheit und Leistungsfähigkeit. Im Jahr 2000 beantworteten 67 % der Dänen und 66 % der Schweden die Frage, ob man den meisten Menschen vertrauen könne, mit ja, aber nur 3 % der Brasilianer. Kooperationsbereitschaft und Vertrauen erleichtern den gesellschaftlichen Umgang, und im ökonomischen Sinn verringern sie die Transaktionskosten, was die Bereitschaft zur arbeitsteiligen Kooperation verstärkt. Hier komme ich auf Afrika zurück, das ich aus eigenem Erleben kenne. Der "Vertrauenspegel" liegt hier unterhalb 1%, sobald man die sozialen Einheiten Familie | Stamm verlässt. Ähnliche Verhältnisse erlebte ich in der Südsee mit einer interessanten Reaktion der früheren Kolonialmacht Frankreich, die in ihren überseeischen Territorien wie folgt verfährt: die Bevölkerung regiert sich mit selbstgewählten Organen - Ausnahme: Polizei, Rechtsprechung und Schulsystem. Gendarmen, Richter und Lehrer kommen aus Frankreich oder müssen französischen Standards genügen. Ein ähnliches Modell könnte angebracht und förderlich sein für Afrika, angefangen z. B. mit den Maghreb-Staaten: Einführung einer funktionierenden Judikative, unbestechlichen Polizei und kostenlosen Grundschulung als Bedingung für die Gewährung substantieller Entwicklungshilfe. Könnte mir vorstellen, dass es solche Überlegungen in Frankreich sogar gibt, sie hierzulande aber - mangels Kolonialerfahrung - falsch verstanden würden. Wenngleich wir doch mit der ehemaligen DDR im Grunde nicht anders verfuhren. Die meisten Deutschen kennen das Ausland, wenn sie auch viel reisen, nicht gut genug, um eine zutreffende Vorstellung davon zu haben, wie die Gemüter und Loyalitäten in Ländern geregelt sind, denen es nicht wie Korea, Japan, Taiwan oder demnächst hoffentlich Festlandchina und Indien gelang, das europäische Modell zu adaptieren (fängt schon bei Russland an, dann Afrika mit wenigen Ausnahmen, das ehemalige osmanische Reich usf.) und halten die von dort nun zu uns strömenden Flüchtlinge zumindest potentiell für "Staatsbürger". Wessen es dazu bedarf, ist aber das Ergebnis eines jahrelangen Abrichtungsprozesses durch Familien, Kindergärten, Schulen, Fernsehen, öffentliche Meinung und deren Träger, den die Flüchtlinge nicht mitbekommen haben (sie können sich z. B. nicht richtig vorstellen, nicht aus Dummheit, sondern mangels Erfahrung bzw. Übung, wie man sich einem Polizisten, geschweige Richter bei uns nähert). Eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung der europäischen Entwicklung war die Zerschlagung von tribalen Strukturen durch die Staaten der frühen Neuzeit, was eine elementare Vorbedingung des Nationalstaats bildete, der zum institutionellen Zentrum der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde: Zentralisierung der Herrschaft und der damit verbundenen Auflösung intermediärer Gewalten, also von Stämmen, Clans, Großfamilien, Personenverbänden und Klientelsystemen aller Art. Das Ideal des Nationalstaats als Rechtsstaat ist die Staatsunmittelbarkeit des Individuums (»gleiches Recht für alle«) und die Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols mit ausdifferenzierten Erzwingungsorganen (Polizei, Armee). Dieser Nationalstaat vereinheitlicht wichtige infrastrukturelle Elemente: Geld, Recht, Sprache, Verwaltung, Verkehrswesen, Staatsangehörigkeit. Er wird damit zum Dienstleister einer komplexen marktwirtschaftlich-industriellen Ökonomie, etwa auf dem Feld der Rechtsplege (Zivilprozeß statt Fehde). Um diese Leistungen erbringen zu können, muss eine zentrale, von oben nach unten durchstrukturierte Verwaltung errichtet werden, die den Ansprüchen bürokratischer Rationalität genügt (gegen Korruption und Klientelwesen). Ein zentrales Element dessen ist auch eine einheitliche, rechtsförmige und kalkulierbare Besteuerung. All dies ist jemandem, der nicht jahrelang damit groß geworden ist, so wenig unmittelbar einleuchtend wie unsereinem, sagen wir mal, der Brauch der Genitalverstümmelung. Unser Ideal des "gleichen Rechts für alle" schließt jeden Menschen ein auf dieser Welt, auch jene Mehrheit, die es gar nicht versteht und die Welt ganz anders sieht und gestaltet (etwa hier gerade zu beobachten in den Flüchtlingsheimen, wo nicht eingeschritten wird). Wir verstehen selber auch zu wenig, wie unsere "Freiheit", auf die wir uns soviel zu Gute halten, einem jahrelangen Erlernen der Muster entspringt, in denen sie sich dann entfaltet, wie wenig spontan sie mit anderen Worten ist, deswegen zähe und unter ständiger Strafandrohung erlernt werden muss. Wir können den Neubürgern nicht die Abrichtung ersparen, die wir selber erfahren (in der Regel vergessen) haben. Vielleicht tragen wir sie aber auch mehr noch und vorbeugend, mit dem Bewusstsein des durch sie bestimmten Selbst in jene Gegenden der Welt, welche ihnen aus eigener Kraft nicht zur Geltung zu helfen vermögen, ihr Interesse an Partizipation aber mittelbar kundtun durch die Entsendung hoffnungsvoller Teilnehmer an unserer Ordnung und ihren Früchten. Wer andererseits unseren Staat und seine Mittel nicht als Schöpfer, sondern Zwingherrn des modernen Individuums begreift, dem bleibt immerhin zu hoffen, dass die Zersetzung herrschender Verhältnisse - auch in Folge der Aufnahme ihnen entgegengesetzter Strebungen (Rückkehr zu tribalen Strukturen) - neue oder endlich Freiräume schafft. Persönlich halte ich diese Möglichkeit - der "Retribalisierung" - für nicht mal die unwahrscheinlichste, denn sie liegt im Trend, der sich zeigt in der endemischen Verächtlichmachung von Staat und Politik sowie deren Vertretern - bis hin neuerdings zum privatisierungsbesessenen Vormarsch der AfD, die unter völkischem Vorwand den Staat und seine Mittel gänzlich scheint abschaffen zu wollen (cf. in USA auch Trump).

Johann Georg Hamanns „kleine Schriftstellerei” von Bernhard Rang

Hamann war ein religiöser Mensch, genauer gesagt, er war ein Christ von besonderer Prägung. Für seine Zeit, die Epoche der Aufklärung, bedeutete er ein geistiges Elementarereignis. Erst heute sind wir vielleicht imstande, das Eigentümliche, Erregende und Prophetische seines Denkens neu zu erfahren. In umstürzender Weise hat Hamann Fragen gestellt, Blicke in verborgene Tiefen des Glaubens und Denkens getan. Der hessische Kanzler und politische Schriftsteller Friedrich Karl von Moser gab ihm den Beinamen eines „Magus im Norden”. Hamann selbst hat den Namen gern für sich aufgegriffen. Er reihte sich ein in die Magier oder Weisen des Morgenlandes. Wie diese will er Gold, Weihrauch und Myrrhe zu Füßen des Kindes und Weltheilandes niederlegen: Wunderbare und verhüllte Gaben der Nachforschung, wo jedes Blatt und jeder Satz, den er schrieb, mit geistiger Energie geladen war, mit „konzentrierter Intensität”, die schon Hegel an seiner Schreibweise rühmte. Magierhaft erschien aber auch den Zeitgenossen das Apokryphe und Sibyllinische seiner Schriften. So konnte der „Wandsbeker Bote” Matthias Claudius, mit Hamann befreundet, anläßlich dessen „Neue Apologie des Buchstaben H” sagen: „Übrigens hat er sich in ein mitternächtliches Gewand gewickelt, aber die goldnen Sternlein hin und her im Gewände verrathen ihn, und reizen, daß man sich keine Mühe verdrießen läßt.” Gewiß, der Zugang zu Hamann und seinen Schriften ist nicht leicht. Er denkt nicht in der üblichen Weise diskursiven und langsam fortschreitenden Gedankenganges, nicht, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, „wie eine Blindschleiche im Fahrgeleise, der Sicherheit wegen”, sondern eigentümlich sprunghaft, wie „eine Heuschrecke”. „Ich schleudere meine Gedanken weg. Von Gebirg zu Gebirg sollte der Odenschreiber gehen . . .”, schreibt er seinem Freund Lindner. Etwas Vulkanisches enthält alles, was er denkt und niederschreibt. Dennoch wahrt seine Sprache eine gleichsam höhere Folgerichtigkeit. So bezeugt er es Kant gegenüber: „In meinem mimischen Styl herrscht eine strengere Logic und eine geleimtere Verbindung als in den Begriffen lebhafter Köpfe.” Er weiß, daß auch seine Briefe oft schwer verständlich sind, „weil ich elliptisch wie ein Griech, und allegorisch wie ein Morgenländer schreibe”. Goethe, neben Herder der verständnisvollste Leser Hamanns (dessen gesammelte Schriften er herausgeben wollte), bemerkte angesichts dieser „sonderbaren Sprachhülle”, daß man hier „durchaus Verzicht tun müsse, was man gewöhnlich Verstehen nennt”, und sich mehr auf „das Ahnbare” beschränken solle. Um den Charakter dieser einmaligen Weise des Denkens und Verkündigens zu kennzeichnen, könnte als Motto zu den Schriften des Magus vorangestellt werden, was in den „Wolken”, dem „Nachspiel Sokratischer Denkwürdigkeiten”, Hamann selbst geäußert hat: „. . . der seinen Kiel in wilden Honig tunkt . . ., der wie Elias seine Lenden gürtet..., die Stimme eines Predigers, dem das Publikum eine Wüste ist, in der mehr Herden als Menschen wohnen.” Hamann besitzt den existentiellen Rang eines Kierkegaard. Und es ist nicht zufällig, daß dieser den Magus hoch einschätzte. Nicht nur teilte er dessen Zuneigung zu Sokrates und der sokratischen Methode, der „Hebammenkunst”. Nicht nur gehörte er mit Hamann zur großen Brüderschaft der Hypochonder. In der Schrift „Der Begriff Angst” bezieht sich Kierkegaard ausdrücklich auf Hamann und zitiert dessen Satz, der in einem Brief von 1781 an Herder steht: „Diese Angst in der Welt ist eben der einzige Beweis unserer Heterogeneität (Woandersher-Stammens).” Auch die Kategorie des Existentiellen und des Einzelnen fand Kierkegaard bei Hamann vorgebildet. Denn fast jede Schrift des Magus zielt auf einen bestimmten Menschen, hat einen konkreten und aktuellen Anlaß, wenn sie dann auch, aus existentieller Tiefe hervorbrechend, weit über den Adressaten hinaus in noch unbetretbares Gelände gerät, Sprache wird für das eigentlich Unaussprechbare, den logos ineffabile. Linie Am Beginn seines inneren Lebensweges stand die „Bekehrung”, das Londoner Ereignis des Jahres 1758, niedergeschrieben als „Gedanken über meinen Lebenslauf”. Es ist der Durchbruch zum Eigentlichen, die zweite Geburt des Königsberger Sohnes, der im Haus des Vaters, des altstädtischen Baders und Wundarztes, am 27. August 1730 das Licht dieser Welt erblickte. Hamann bleibt Königsberg, seiner Heimat, dieser ostpreußischen Haupt-, Handels- und Universitätsstadt, fast lebenslang treu. Außer London lernte er die Fremde während der ersten Studien- und Hofmeisterjahre in Mitau wie Riga, also in Kurland und Livland, kennen, und auch auf wenigen Reisen nach West- und Süddeutschland. In Königsberg, an der Pregel, von Seeluft umweht, schlägt er Wurzel. Lange Jahre lebt er im Haus des Vaters, mit der Baderstube, dem Lusthäuschen samt der Kürbislaube im kleinen Garten. Hier betreut er nach dem Tod des Vaters den in geistiger Dämmerung versunkenen, einst hochbegabten Bruder. Hier wird er jene Gewissensehe eingehen mit Anna Regina Schumacher, die als frisches Landkind in das Haus der Vaters gekommen war, dort als Magd diente, aber wie eine Tochter gehalten war. Am 27. September 1769 schenkte sie ihm den Ältesten, den Sohn Johann Michael, den der Vater menschlich-geistig sich zum Jünger und Freund erzog. Es folgten noch drei Töchter. So entfaltete sich im später erworbenen Haus des Packhofverwalters ein reges Familien- und Freundschaftsleben, nach Hamanns eigenen Worten: „Über gaudia domestica geht nichts; hierin besteht der einzige Himmel auf Erden.” Hamann besaß, gegenüber dem fast leiblosen Kierkegaard, eine leibnahe, vital frohe Menschennatur, trotz der ihn oftmals heimsuchenden acedia oder Schwermut. Er war ein starker Esser, verschmähte auch gute Weine nicht, die Freunde, wie Claudius oder Herder, ihm gern schickten. Als Bader- und Arztsohn hatte er genug Einsicht gewonnen in die Naturalia und auch Pudenda des Menschen. Das Geschlechtliche war ihm etwas Heiliges: „Vater sein ist die höchste Autorschaft und ein ebenso großes Geheimnis -.” Im „Versuch einer Sibylle über die Ehe” (1775) heißt es: „‚Das Geheimnis ist groß!’ - Alle Mysterien des Hymens sind daher dunkle Träume, die sich auf jenen tiefen Schlaf beziehen, worin die erste Männin zur Welt kam, als ein beredtes Vorbild für die Mutter aller Lebendigen.” Um das Geheimnis des Geschlechts kreisen neben der „Sibylle” auch jene beiden Schriften „Zweifel und Einfälle” und „Schürze in Feigenblättern”. Das „Hohelied” des Alten Testaments war ihm der „Nabel meiner Bibel”. Niemals frivol, doch nicht prüde, wagt er zu sagen: „Meine grobe Einbildungskraft ist niemals imstande gewesen, sich einen schöpferischen Geist ohne genitalia vorzustellen.” Alles Leben ist für ihn Leib. Und das Geschlecht ist der Leib des Lebens. So erlebte und dachte Hamann auch in allem Pneumatischen leibhaft. Er führte in Königsberg ein seltsam verborgen-öffentliches Leben. Durch Kants Vermittlung hatte er 1767 eine Dolmetscher- oder Korrespondentenstellung bei der Zollverwaltung, mit kleinem Gehalt, erhalten. So wurde er Zöllner, dies im palästinensischen, doch mehr noch evangelischen Sinn. In der Tat: Beides, die Verbindung mit der Magd und den Zöllnerdienst, faßte er als eine Demutsübung auf, als ein Mittel zur Vervollkommnung. Dank seiner früh erworbenen ökonomischen Kenntnisse durchschaute er, von seiner Praxis her, das für ihn verruchte System des friderizianischen Staates, der finanziellen Ausplünderung innerhalb der „aufgeklärten Despotie” des roi de Prusse. So richtete er an den „Salomo” Preußens, den König, seinen Widerpart, wiederholt Sendschreiben und polemisch gehaltene Botschaften, in denen er, bis zur Selbstgefährdung, den Zeitgeist, das bloße Nutz- und Vernunftdenken angriff. Aus der Enge des Zöllneramtes wurde Hamann im Schicksalsjahr 1777 durch Vermittlung des Berliner Freundes Reichardt befreit. Er erhielt die Stelle des Packhofverwalters, mit eigenem Haus, dicht am Pregel, so daß er die ein- und auslaufenden Schiffe sehen, auch mit Freunden manchen Stapellauf eines neugebauten Schiffes bewundern konnte. Linie Im großen nahen Baumgarten, seinem „Hain Mamre”, erging er sich oft und führte Gespräche mit den Freunden, später auch mit Schülern und Zöglingen, jungen Offizieren und den befreundeten Buchhändlern. Hamanns entschiedenes Christentum hatte nichts Mystisches, war in gleicher Weise entfernt von starrer Orthodoxie und vom Pietismus, der bloßen „Innerlichkeit”. Er wurzelte in der Begegnung mit dem Wort Gottes. Von hier ging für ihn das „Licht” auf, ein Licht über den Tiefen und Abgründen der Schöpfung und alles Ursprünglichen. Er wußte: Der Mensch findet in sich selbst „nichts als Sand, Triebsand, worauf nichts zu bauen ist”. Die bloße „Empfindung” des Glaubens genügt nicht, „denn sie ist öfters ein Betrug unseres Fleisches und Blutes und hat die Vergänglichkeit desselben mit dem Grase und den Blumen gemeinsam”. Der Orthodoxie gegenüber verfügte er über eine größere Spontaneität des Denkens, war sein Glauben elementarer und vom Heiligen Geist erfüllt und getrieben. Anders als Kierkegaard besaß er zudem ein freies, unmittelbares und erschließendes Verhältnis zum Ganzen der Schöpfung, des Menschen, auch zum Leiblichen des Lebens, zu Himmel, Erde und Leben schlechthin. Zeitlebens führte er ein Gespräch zwischen Vernunft und Offenbarung. Er greift nicht die Vernunft als solche an, sondern nur die sich absolut setzende Vernunft seines Zeitalters, der Aufklärung. „Vernunft ist Sprache” - „Ohne Sprache hätten wir keine Vernunft, ohne Vernunft keine Religion.” Das begründete auch Hamanns Position gegen alle „natürliche” Religion. Doch immer wieder betonte er den Primat der Sprache vor dem der Vernunft. Sprache, Wort, Logos: das waren seine Schlüsselworte. So schrieb er noch im Alter an Friedrich Jacobi: „Was in deiner Sprache das Sein ist, möchte ich lieber das Wort nennen.” Um Sprache, ihr Wesen, ihren Ursprung, ihre Kraft rang er mit besonderer Leidenschaft. Im „Logos” und so in der Sprache der Natur und Kreatur, aller Schöpfung, fand er den Grund und Abgrund menschlicher und göttlicher Existenz. Sprache wird und bleibt für ihn das unerschöpfliche Thema: „Vernunft ist Sprache, logos. An diesem Markknochen nage ich und werde zu Tode darüber nagen. Noch bleibt es immer finster über dieser Tiefe für mich; ich warte noch immer auf einen apokalyptischen Engel mit einem Schlüssel zu diesem Abgrund” (An Herder, 1784). - „Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, - das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigeren Verbindung, Mitteilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen.” - „Vernunft und Schrift sind im Grunde einerlei: Sprache Gottes. Dieses Thema in eine Nuß zu bringen, ist mein Wunsch und das punctum saliens meiner kleinen Autorschaft” (An Jacobi, 1786). In der Tat: In der „Nuß”, in der dichterisch-tiefen Schrift „Aesthetica in nuce” (1762), dieser „Rhapsodie in kabbalistischer Prose”, hatte Hamann in wahrhaft geflügelten Worten, und nicht für die Menge (des Horatius „Odi profanum vulgus & arceo. Favete linguis!” steht am Eingang) von diesem Abgründigen gesprochen. Es sind berühmt gewordene Sätze, wahrhaft sibyllinische Sprüche einer auch in der Weltliteratur beispiellosen dichterischen Verkündigung, Tubatöne richterlichen Maßes und schöpferischer Inspiration: Linie „Nicht Leyer! - noch Pinsel! - eine Wurfschaufei für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen... Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts ... Ein tiefer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen, ein taumelnder Tanz. Sieben Tage des Nachsinns oder Erstaunens saßen sie; und thaten ihren Mund auf - zu geflügelten Sprüchen... Rede, auf daß ich Dich sehe! - - Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern... Reden ist übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heißt, Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, - Bilder in Zeichen,... Der nächste Aon wird wie ein Riese vom Rausch erwachen, eure Muse zu umarmen, und ihr das Zeugnis zuzujauchzen: Das ist doch Bein von meinem Bein, und Fleisch von meinem Fleisch .. . Wagt euch also nicht in die Metaphysik der schönen Künste, ohne in die Orgien und Eleusinischen Geheimnisse vollendet zu seyn. Die Sinne aber sind Ceres, und Bacchus die Leidenschaft... Alle Farben der schönsten Welt verbleichen: sobald ihr jenes Licht, die Erstgeburt der Schöpfung, erstickt...” Bilder, Sprüche, Gedanken, Inspirationen, die wie eine Flut uns überschwemmen. Ihr Kern und Grund ist die Erkenntnis: Gottessprache und Menschensprache haben die gleiche Wurzel, wie Logos und Mythos. Schöpfung ist Erscheinung durch Sprache. Sprache selbst aber gründet im Bild, im Gleichnishaften. Und das Gebiet der Sprache erstreckt sich „vom Buchstaben bis auf die Meisterstücke der Dichtkunst und feinsten Philosophie” und bis in den Abgrund des Worts, das im Anfang war. Eine Sprachtheorie wollte Hamann nicht entwickeln. Ihm kam es auf das Mysterium an, auf die Ureinheit von Logos, Mythos und Dichtung. Hamann hat kein zusammenhängendes Buch geschrieben, sondern nur Gelegenheitsschriften, „Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle”, wie er selbst sagt, Betrachtungen, Versuche und Beiträge, Rezensionen und Kritiken, auch Zeitungsaufsätze und „fliegende Briefe”. Da er ein Mann der Freundschaft war, kommt seinen vielen Freundesbriefen besonderes Gewicht zu. Ein System seines Denkens und Glaubens hat er nie entworfen. Er huldigte mehr der sokratischen Hebammenkunst, der mit Ironie gewürzten Dialektik und indirekten Rede. So wurde Sokrates ihm (wie später Kierkegaard) zur prophetischen Gestalt. Davon zeugt am schönsten seine frühe Schrift „Sokratische Denkwürdigkeiten” (1759), gerichtet „an Niemand und an Zween”. Die zwei waren der frühe Lebensgefährte und einstige Mentor Johann Christoph Berens und Immanuel Kant, der philosophische Antipode. Als Niemand figuriert das „Publikum”, die Öffentlichkeit, ein „künstlicher Götze”, kein Mensch, sondern eben ein Niemand, der „Kundbare”. Diese Schriften trugen auch für die damalige Zeit ungewöhnliche Titel. Sie erhielten, mit der Absicht der Deutung wie Verhüllung, bemerkenswerte Motti oder Leitsprüche. Es waren gleichsam Losungen oder Parolen, die den besonderen Geist, den inneren Sinn seiner Gedanken und Aussagen, wenn auch oft mehr rätselhaft und in Gleichnissprache offenbaren sollten. Daß diese Motti vorwiegend der Heiligen Schrift, aber auch der antiken und klassischen Literatur entnommen waren, oftmals entlegene Zitierungen, kann bei Hamanns erstaunlicher Belesenheit nicht verwundern. Horaz war eine ergiebige Quelle für solche Leitworte. Der Ode im 2. Buch (1, Vers 7) entnahm er das stolze und hohe Wort, das ihm als Lebensmotto galt: „Ich wandle auf Flammen” (Incedo per ignes). Die letzte, nicht vollendete Schrift trägt nicht nur den tiefen und beziehungsreichen, ja fundamentalen Titel „Entkleidung und Verklärung”, sondern hat wiederum ein Horaz-Zitat als Motto: „Nicht Rauch aus dem Blitz, sondern Licht aus dem Rauch darzubieten, möge er bedacht sein; - - - Der Gast ist satt - - Jetzt ist es genug! -.” Linie In dieser letzten Abschiedsschrift, die als „fliegender Brief” wiederum gerichtet war „an Niemand, den Kundbaren”, also an den Götzen der Öffentlichkeit, an das Publikum, will Hamann alles und das Letzte sagen, die Zusammenfassung seines ganzen Wollens und Wirkens, will er sich als Autor bekennen zu seinem pseudonymen Werk, um darnach verstummen zu können. „Cessare, non celare volui” - aufhören, nicht verbergen habe ich gewollt. Es war der Akt der Entkleidung, der Entäußerung, auch Demütigung, und zugleich war es der Akt der Verklärung, der „Parusia”, wo Tod in Leben verwandelt wird. Auch dieses letzte Hamann-Wort „Entkleidung und Verklärung” steht, wie sein erstes Londoner Bekehrungswort, unter dem Zeichen Christi, unter dem Motto Alpha und Omega, dem ersten und letzten Laut oder Buchstaben des griechischen Alphabets. „Meine Autorschaft hat sich mit Nemo und Duo angefangen und soll sich in omne Trinitatis perfectum endigen.” Es beginnt oder endet mit dem letzten Aufbruch, der Reise nach Münster 1787, wo ihn die Fürstin Gallitzin mit ihrer „familia sacra” liebevoll erwartete. Und es wurde die „Reise in die Ewigkeit”, wie Hans Franck seinen wertvollen Hamann-Roman benannt hatte. Dort, in Münster, hinterließ der Magus, lateinisch abgefaßt, ein letztes Blatt, sein endgültiges Lebens- und Glaubensbekenntnis. Es enthält in der Erwartung der „Parusia” demütig-innige Sätze, in dem Wissen dessen, „der gesagt hat: Ich bin das A und das Z. - - Mit den Propheten wird es vorbei seyn, die Sprachen werden Feiertag haben, Wissen wird außer Kurs seyn, weil ER gekommen ist, um fertigzumachen, abzurechnen.” Nach Pempelfort bei Düsseldorf, dem Landsitz des Freundes Jacobi, wollte der bereits todkranke Hamann noch aufbrechen. Am 20. Juni 1788 stand der Wagen schon vor der Tür. Aber Hamann fieberte; die Ärzte verboten die Abreise. Am Morgen des 21. Juni 1788 ist Hamann gestorben. Grab und Grabstein auf einem verlassenen Friedhof in Münster sind verschollen. [Siehe dazu Eduard Lütgen] Hamanns Denken ist trinitarisch. Er sieht die dreifache Herablassung Gottes: In der Inkarnation Christi zum Menschen, in der Schöpfung zur Welt und in der Sprache, der Herablassung Gottes zum Buchstaben in der Heiligen Schrift. Diese Herablassung (Kondeszendenz nennt sie Hamann) wird als Erniedrigung empfunden, als „Entkleidung” und kennzeichnet die Demut des Schöpfers, des Sohnes und des Geistes. Von dieser dreieinigen Demut, Entblößung und Erniedrigung spricht Hamann immer wieder in seiner Theologie und auch Philosophie. Es sind seine Zentralgedanken. Schon im ersten Brief des „Kleeblatts Hellenistischer Briefe” (1759) schreibt Hamann: „Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist Gottes sich durch Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich eben so erniedrigt und seiner Majestät, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist. Den allein weisen Gott in der Natur bloß bewundern ist vielleicht eine ähnliche Beleidigung mit dem Schimpf, den man einem vernünftigen Mann erweist, dessen Werth nach seinem Rock der Pöbel schätzet.” Hamanns Glauben und Denken ist dem des spätmittelalterlichen Nikolaus von Kues verwandt und dessen Vorstellung von der „Coincidentia oppositorum”, dem Zusammenfall der Gegensätze. Das Ganze - der Welt, der Schöpfung, des Menschen - ist für ihn stets ein sinnvoll gegliedertes Ganzes. „Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialekte seiner Werke.” Hier wird nichts zerrissen, gespalten, dualisiert, sondern - freilich in dialektischer Spannung - zur Einheit und Einigung geführt. Das Mysterium, daß das Göttliche und Unendliche das Menschliche und Endliche durchdringt, wie auch das Endliche das Unendliche in sich aufnimmt, ist auch für Hamann, wie es für Luther war, das eigentlich christliche Mysterium. Und ohne einem Pantheismus zu verfallen, konnte er sagen: „Folglich ist alles göttlich - - Alles Göttliche ist aber auch menschlich. - - Diese communicatio (Gemeinschaft) göttlicher und menschlicher idiomatum (Eigenschaften) ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unserer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.” Linie Noch einmal sei gesagt, wie Hamanns Sprechen und Schreiben, also sein Denken und Glauben konkret blieb, leiblich, vom Leiblichen bestimmt war, um freilich zugleich auch „pneumatisch” zu sein, durchweht vom prophetischen Geist. Schon in den „Brocken”, der Nachschrift zu seinem 1758 in London verfaßten „Lebenslauf”, spricht er davon, daß der Leib das Kleid der Seele sei, spricht er von dem „physischen Gewissen” und wie abscheulich der Mensch vielleicht sein würde, „wenn ihn der Leib nicht in Schranken hielte”. Aber er weiß auch um das Geistige, das Geisthafte, das dem Menschen innewohnt, ihn erst zu einem höheren Sein und Wesen befähigt. „Wir sind alle fähig, Propheten zu seyn. Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichte, Räthsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyffren, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nöthig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist.” Das Prophetische spricht sich nie direkt aus, sondern in Gleichnissen und in Bildern. Darum war dies Hamanns Grundmeinung: „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnisse.” Für ihn ist der Christ dem nur natürlichen Menschen überlegen, da er der Lebendigere, „ein Instrument von 10 Saiten” und nicht bloß von fünf Sinnen, ein Mensch echter Leidenschaften ist, ein „Erneuerter”. So kann er seinem Freund Johann Gotthelf Lindner, nach der Versicherung, „Was für ein Göttlich Geschenk ist Freundschaft, wenn sie alle die Prüfungen aushält, die unsere schon durchgangen”, den schönen Satz schreiben: „und der Christ thut alles in Gott; Eßen und Trinken, aus einer Stadt in die andere reisen, sich darinn ein Jahr aufhalten, und handeln und wandeln, oder darinn stillesitzen und harren sind göttl. Geschäfte und Werke.” Und er fügt demütig hinzu: „Unser Leben ist verborgen - Es ist noch nicht erschienen, was wir seyn werden.” Noch einmal, nun im Alter, 1787, kurz vor dem Aufbruch nach Münster, gibt er dem anderen, späteren Freund Friedrich Heinrich Jacobi ein in seiner nüchternen Bescheidenheit ergreifendes Selbstbildnis: „Die Erde ist des Herrn, und in diesem Sinn bin ich ein Weltbürger. Ich bin in keinem einzigen Fache zu Hause, weder zum Gelehrten noch zum Geschäftsmann bestimmt, weiß nirgends Bescheid - ein wahrer Maulaffe, dem klösterliche Einsamkeit und große Gesellschaft unerträglich sind . . Nichts bleibt mir übrig, als mich der mütterl. Vorsehung in die Arme zu werfen ... Ich weiß von allem nicht ein lebendiges Wort, wie es zugegangen vom Anfang bis auf den heutigen Tag. Ein wahrer Traum. -” Das „verkannte Christentum und Luthertum zu erneuern” nennt Hamann den „Zweck”, das bleibende Thema seiner „kleinen Schriftstellerei” (an Jacobi, 1786). Von seiner Begegnung mit dem Wort Gottes her zieht er die Grundlage des neueren Denkens, wie es bei Descartes begann, in Frage. Daß das Sein zu einer bloßen Denkmöglichkeit, einem Denkobjekt gemacht wird und damit relativiert ist, ausgeartet zu einer „allgemeinen Unwissenheit des Wirklichen”, gegen dieses Verhängnis philosophischer Entwicklung wenden sich immer wieder seine Schriften: „Nicht Cogito, ergo sum, sondern umgekehrt oder noch hebräischer Est, ergo cogito, und mit der Inversion eines so einfachen Prinzips bekommt vielleicht das ganze System eine andere Sprache und Richtung” (an Jacobi, 1785). Erkennen ist für ihn nicht Erklären oder Berechnen oder Deduzieren, sondern Lesen und Verstehen. „Weiß man erst, was Vernunft ist, so hört aller Zwiespalt mit der Offenbarung auf.” Immer kommt es ihm auf das Wort, die Sprache an, ohne die nicht nur „keine Vernunft”, sondern auch „keine Welt”. Und so wagt er den kühnen Satz, den er wiederum an Jacobi schreibt: „Gott, Natur und Vernunft haben eine so innige Beziehung aufeinander wie Licht, Auge und alles, was jenes diesem offenbaret, oder wie Mittelpunkt, Radius und Peripherie jedes gegebenen Zirkels oder wie Autor, Buch und Leser.” Linie Ontologie und Theologie gründen für Hamann im Wort „und gewinnen vom Wort her und allein vom Wort her ihre lebendige und ursprüngliche Einheit” (Erwin Metzke). Gott selbst ist der Autor im auch buchstäblichen Sinn und: „Der Autor ist der beste Ausleger seiner Worte. Er mag durch Geschöpfe - durch Begebenheiten - oder durch Blut und Feuer und Rauchdampf reden.” „Natur und Geschichte sind daher die zwei großen commentarii des göttlichen Wortes”, die es zu lesen und zu interpretieren gilt. Zur Geschichte und ihrer Sinnerfassung schreibt Hamann bereits 1762, im zweiten Brief des „Kleeblatt Hellenistischer Briefe”: „Kann man aber das Vergangene kennen, wenn man das Gegenwärtige nicht einmal versteht? - Und wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel.” Es kommt auf das Verstehen, auf das verstehende „Lesen” an: „Wie die Natur uns gegeben, unsere Augen zu öffnen; so die Geschichte, unsere Ohren.” Denn: „Die ganze sichtbare Natur ist nichts als das Zifferblatt und der Zeiger”, sie ist eine Chiffre, welches Wort Hamann gern verwendet. Indem er sich, schonend, gegen Herders subjektives Geschichtssystem wendet, schreibt er ihm in seiner bildhaften Sprache: „Ich halte mich an den Buchstaben und an das Sichtbare und Materielle wie an den Zeiger einer Uhr - aber was hinter dem Zifferblatt ist, da findet sich die Kunst des Werkmeisters, Räder und Triebfedern, die gleich der mosaischen Schlange eine Apokalypse nöthig haben.” Warnend fügt er hinzu: Einen Körper und eine Begebenheit bis auf ihre ersten Elemente zergliedern, heißt, Gottes unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ertappen wollen. Es gilt zu erkennen, daß die ganze Schöpfung ein „Beweis” ist sowohl der „Majestät” wie der „Entäußerung” Gottes: „Ein Wunder von solcher unendlichen Ruhe, die Gott dem Nichts gleich macht, . . . aber zugleich von solcher unendlichen Kraft, die alles in allem erfüllt, daß man sich von seiner innigsten Zutätigkeit nicht zu retten weiß.” Hamanns Denken und Glauben kann nicht auf eine Formel gebracht werden. Es ist zu vielschichtig, eine wahre coincidentia oppositorum. Er steht, wie nur die Propheten und die Väter des Christentums, oder wie Luther, dem er von Herzen anhängt, in der „Wolke der Zeugen”. Nadler, der verdienstvolle Herausgeber der Gesamtschriften Hamanns, nennt ihn den Zeugen des Corpus mysticum. Das Geheimnis des Himmelreichs und der Schöpfung, der Offenbarung und der Vernunft, der Sprache und der Existenz, des Mythos und des Logos, der Zeitlichkeit und der Ewigkeit, das Geheimnis des Leiblichen und des Geschlechts, die Bedeutung der Verkleidung wie Entkleidung, der Entblößung, und das Mysterium der Verwandlung und Verklärung, „Golgatha und Scheblimini”, die Kreuzigungsstätte und der Ort zur Rechten des Vaters, und immer wieder das Geheimnis der Trinität: darum ging es für diesen Fragenden, Suchenden und Glaubenden. Dies alles aus der Tiefe des Ursprungs, aus der Wurzel der Sprache, aus vom Glauben erhellter Vernunft und immer als Bekenntnis zur „docta ignorantia”. Denn: „Ein Mensch, der nichts weiß und der nichts hat, sind Zwillinge des Schicksals.” Anfang und Ende stehen im Zeichen Christi und im „Drama der Nachahmung Christi”. Dies zu verkünden, war sein Wunsch und Streben: „Ich kann nichts mehr thun als der Arm eines Wegweisers und bin zu hölzern, meinen Lesern in dem Laufe ihrer Betrachtungen Gesellschaft zu leisten.” Sinn und Ziel seines Schaffens war, wie er dem Freunde bekennt: „Eine Lilie im Thal und den Geruch des Erkenntnißes verborgen auszuduften, wird immer der Stoltz seyn, der im Grund des Herzens und dem inneren Menschen am meisten glühen soll.” Dieser Satz könnte als Motto stehen über der großen, verhüllt-offenbaren und auch in unsere Zeit hineinwirkenden Welt des „Magus im Norden”. Quatember 1973, S. 221-230

Werde du selbst!

Dieser Slogan hat mich stets etwas hoffnungslos gemacht. Ich wusste nie, wie ich darauf antworten konnte. Die impraktikable Forderung geht, zumindest in ihrer generellen Verwendung, zurück auf das sokratisch-platonische Verständnis des Lernens als "Wiedererinnerung" (cf. MENON). Beratung, z. B. in der Schule als Unterricht oder im therapeutischen Gespräch, wird infolgedessen verstanden als Hebammenkunst = Hilfe zur Selbstfindung: aus dem Schüler wird herausgelockt, was angeblich bereits tief in ihm liegt. Selbst zu denken heißt, das zu berühren, zu erinnern, was "immer schon in dir" steckt. Wahr ist danach nur, was wir selber machen (können). - Schauen ich mir andererseits meinen Leib an: es gibt nichts an ihm, das nicht vorher durch den Magen gegangen wäre. Meine Besonnenheit sollte dagegen keine Weiterung sein äußerer Einflüsse? Ich finde es viel weniger beunruhigend, mir vorzustellen, dass alles, was sich in meinem Gemüt befindet, durch irgendwelche sinnlichen Kanäle dort hineingelangt ist. Um mein Bewusstsein zu erweitern, müsste ich dann nicht in meinem "innersten Selbst" herumsuchen, sondern einfach nur neue Erfahrungen machen, einen neuen Sport lernen (hab' mich gerade zu einem Rückenschwimm-Kurs angemeldet!), eine weitere Sprache . . . Was gäbe meinem Selbst in dem Fall inneren Zusammenhalt: wenn es durch nichts als Erfahrung sich "aggregiert", die ja prinzipiell niemals aufhört? "Selbst" müsste dann eigentlich in dem liegen, was mich sinnlich anspricht. Viele Filmschauspieler begreifen erst bei der Uraufführung, wenn sie das ganze Werk sehen, was es mit ihrem Charakter oder dargestellten Selbst auf sich hat(te). Vorgezeichnet liegt es, wenn schon, nicht in der Figur, sondern in deren Geschichte. Ich fände es daher viel weniger verwirrend anstelle von Sei du selbst! gesagt zu bekommen: Spiel (d)eine Rolle! Oder besser noch: Lass dich ansprechen!

Schutz von Minderheiten

Wer fühlt sich nicht irgendeiner Minderheit zugehörig, deren Interessen geschützt werden müssten? Sind nicht selbst die Milliardäre eine Minderheit? Am kämpferischsten geben sich momentan bestimmte Rassenvertreter, Religionsgemeinschaften oder in sexueller Hinsicht verschiedene Gruppen. Neulich sagte mir eine Person, sie gehöre ebenfalls zu "den Flüchtlingen", da ihr Vater vor 30 Jahren einem Bürgerkriegsgebiet nach Deutschland gekommen sei. Auch "die Frauen" werden nicht müde, eine ihrem Bevölkerungsanteil entsprechende Berücksichtigung in entscheidenden Belangen zu fordern. Dahinter steht die Vorstellung, dass alle Repräsentationen perfekte Abbilder der Zusammensatzung der Gesamtbevölkerungen sein und sämtliche für relevant gehaltenen Eigenschaften spiegeln sollen. Durchzusetzen wäre dies nur durch ein Quotierungsprinzip, das ja auch immer mal wieder gefordert wird: Vergabe nach ethnischer Zugehörigkeit, Rasse, Alter, sozialer Herkunft, sexuellen Präferenzen, Einkommen, Geschlecht, Gesundheitszustand, Religion, Bildung usf. - alle können in dem Masse nach einer Zuteilung von Macht verlangen, in welchem sich unser Gemeinwesen in eine Vertretung von Minoritäten segmentiert, also wieder eine Art Ständestaat wird. Um eine Quotierung durchzusetzen, müssten die Repräsentationen nach statistischen Methoden vorgenommen werden. Die Herausforderung dürfte trotzdem kaum gelöst werden, da jede Eigenschaft, die nicht völlig gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt ist, Anlass zur Bildung einer Minorität geben kann. Denn jede Gruppe, die kleiner ist als die Bevölkerung selbst, ist eine Minorität. Zum Beispiel die "gescheiterten Existenzen" - haben nicht auch sie ein Recht auf einen Ausgleich für das, was ihnen der anderen Erfolg vorenthält? Um hier wirklich fair zu sein, müsste man für Machtpositionen auf ein Losverfahren oder ein radikales Rotationsprinzip zurückgreifen. Wäre so eine Gesellschaft, die endlich nicht mehr in der Lage ist, Hierarchien zu bilden, aber stabil? Und was geschähe, wenn sie mit einer anderen zusammentrifft, die's noch kann? Wenn wir unsere Ordnungs- und Verteidigungseliten nach einem Los- und Quotierungssystem rekrutieren - wären wir dann unter Umständen gezwungen, dem Ansturm eines von innen oder außen kommenden neuen Herrschafts- oder Elitewillens zu weichen?

Dramatische Ironie

Dass ausgerechnet die besten Autoren am dringendsten vor dem Lesen warnen: Cervantes, Flaubert, Tolstoi - Dante lässt die Leser in der Hölle schmoren! Seltsam. Aber ich fange an zu verstehen, was sie meinen, wenn ich mich an eine Episode aus meiner Studentenzeit erinnere. Ich besuchte damals an Wochenenden das Land-Theater, an dem mein Vater sein Leben lang inszenierte, im Sommer was Lustiges für die Freilichtbühne, im Winter was Ernstes (meist den Urfaust) für die Minibühne neben der Kamin-Bar. Ich liebte dieses Theater noch aus der Kindheit, die hier die beste war. Unserer Eltern spielten auf der Bühne, wir in den Wäldern ringsum, alle Familien lebten unter einem Dach, eigentlich eine Art Kommune, wenn dieses Wort damals auch noch nicht gebräuchlich war. Als Student später auf Besuch schlief ich meistens bis Mittags. Und wurde unter der Woche zweimal geweckt von lautem Kindergebrüll, das waren die aufeinander gespielten zwei Kinder-Vorstellungen des Räuber Hotzenplotz jeden vormittag. Aber das Geschrei, und bei jeder Vorstellung zuverlässig nach ca. 40 Minuten? Eines morgens schleppte ich mich herunter und lauerte neben der Bühne, welche Szene das Publikum dermaßen erregte. Da kam sie. Der Räuber wendet sich an das Publikum und sagt: "Kinder, gleich kommen Kasperle und Seppel, und ich verstecke mich jetzt hinter diesem Busch und überfalle sie. Und wehe einer sagt was!" Gesagt, getan. Kasperle und Seppel tauchen auf. Das Publikum explodiert. Kasperle und Seppel geben sich begriffsstutzig: "Was sagt ihr da?" Die ersten Kinder eilen vor zur Bühne, eine rotgesichtiges Mädchen aber klettert erregt herauf, um die beiden Kunstfiguren zu warnen. Ihr Bild hat sich mir bis heute eingeprägt: eine kleine Emma Bovary, rasend gemacht von den Taschenspielertricks der Erzähler. Diese wünschen sich natürlich so ein Publikum, sind dann aber doch betroffen, zumindest die besseren von ihnen, wenn sie es sehen.

Gogol | Der verlorene Brief

Ihr wollt also, daß ich euch noch mehr von meinem Großvater erzähle? Gern, warum soll ich euch nicht mit einer Geschichte erfreuen? Ach, ihr alten Zeiten! Welch eine Freude, welch eine Lust dringt ins Herz, wenn man hört, was vor langer, langer Zeit, deren Jahr und Monat niemand angeben kann, in der Welt geschah! Wenn aber irgendein Verwandter, ein Großvater oder Urgroßvater in die Geschichte verwickelt ist, so ist es aus: mag mir der Lobgesang auf die heilige Märtyrerin Warwara in der Kehle steckenbleiben, wenn es mir nicht so vorkommt, als handle die Geschichte von mir, als wäre ich in die Seele des Urgroßvaters hineingekrochen, oder als ob die Seele des Urgroßvaters in mir spukte . . . Das Ärgste sind aber für mich unsere Mädels und jungen Weiber; kaum komme ich ihnen vor die Augen, als sie schon gleich anfangen: »Foma Grigorjewitsch, Foma Grigorjewitsch! Bitte, ein recht gruseliges Märchen! Bitte, bitte! . . .« Taratata, taratata, und es geht los . . . Ich erzähle ihnen gern so ein Märchen, aber man sehe mal, was nachher mit ihnen im Bette los ist. Ich weiß ja, daß eine jede unter ihrer Decke zittert, wie wenn sie den Schüttelfrost hätte, und sich mit dem Kopf unter den Pelz verkriechen möchte. Wenn nur eine Ratte an einem Topf scharrt oder sie selbst mit dem Fuße einen Schürhaken streift – gleich fällt ihr, Gott bewahre, das Herz in die Fersen. Am anderen Tage aber bestürmt sie einen wieder, als ob nichts geschehen wäre: man soll ihr ein gruseliges Märchen erzählen, und basta. Was soll ich euch nun erzählen? Manchmal fällt mir auch nichts ein . . . Gut, ich erzähle euch, wie die Hexen mit meinem seligen Großvater Schafskopf gespielt haben. Aber ich bitte euch im voraus, meine Herrschaften, bringt mich nicht aus dem Konzept, sonst gibt es einen Brei, daß man sich schämen muß, ihn in den Mund zu nehmen. Ah, the old days, the old days! What joy, what gladness it brings to the heart when one hears of what was done in the world so long, long ago, that the year and the month are forgotten. And when some kinsman of one’s own is mixed up in it, a grandfather or great grandfather – then I’m done for: May I choke while praying on St. Vavara if I don’t think I’m doing it all myself, as though I had crept into my great-grandfather’s soul… But then, our girls and young women are to blame for plaguing me; if I only let them catch a glimpse of me, it’s “Forma Grigorievich! Forma Grigorievich! Come now, some terrible tale! Come now, come now…!” Tara-ta-ta, ta-ta-ta and they keep on and on… I don’t grudge telling them a story, of course, but you should see what happens to them when they are in bed. Why, I know every one of them is trembling under the quilt as though they were in a fever and would be glad to creep under her sheepskin, head and all. If a rat scratches against a pot, or she herself touches the poker with her foot – it’s “Lord preserve us!” and her heart’s in her heels. But it’s all over the next day; she’ll pester me again to tell her a frightening story, and that’s how it goes. Well, what am I to tell you? Nothing comes into my mind for the minute… oh yes, I’ll tell you how the witches played cards with my grandfather. But I must beg you first, good friends, not to interrupt me or I will make a hash of it not fit to put on one’s lips. GOGOL "The Lost Letter"