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Der organlose Körper

Ich lese gerade etwas in Deleuzes dickem Buch, das er mit Felix Guattari verfasst hat, an irgendwelchen Stellen und wild durcheinanander, wie die Autoren einem nahelegen. Dabei stoplerte ich immer wieder über den Begriff des "organlosen Körpers".

Wenn ich mir bildlich vorstelle, was damit gemeint sein könnte, fällt mir eine Tafel ein, wie sie z. B. in meinem HFF-Lieblings-Seminarraum 8 hängt. Sie heischt irgendwie nach Buchstaben auf sich, Zeichnungen usf., zugleich danach, dieselben wieder auszuwischen. Der Schwamm gehört zur Tafel wie der Schreibstift; ohne den einen wie den anderen wäre sie witzlos.

Erhellend kann man auch Wittgensteins unter 4.0312 versteckte Zentralaussage der Logisch-Philosophischen Abhandlung hinzuziehen: "Mein Grundgedanke ist, daß die 'logischen Konstanten' nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt." - womit, denke ich gesagt sein soll, dass die Tafel, um Text zu ermöglichen, selber keiner sein kann.

Das Bild von "Text" auf der "Tafel" führt ein bißchen in die Irre, da die Buchstaben oder Zeichen "Dinge" veranschaulichen sollen. Die Welt existiert, tritt in Erscheinung, weil "organlose Körper" angeregt oder "verstört" werden. So wie Muster oder Wirbel entstehen, wenn man seine Hand in fliessendes Wasser hält.

Ich denke, dass Deleuze und sein Schreibpartner in dieser Weise erklären möchten, wie die Welt sich ereignet: kosmische Potentiale oder Energiefelder|-flüsse (nicht unähnlich dem "Dionysischen" bei Nietzsche) werden aufgestört und bilden materielle Erscheinungen, die nicht notwenig sind und stets in andere Zustände übergehen können oder möchten.

Tumore wären, so gesehn, nichts Unnatürliches, sondern ein Freisein des organlosen Körpers. Andere Möglichkeiten, in den Genuß des Hauptstrom zu kommen, bestehen darin, unseren zufälligen Leib auszublenden, z. B. durch den Gebrauch von Drogen oder masochistische Verfahren, zu denen unter anderem die Magesucht zählt.

Deleuze wie Wittgenstein sind bekennende Schüler Gottlob Freges, dessen Philosophieren das Psychologische gegenstandslos macht - läuft daraus hinaus, dass, wenn wir denken oder handeln oder wahrnehmen, nicht "wir" denken oder handeln oder wahnehmen, sondern "etwas" Sinnvolles uns in diesem Momente einnimmt, das unpersönlich ist. Bei Wittgenstein heißt dieses "etwas" zunächst Logik, später Lebensform - bei Deleuze u. a. "organloser Körper", man könnte es auch "Begehren" nennen: der pausenlose Wunsch, Verbindungen einzugehen sowie sich aus diesen wieder zu befreien.

Während Deleuze den "organlosen Körper" favorisiert, hält Wittgenstein sich mehr bei der akuten "Lage der Organe" auf. Er wundert sich darüber, wieso die Welt, die tausenderlei andere Formen annehmen konnte, gerade die heutige hat und hält das für bedeutend. Deleuze ist in diesem Punkte, denke ich, eher bei Nietzsche und dessen Vorstellung der "ewigen Wiederkehr": die Welt nimmt sich so aus wie heute, weil sich alles wiederholt, sie also bereits unendlich viele Male so gewesen ist.