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Falsches Ende

Das falsche Ende ist die Antithese vom richtigen Ende: wenn vor dem Ausklang einer Geschichte dessen Gegenteil unausweichlich wird. Es ist für den Autor eines des mächtigsten Mittel, seine Erzählung frisch und überraschend zu gestalten.
Ich gebe am besten ein Beispiel - aus meinem eigenen Schaffen . . .
In einem meiner Projekte, einer Serien-Idee, soll der Schwiegervater der Hauptfigur im Pilotfilm getötet und seine Leiche im Garten des ahnungslosen Nachbarn begraben werden, wo sie mehrere Staffeln lang unentdeckt bleibt.
Dafür musste ich eine Geschichte erfinden, die damit endet, dass die Leiche in beschriebener Weise entsorgt wird. Wie konnte ich Spannung hineinbringen? Indem ich etwas in Aussicht stelle, dessen Eintreten die Zuschauer (hoffentlich) interessiert. Ich habe mich für den Geschäftserfolg des Schwiegersohnes entschieden. Er hat eine vielversprechende Geschäftsidee, deren Schicksal die gesamte erste Staffel bewegt. Der Pilotfilm soll enden mit einer unerwarteten Aufwärtsbewegung für diese Geschäftsidee.
Das falsche Ende besteht folglich im Gegenteil: dem unfehlbaren Tod der Geschäftsidee.
Die Schlussbewegung - aufwärts - von diesem falschen Ende korreliere ich mit der Beseitigung des Schwiegervaters. Dadurch, dass er entsorgt wird, wiederauferstehen die Geschäftschancen der Hauptfigur. Das falsche Ende beinhaltet demzufolge den Triumph des Schwiegervaters.
Es sieht so aus: der Schwiegervater konfrontiert seinen Schwiegersohn mit der drohenden Zerstörung seiner Geschäftsidee. Es ist ein Moment, in dem alles, was wir als Zuschauer erwartet hatten, zu Asche wird. Nie war der Held weiter von seinem Ziel entfernt als in diesem Moment.
Höhepunkt: Er beseitigt den Schweigervater, entsorgt die Leiche mit Hilfe eines unheimlichen Nachbarn, und kann jählings geschäftlich prosperieren.
Das falsche Ende war hier negativ, das richtige positiv. Es kann sich ebenso umgekehrt verhalten.
Nehmen wir als Beispiel die Geschichte einer sterbenden Beziehung. Sie endet mit einer Scheidung. Vielleicht werden nur die paar Stunden gezeigt, die ein Paar vor der Scheidung verbringt. Es müssen bestimmte Dinge organisiert und abgewartet werden, am Schluss steht der Termin vor dem Richter.
Das falsche Ende dieser Geschichte bestünde in einem Moment, der die Scheidung ausschließt. Wir müssen in diesem Moment denken als Zuschauer, dieses Paar wird sich nie scheiden. Die Höhepunktgeste besteht dann in der Bewegung von diesem Moment - zur Scheidung.
Warum ist das falsche Ende für Autoren ein so fruchtbarer Kunstgriff?
Es gibt unserer Erzählung eine nichtvorhersehbare Richtung: indem wir sie - auch für uns - so entwickeln, dass das falsche Ende eintreten muss. Man weiß am besten selber nicht, wie man's noch in sein Gegenteil wenden kann.
Und dann erst, nachdem man sich mit seiner Hauptfigur in eine aussichtslose Lage bugsiert hat, erfindet man, was das Gegenteil herbeiführen muss. Um diese Erfindungen zu ermöglichen und abzusichern, muss man in der Regel auch das bisher Erzählte durchgehen, es entsprechend justieren. Der Verlauf behält trotzdem das meiste von jenem Nichtvorhersehbaren, das er nicht hätte, wenn man gleich auf das richtige Ende zuerzählen würde - das trotzdem am Anfang ins Gemüt des Zuschauers gesetzt werden sollte.
Du weißt, dass du eine potentiell funktionierende Geschichte hast, wenn du dein falsches Ende kennst.

Selbstfindung . . .

. . . ist ja eines der Haupt-Themen fiktionaler Geschichten. Ich bin, was dies betrifft, im Kielwasser einer ambitionierten Manga-Serie neulich auf "Kierkegaard" gestoßen und erachte inzwischen den Einstieg zu seinem Ratgeber "Die Krankheit zum Tode" nicht unfruchtbar für Autoren. Wer möchte, kann den Text in deutscher Übersetzung unter dem schließlich zitierten Link nachlesen. Er ist nur sehr verschraubt, weswegen ich hier eine für Autoren gemeinte Deutung hinschiebe, die hoffentlich nicht zu viele Fehler enthält.
Kierkegaard beschreibt den Menschen als Spannungsfeld zwischen unversöhnlichen Momenten wie z. B. Endlichkeit | Unendlichkeit - Zeitlichkeit | Ewigkeit - Notwendigkeit | Freiheit - also: Körper | Seele. Er deutet dies Zerwürfnis als eine verzweifelte Lage, welche das Menschsein von Anfang an ausmacht.
Dieser Verzweiflung kann der Mensch entgehen durch die Entwicklung eines Selbsts.
Dies kann auf dreierlei Art misslingen.
1 - durch Nicht-Innewerdung der inneren Spannung infolge von Zeitvertreib intellektueller oder spielerischer Natur. Blaise Pascal führt als Beispiele für diese Ablenkungen "Tennisspielen" und "Mathematik" an, was ich hier zitiere, weil ich es lustig finde. "Tennisspielen" kann man durch alles ersetzten, was heute unter den Begriff "fun" fällt (Gefühls-Rhetorik . . .) - "Mathematik" würde ich ins Heute übersetzen durch "Algorithmus", "künstliche Intelligenz | VR" und "Wo ist das Problem?"-Mentalität. - Kierkegaard hält offenbar diese Art der Verzweiflung, die gar nicht weiß, dass sie verzweifelt ist, für die hoffnungsloseste (potentiell letalste).
2 - durch "Magersucht": indem ein Spannungs-Pol dem anderen geopfert wird. Damit sind z. B. asketische Bestrebungen gemeint, auf der Kehrseite hedonistische - religiöse Unerbittlichkeit vs. hysterischer Atheismus usf. Die Spannung soll dadurch aus dem Menschsein retuschiert werden, dass eine der sie bedingenden Kräfte niedergewollt wird (um meist in verkrüppelter Form - Tatoos bei Atheisten, Drogen- oder Sex-Exzesse bei Fundamentalisten, Bulimie usf. - wieder aufzutauchen).
3 - durch Überschätzung: indem man versucht, ein "selbstbestimmtes" Leben zu führen und reklamiert, die Widersprüche im Wesen des menschlichen Seins eigenmächtig eingebunden zu haben (was nach Kierkegaard bis heute noch niemandem gelang).
Entsprechend die üblichen Ausgangspunkte von "Selbstwerdungs"-Geschichten: Verzweiflung bricht durch, die Hauptfigur verliert ihr bisheriges Leben; aber irgendwie ist es auch kein richtiger Verlust, weil damit die Chance sich eröffnet, etwas Wertvolles zu finden: das "wahre Selbst".
Wie hat man sich solches Finden vorzustellen?
Bei Kierkegaard spielt zu diesem Punkt das "Andere" herein, traditionellerweise als "Gott" interpretiert, ein Wort, das bei Kierkegaard freilich niemals fällt. Er stellt nur fest, kein Mensch wisse, sich aus eigenen Kräften aus dem nativen Widerspruch zu verhelfen, dem sein Wesen entspringt, sondern müsse sich dafür etwas widmen, das mehr sei, als er alleine, und eingebunden würde durch sein solcherart entstehendes "Selbst".
". . . ein Selbst" , schreibt Kierkgegaard, "muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein." Da wir als Menschen aber jene Bedürfnisse, welche uns ausmachen - körperliche sowie geistige - nicht zeitgleich ausdrücken können, nicht simultan völlig bei der Sache und völlig abgehoben sein können, können wir auch das, was unsere widerstreitenden Momente versöhnte, nicht von uns aus "gesetzt" haben. Sonst würde es ja bereits leisten, was uns Menschen abgeht. Vielmehr muss es "durch ein anderes gesetzt sein".
Kierkegaard fasst zusammen: "Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte."
"Durchsichtig" meint wohl etwas wie "an der Nasenspitze anzusehen" = diejenige Person hat sich selbst oder ihr Selbst gefunden, deren Leben von einer Sache erfüllt ist, die sich in allen wichtigen Aspekten ihres Tuns und Sterbens ("durchsichtig") mitteilt und nichts Menschliches dabei auslässt oder unterdrückt.
Was für eine "Sache" kann das sein?
Im Falle Dantes ist es z. B. "Beatrice" (wie sie in rührender Form als "Jenny" in Forrest Gump zurückkehrt) - der Tanz in Billy Elliot - Hollys Freundschaft zu Harry in Der dritte Mann - die Krone in Macbeth - die Literaturwissenschaften in Stoner usf.
Wie aber hebt die Hinwendung zu einer Sache die einen Menschen sonst zerreißende Spannung auf sowie die kraft ihrer schwelende Verzweiflung? Zu diesem Zweck müsste sie gewiß die nativ widespenstigen Momente des Menschseins integrieren.
Dies geschieht nach Kierkegaard z. B. durch die Stiftung von "Identität", in welcher sich Zeit und Ewigkeit versöhnen. Was sich von einem Menschen hält, ihn "in Ewigkeit" ausmacht, entspringt den vergänglich Spuren, die er - im Dienste seiner Sache - im Hier und Jetzt hinterließ. Ein Mensch wird unverwechselbar ("ewig") als Summe seiner ("vergänglichen") Taten . . .
Endlichkeit und Unendlichkeit als Aspekte der Welt werden dadurch versöhnt, dass ein engagierter Mensch mit allem etwas anfangen kann, das ihm begegnet - und je begegnen wird! Denn im Hinblick auf seine Sache hat es immer Bedeutung, in dem Maße beispielsweise wie es diese konturiert, fördert oder behindert. Indem ich weiß, was wahr werden soll (Endlichkeit), hat es mit allem, was mir je begegnet (Undendlichkeit), bereits etwas auf sich.
Die Versöhnung von Notwendigkeit oder Faktizität und Freiheit liegt in der Schaffung neuer Handlungsmöglichkeiten infolge zunehmender Identität. Nur wer einen bestimmten Weg einschlug, gelangt an neue Gabelungen.
Ein wesentliches Erkennungsmerkmal aber für die "Sache", die einen Menschen zum Selbst verhilft, ist für Kierkegaard offenbar das Gefühl der Angst, die durch das implizite Tun, in einem ausgelöst wird . . .
Soweit meine zusammenfassende Deutung einiger Gedanken Kierkegaards. Sie könnten sich als nützlich erweisen, wo sich für einen Autor der Eindruck verfestigt, es in erster Linie mit einer verzweifelten Hauptfigur zu tun zu haben, die uneigentliche Ziele verfolgt.

Nietzsche zur Wahrheit

Nietzsche war der Ansicht, dass nur, wer nicht genau sieht, sich einen Vorsprung sichert, und spekuliert, dass es das falsche, holzschnittartige Denken ist, welches sich lebensrettend auswirkt. (Er schmäht im übrigen die Wahrheit als christliches Konzept = Wunsch nach Ewig-Richtigem, Idealem, Unbestreitbarem -ursprünglich bei Plato, von dort übergegangen zum Christentum und weiter in die Wissenschaften of today; Nietzsche legt nahe, Christentum und Wissenschaften stießen ins gleiche Horn. (Uns ist soviel gesagt worden, die Kirche stünde gegen Galilei, dass wir seine Rehabilitierung vergessen: in Roms Kirchen habe ich vor zwei Jahren naturwissenschaftliche Ausstellungen wie im Deutschen Museum gesehen...). Nietzsche seinerseits kehrt sich gar nicht gegen die Wahrheit schlechthin, sondern deren Alleinvertretungsanspruch, sieht also WAHRHEIT als eine der Spielformen dessen, was zählt. Was könnte es Lohnendes geben, das "nicht-wahr" ist? Es scheint einem heute vollkommen absurd, außerhalb des Wahren nach Wert zu suchen, so sehr bleiben wir eine platonisch-christlich informierte Gesellschaft. Die atheistischen Wissenschaftler können dem Christentum nichts anhaben, da beide derselben Ewigkeit verpflichtet sind (daher das Gähnen, welches ihre "Streitgespräche" verursachen). Nietzsche will offenbar darüber hinaus, "jenseits der Wahrheit" etwas Wertvolles finden, das sich beispielsweise in Kunst|Maskenspiel zeigt. Dazu verwirft er die Wahrheit nicht, sondern spannt sie ggf. ein für menschlichere Zwecke, ohne ihr Alleinherrschaft einzuräumen, wie es der Platonismus und seine Abkömmlinge Christentum|Wissenschaft tun. Wer's fassen kann, der fasse es!)

Leit-Werte

* Individualismus
* Emanzipation (Gleichheitsstreben)
* Selbstbewußtsein (Durchsetzungsvermögen)
* Weltlichkeit (Atheismus)
* Spezialisierung (Expertentum)
* Kernigkeit (Ungehobeltheit in Talk Shows . . .)
* Wissenschaftlichkeit (Agnostik = Zurückführbarkeit von Theorien auf Beobachtungssätze, von Begriffen auf Dinge und von gesetzmäßigen Zusammenhängen auf kausal-deterministische Ereignisse)
* Primitivismus (gesellschaftliche Rückorientierung zu vor-industriellen und oft sogar vor-landwirtschaftlichen Produktions- und Lebensverhältnissen = Tierrechte|Krötentunnel, Rückkehr der Wölfe, Veganismus, Rohkost, Naturheilmittel, Windkraft, Yoga usf.)

Dagegen stehen die NICHT-WERTE

* Hierarchie
* Besitz
* Familie
* Pflicht (Gehorsam)
* Religion
* Vergeltung


Lüge des Sokrates

"Ihr seid alle Brüder", soll den Menschen erzählt werden, "den geborenen Herrschern unter euch aber ist wertvolles Gold beigemischt, den Kadern Silber, den übrigen Eisen und Erz. Meist werdet ihr euch ähnliche Kinder erzeugen, manchmal aber auch aus Gold einen silbernen Nachkommen, aus Silber einen eisernen und so fort. Immer sollen deswegen die Herrscher auf ihre Nachkommen achten: falls einer eisenhaltig ward, gehört er unters Volk. Wird aus dessen Mitte aber ein gold- oder silberhaltiger geboren, gehört er unter die Kader oder Herrscher." Denn es sei wissenschaftlich erwiesen, dass ein Gemeinwesen untergehe, wenn sich Eisen und Erz seiner bemächtigen. - Wird irgendjemand diese Lüge glauben? - Platon Der Staat

Abrichtung der Flüchtlinge . . .


. . . auf deutsche Normen - man schrickt spontan zusammen bei solchen Worten, denkt an Gehirnwäsche u. ä. m. - " . . . prenant les hommes tels 'qu'ils sont, et les lois telles qu'elles peuvent être" beginnt Rousseau seinen Gesellschaftsvertrag & darin wurzeln die Schwierigkeiten: "wenn man die Menschen nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können . . ." - denn Rousseau leitet, was unser Zusammenleben regelt, aus dem einzelnen Menschen ('wie er ist') ab. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", nimmt unser Grundgesetz diesen Gedanken als wichtigsten mit seinem ersten Satz auf. Dabei wird unterstellt, wir würden mit dem, was uns zu Menschen macht, geboren - im Hinblick auf das Wesentliche also weder erzogen oder geformt. Vor allem Aristoteles sah das ganz anders: dass wir als Menschen nicht uns die Gesetze schneidern, sondern durch diese - bereits bestehenden - überhaupt erst zu Menschen (gemacht) werden. Der Unterschied könnte nicht größer sein. Rousseau (und wir mit ihm, denn wir sind Kinder der Aufklärung) sagt: der Mensch schafft die Gesetze entsprechend seiner Natur (diese hätte mit anderen Worten auch ohne sie Inhalt) - Aristoteles dagegen: die Gesetze geben dem Menschen erst Inhalt und Wesen. Wenn Rousseau Recht hat, sind die Menschen überall auf der Welt gleich; wenn Aristoteles Recht hat, unterscheiden sie sich entsprechend der Gesetze oder Gewohnheiten, nach welchen sie abgerichtet wurden (diese wiederum wären eine Funktion der Umgebung, deren Verläufe sie regeln, in der Wüste also anders als im Dschungel oder einer Großstadt - vergleichbar der unterschiedlichen Flora|Fauna). - Entsprechend wären die Flüchtlinge entweder als uns im wesentlichen gleich - oder von uns verschieden aufzufassen, dann derselben Abrichtung bedürftig, die uns zu den Wesen machte, welche unsere Gesellschaft bilden. (Ich neige zur Auffassung des Aristoteles, da sie besser erklärt, warum es so unterschiedliche Sprachen gibt.)

HEINER MÜHLMANN beeindruckt mich tief



Obwohl ich im Moment nur die Hälfte nachvollziehe von dem, was er wohl sagt.
Hat mit seiner Verwendung von Mathematik zu tun. Davon ausgehend, dass man als Teilhaber einer Kultur diese nicht bewerten kann, beobachtet Mühlmann mathematische Modelle, um festzustellen, woher Kultur kommt und wohin sie sich entwickelt, letzteres mit Hilfe "genetischer Algorithmen", das sind mathematische Funktion, die sich "sexuell" vermehren und dadurch unvorhersehbare Lebenswelten schaffen. Am beeindruckendsten fand ich das Beispiel von mathematischen "Lebewesen" in der 30. Generation, die eines morgens zum Erstaunen ihres Schöpfers alle "tot" waren - infolge des "Baldwin-Effekts", wie sich dann herausstellte.
Dieser besteht in einer mittelbaren Weise von praktischem Wissen, ins Genom überzugehen. Bei Menschen erzeugt das Instinktsicherheit und ästhetisches Feingefühl, die sich als lebensgefährlich herausstellen können, wenn die Umgebung sich verändert und das nicht mehr beobachtet werden kann.
Wenn ich Mühlmann richtig lese, sieht er in der modernen Kunst seit dem 17ten Jahrhundert "Baldwin" am Werk, also keine Optimierung unseres Rezeptoriums, sondern dessen lebensgefährliche Ablenkung - durch Verfeinerung - von dem, was uns ggf. retten könnte.
Drauf kommt er nicht aus vorgeschaltetem Kulturpessimismus, sondern infolge von Experimenten mit genetischen Algorithmen, welche die Entwicklung und den Niedergang von Kulturen modellieren.
Ich hoffe, ich habe das alles richtig verstanden | wiedergegeben.
So etwas Originelles habe ich jedenfalls lange nicht gelesen.

Kain und Abel

 Adam schlief mit seiner Frau Eva, und sie wurde schwanger, gebar den Kain. "Gott" sagte sie, "hat mir einen Sohn geschenkt." Sie fuhr fort und gebar den Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schäfer, Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit opferte Kain ein paar Feldfrüchte, Abel brachte Gott Lämmer seiner Herde, obendrein Fett. Gott gefiel, was ihm Abel hergab, weniger das Opfer seines Bruders. Das erbitterte Kain; er verstellte sich aber. Gott sprach: "Warum tust du so, als ob du nicht wütend bist? Warum machst du uns etwas vor? Sei guten Mutes, und du nimmst für dich ein, haderst du jedoch, wirst du ein Verbrechen begehen. Reiß dich zusammen." Kain aber beredete seinen Bruder Abel. Als sie danach auf dem Feld waren, zettelte er einen Streit an und schlug ihn tot. Da sprach Gott zu Kain: "Wo ist dein Bruder Abel?" Kain antwortete: "Was fragst du mich? Bin ich sein Kindermädchen?" Gott aber sprach: "Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Verflucht sollst du sein auf ihr, die ihr Maul auftat und deines Bruders Blut von deinen Händen empfing. Wenn du deine Felder bestellst, sollen sie nichts hergeben. Ruhelos und flüchtig sollst du sein auf Erden." Kain antwortete: "Mir kann nicht vergeben werden, meine Sünde ist zu groß. Du vertreibst mich, ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen, muß unstet und flüchtig sein auf Erden. Zum Schluß wird mich irgendwer totschlagen." Aber der Gott sprach zu ihm: "Nein; denn wer Kain totschlägt, kriegt es siebenfach heimgezahlt." Und Gott brannte Kain ein Zeichen in die Stirn, damit sich keiner traute, ihn zu erschlagen. Also ging Kain Gott aus den Augen und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden. Die moralische Pointe finde ich in der Aufforderung Gottes an Kain, damit aufzuhören, sich zu verstellen. Er macht eine zu große Sache daraus, diesmal verloren zu haben. Es ist seine wütende Ungeduld, die ihn zu Fall bringt. Und natürlich identifiziert sich jeder, der die Geschichte liest, mit ihm. Das ganze könnte z. B. auch eine hervorragende Backstory für ein Drama sein, beginnt mit dem Auftauchen eines Fremden "Jenseits von Enden", der ein geheimnisvolles Tatoo auf der Stirn trägt . . .

ANGST - einzig wirklicher Motor?


Gibt es eigentlich irgendeinen technischen Fortschritt, der nicht aus den Laboren des Militärs kommt?
Die Zivilgesellschaft an sich scheint zu keinen Innovationen imstande, hat - wenn schon - die Tendenz, sich zu zerlegen.
Wieso modernisiert andererseits das Militär?
Aus Angst. Dass der Feind einem zuvorkommt.
Ohne Angst rührt sich folglich gar nichts.

Sokrates im Phaidros

...die Priesterinnen zu Dodona haben im Wahnsinn vieles Gute in privaten und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas zugewendet, bei Verstande aber Kümmerliches oder gar nichts.

Deutschland

Wenn ich die gegenwärtige politische Ordnung der Welt betrachte, gehört Deutschland zu jenen Staaten mit den am "wenigsten dichten" Grenzen. Blickt man in die Vergangenheit, bildeten eigentlich immer Bevölkerungen mit eben diesem Merkmal die ihre Epoche beherrschenden, dynamischsten Kulturen, während die Verdeutlichung im Ziehen von Grenzen, der Bau von Mauern das Absterben der umgrenzten Einheit einleitete.
Welcher Staat hatte je seine Umzäunung überlebt?
Staaten hinter Mauern brauchen, um sich zu verstehen, etwas Feindseliges auf der anderen Seite. Z. B. Israel den Antisemitismus, ohne den es zerfallen würde. Verheerender wirkt sich das Feindbild aus, auf welches die USA je angewiesen sind, um nicht auseinander zu brechen.
Wenn natürliche Grenzen wie das Meer solches Befinden fördern, müssten Insel-Staaten eine besonders starke Neigung haben, als Antwort auf "das Fremde", welches sie umgibt, zusammenzuhalten.
Die andere Möglichkeit, Menschen ineinander zu hängen, besteht in der Stiftung einer Religion oder Ideologie, die dann gerade über jede Grenze hinaus Gefolgsleute zu machen geneigt ist.
Gibt es eigentlich irgendeinen originellen oder virulenten "Religionsstifter" der Neuzeit, der nicht deutsch geschrieben hätte: Kant, Schelling, Hegel - Nietzsche, Marx, Freud, Jung, Jaspers, Heidegger, Habermas? Wurde nicht auch die zeitgenössische, das Unendlich berechende Mathematik von Leibnitz, Gauß und Riemann erfunden?
Und können wir nicht gerade modellhaft an England beobachten, was das Zusammenziehen auf ein Nationalgebiet bedeutet?
Deutschland steht dem als Alternative entgegen.
"Noch", möchte man hinzufügen - aber hat Deutschland sich überhaupt je anderes verstehen können?

James Madison | 10. Federalist Papers

Die verborgenen Ursachen für die Entstehung von Parteiungen liegen also in der menschlichen Natur; wir sehen sie überall in verschiedenem Maß aktiviert, je nach den verschiedenen Umständen, die in der jeweiligen bürgerlichen Gesellschaft herrschen. Der Einsatz für religöse, politische und anderer Überzeugungen in Wort und Tat, die Bindung an verschiedene politische Führer, die voller Ehrgeiz um Vorherrschaft und Macht ringen, oder an andere Persönlichkeiten, deren Schicksal die menschlichen Leidenschaften erregt haben - all dies hat die Menschheit immer wieder in Parteien gespalten, sie mit Feindseligkeit gegeneinander erfüllt und sie dazu gebracht, einander eher zu peinigen und zu unterdrücken als um des gemeinsamen Wohls willen zusammenzuarbeiten. So stark ist dieser Hang der Menschen, in wechselseitige Feindseligkeiten zu verfallen, dass dort, wo es an einem wirklichen Anlass mangelt, die nichtigsten und absonderlichsten Unterschiede zwischen ihnen genügen, um negative Gefühle zu erzeugen und die heftigsten Konflikte herbeizuführen . . . Diese vielfältigen und einander widersprechenden Interessen zu regulieren, ist die wesentliche Aufgabe der modernen Gesetzgebung. Der Umgang mit Parteien und Parteiungen gehört also zu den normalen Erfordernissen der Regierungstätigkeit.

Selbstfindung nach Kierkegaard


Kierkegaard beschreibt den Menschen als Spannungsfeld zwischen unversöhnlichen Momenten wie z. B. Endlichkeit | Unendlichkeit - Zeitlichkeit | Ewigkeit - Notwendigkeit | Freiheit - also: Körper | Seele. Er deutet dies Zerwürfnis als eine verzweifelte Lage, welche das Menschsein von Anfang an ausmacht.

Da liest man so drüber hinweg. Daher nochmal: die Ausgangslage des Menschen ist nach Kierkegaard auf jeden Fall misslich. Nicht, weil er etwas verkehrt gemacht macht, sondern weil er auf die Welt kommt - zum Verzweifeln. Es gibt keinen Menschen, der nicht ursprünglich verzweifelt wäre aus den oben beschriebenen Gründen.

Der Verzweiflung kann ein Mensch nun nach Kierkegaard entgehen durch die Entwicklung eines SELBSTS.

Dies kann auf dreierlei Weise misslingen:

1 - durch Nicht-Innewerdung der nativen Verzweiflung infolge von Zeitvertreib intellektueller oder spielerischer Natur. Blaise Pascal führt als Beispiele für diese Ablenkungen "Tennisspielen" und "Mathematik" an, was ich hier zitiere, weil ich es lustig finde. "Tennisspielen" kann man durch alles ersetzten, was heute unter den Begriff "fun" fällt (Gefühls-Rhetorik . . .) - "Mathematik" würde ich ins Heute übersetzen durch "Algorithmus", "künstliche Intelligenz | VR" und "Wo ist das Problem?"-Mentalität. - Kierkegaard hält diese Art der Verzweiflung, die gar nicht weiß, dass sie verzweifelt ist, für die hoffnungsloseste (potentiell letalste).

2 - durch "Magersucht": indem ein Spannungs-Pol dem anderen geopfert wird. Damit sind z. B. asketische Bestrebungen gemeint, auf der Kehrseite hedonistische - religiöse Unerbittlichkeit vs. hysterischer Atheismus usf. Die Spannung soll dadurch aus dem Menschsein getuscht werden, dass eine der sie bedingenden Kräfte niedergewollt wird (um meist in verkrüppelter Form - Tatoos bei Atheisten, Drogen- oder Sex-Exzesse bei Fundamentalisten, Bulimie usf. - wieder aufzutauchen).

3 - durch Überschätzung: indem man versucht, ein "selbstbestimmtes" Leben zu führen und reklamiert, die Widersprüche im Wesen des menschlichen Seins eigenmächtig versöhnt zu haben (was nach Kierkegaard bis heute noch niemandem gelang).

Entsprechend die üblichen Ausgangspunkte von "Selbstwerdungs"-Romanen: Verzweiflung bricht durch, die Hauptfigur verliert ihr bisheriges Leben; aber irgendwie ist es auch kein richtiger Verlust, weil damit die Chance besteht, sich auf etwas zu verlegen: sein "wahres Selbst".

Wie hat man sich dessen Wahrwerden vorzustellen?

Für Kierkegaard spielt dazu das "Andere" eine entscheidende Rolle, ursprünglich als "Gott" interpretiert, ein Wort, das bei Kierkegaard freilich niemals fällt. Er stellt nur fest, kein Mensch vermöchte sich spontan aus dem nativen Widerspruch zu retten, der sein Wesen ausmacht, sondern müsse sich dafür etwas widmen, das mehr sei, als er schon ist: im Hinzukommen sein Selbst erschafft.

". . . ein Selbst" , schreibt Kierkgegaard, "muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein." Da wir als Menschen jener Strebungen, welche uns ausmachen - körperliche einerseits, geistige andererseits - nie zeitgleich inne, nicht zugleich bei einer Sache sowie abgehoben von dieser sein können, sind wir auch nicht imstande, was uns auseinandertreibt, einzubinden. Wir verfügten über kein spontanes Selbst, es muss vielmehr im Fall von uns Menschen "durch ein anderes gesetzt sein".

"Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte."

"Durchsichtig" meint wohl etwas wie "an der Nasenspitze anzusehen" = diejenige Person hat sich selbst oder ihr Selbst gefunden, deren Dasein von einer Sache erfüllt ist, die sich in allen wichtigen Aspekten ihres Tuns und Strebens ("durchsichtig") mitteilt, nichts Menschliches dabei auslässt oder unterdrückt.

Was für eine - das Selbst setzende - "Sache" kann das sein?

Im Falle Dantes wäre es z. B. "Beatrice" (wie sie in rührender Form als "Jenny" in Forrest Gump zurückkehrt) - der Tanz in Billy Elliot - Hollys Freundschaft zu Harry in Der dritte Mann - die Krone in Macbeth - die Literaturwissenschaften in Stoner usf.

In welcher Weise aber hebt eine Sache jene die Menschen sonst zerreißende Spannung, die kraft ihrer schwelende Verzweiflung, auf? Indem die nativ widespenstigen Pole des Menschseins durch etwas Hinzukommendes integriert werden.

Dies geschieht nach Kierkegaard z. B. durch die Stiftung von "Identität": in welcher sich Zeit und Ewigkeit versöhnen. Was sich von einem Menschen hält, ihn "in Ewigkeit" ausmacht, entspringt den vergänglich Spuren, die er - herausgefordert durch eine Begegnung - hier und jetzt hinterließ, je hingebungsvoller, desto endgültiger.

Endlichkeit und Unendlichkeit als Verzweiflungsquellen des Seins werden dadurch versöhnt, dass ein engagierter ("gläubiger") Mensch mit allem etwas anfangen kann, das ihm begegnet - und je begegnen wird! Denn es hat in jedem Fall Bedeutung kraft dessen, worauf er sich verlegt hat, indem es dasselbe konturiert, fördert oder behindert. Indem ich weiß, was wirklich werden soll (Endlichkeit), hat es mit allem, was mir je begegnet (Undendlichkeit), bereits etwas auf sich.

Die Versöhnung von Notwendigkeit oder Faktizität und Freiheit entspringt in der Schaffung neuer Handlungsmöglichkeiten infolge zunehmender Identität. Nur wer einen bestimmten Weg einschlug, gelangt an neue Gabelungen, die seine Freiheit herausfordern und dadurch bedingen. Das gilt selbst für Macbeth.

Ein sicheres Erkennungsmerkmal aber für die "Sache", welche mir zum Selbst verhälfe, ist für Kierkegaard das Gefühl der Angst, die angesichts ihrer in mir anhebt. In einem Hinzukommen, dessen Anmut den Herzschlag beschleunigen, allein liegt die Rettung.

Spinozas Gefühle

Spinoza geht davon aus, jeder von uns brauche Energie, um zu überleben, und macht das menschliche Wesen in der Kraft oder Fähigkeit ausfindig, über welche es verfügt, um zu handeln oder zu denken.
Das ist neu und originell, man liest schnell darüber hinweg. Unser Wesen besteht m. a. W. (nach Spinoza) nicht darin, dass wir denken oder eine Seele haben, sondern dass wir zu Dingen in der Welt imstande sind: etwas können.
Demzufolge bestimmt Spinoza nur zwei Emotion: Freude und Trauer - die eine wächst mit dem Imstandesein, die andere mit dem Unvermögen (zu handeln oder zu denken).
Alle anderen Gefühle sind für Spinoza Freude oder Trauer, verknüpft mit irgendwelchen Vorstellungen von Gegenständen, die sie verursachen. Liebe oder Hass z. B. sind Freude beziehungsweise Trauer in Zusammenhang mit vorgestellten Ursachen derselben. Weswegen Gefühle auch mehr mit unserer Einbildungskraft als mit der Wirklichkeit zu tun haben können: indem etwa die Person, welche ich liebe, meine Imstandesein eher schwächt als, wie ich mir einbilde, stärkt.
Freude oder Trauer können ferner, meint Spinoza, aktive oder passive Gefühle sein, indem wir ihre Ursachen verstehen oder verkennen. Wir sind als Fühlende deswegen entweder von uns selbst bestimmt oder von etwas | jemand anderem.
Verstehen heißt, Ursachen erkennen - im Falle unserer Gefühle jene äußeren Einflüsse und spontanen Antworten, die unserem Sosein entspringen. Unverstanden lassen wir Gefühle nur über uns ergehen. Sie zu verstehen bedeutet nach Spinoza eine Steigerung: innerer Taumel hört auf, reine Leidenschaft zu sein, sobald ihm die genaue Vorstellung seiner Ursachen zur Seite tritt. Selbst schmerzliche Gefühle wie Verzweiflung oder Kummer können daher einen Zuwachs an Macht und somit Freude bedeuten in dem Maße, in dem ihre Ursachen richtig vorgestellt werden. Denn Verstehen vergrößert, unabhängig von seinem Inhalt, meinte Spinoza, die Freude.
Damit hat er die Haupt-Punkte Goethes, wohl auch Nietzsches vorweggenommen, eigentlich auch die Psychoanalyse begründet. Seine Glücksrezepte sind bis heute nicht überholt.

Goethe | Dichtung und Wahrheit

GOETHE | Dichtung und Wahrheit - der Teenager Goethe hat nicht ganz standesgemäße Freunde gefunden, in deren Gesellschaft in vor allem das ein Jahr ältere Gretchen fasziniert:
"So vergaßen wir, an die Zeit zu denken: es war schon über Mitternacht geworden, und ich fand, daß ich unglücklicherweise den Hausschlüssel nicht bei mir hatte. Ohne das größte Aufsehen zu erregen, konnte ich nicht ins Haus. Ich teilte ihr meine Verlegenheit mit. »Am Ende«, sagte sie, »ist es das beste, die Gesellschaft bleibt beisammen.« Die Vettern und jene Fremden hatten schon den Gedanken gehabt, weil man nicht wußte, wo man diese für die Nacht unterbringen sollte. Die Sache war bald entschieden; Gretchen ging, um Kaffee zu kochen, nachdem sie, weil die Lichter auszubrennen drohten, eine große messingene Familienlampe mit Docht und Öl versehen und angezündet hereingebracht hatte.
Der Kaffee diente für einige Stunden zur Ermunterung; nach und nach aber ermattete das Spiel: das Gespräch ging aus, die Mutter schlief im großen Sessel, die Fremden, von der Reise müde, nickten da und dort, Pilades und seine Schöne saßen in einer Ecke. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und schlief; auch er wachte nicht lange. Der jüngere Vetter, gegen uns über am Schiefertische sitzend, hatte seine Arme vor sich über einander geschlagen und schlief mit aufliegendem Gesichte. Ich saß in der Fensterecke hinter dem Tische, und Gretchen neben mir. Wir unterhielten uns leise; aber endlich übermannte auch sie der Schlaf, sie lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter und war gleich eingeschlummert. So saß ich nun, allein wachend, in der wunderlichsten Lage, in der auch mich der freundliche Bruder des Todes zu beruhigen wußte. Ich schlief ein, und als ich wieder erwachte, war es schon heller Tag. Gretchen stand vor dem Spiegel und rückte ihr Häubchen zurechte; sie war liebenswürdiger als je und drückte mir, als ich schied, gar herzlich die Hände. Ich schlich durch einen Umweg nach unserm Hause: denn an der Seite, nach dem kleinen Hirschgraben zu, hatte sich mein Vater in der Mauer ein kleines Guckfenster, nicht ohne Widerspruch des Nachbarn, angelegt. Diese Seite vermieden wir, wenn wir nach Hause kommend von ihm nicht bemerkt sein wollten. Meine Mutter, deren Vermittelung uns immer zu gute kam, hatte meine Abwesenheit des Morgens beim Tee durch ein frühzeitiges Ausgehen meiner zu beschönigen gesucht; und ich empfand also von dieser unschuldigen Nacht keine unangenehmen Folgen."
Die Geschichte mit Gretchen fliegt später auseinander, weil die Freunde in Betrügereien verwickelt sind, zu denen ahnungslos auch der junge Goethe beiträgt. Man hat jedoch den Eindruck, dass Goethe sich sein Leben lang nicht von dem Verlust seiner ersten Liebe - noch vor Ch. Buff - erholt. "So viel ist aber gewiß", schreibt er an anderer Stelle von Dichtung und Wahrheit, "daß die unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der Jugend und ungebildeter Völker allein zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind. Eine solche Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle Menschen, so wie sie dieses edle Bedürfnis auf mancherlei Weise zu befriedigen suchen. Aber wie das Erhabene von Dämmerung und Nacht, wo sich die Gestaltenvereinigen gar leicht erzeugt wird, so wird es dagegen vom Tage verscheucht, der alles sondert und trennt, und so muß es auch durch jede wachsende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich sind."

Dichtung und Wahrheit

Eine von mir selbst sehr reinlich gefertigte Abschrift legte ich meinem Freunde Derones vor, welcher sie mit ganz besonderem Anstand und einer wahrhaften Gönnermiene aufnahm, das Manuskript flüchtig durchsah, mir einige Sprachfehler nachwies, einige Reden zu lang fand und zuletzt versprach, das Werk bei gehöriger Muße näher zu betrachten und zu beurteilen. Auf meine bescheidene Frage, ob das Stück wohl aufgeführt werden könne, versicherte er mir, daß es garnicht unmöglich sei. Sehr vieles komme beim Theater auf Gunst an, und er beschütze mich von ganzem Herzen; nur müsse man die Sache geheim halten: denn er habe selbst einmal mir einem von ihm verfertigten Stück die Direktion überrascht, und es wäre gewiß aufgeführt worden, wenn man nicht zu früh entdeckt hätte, daß er der Verfasser sei. Ich versprach ihm alles mögliche Stillschweigen und sah schon im Geist den Titel meiner Piece an den Ecken der Straßen und Plätze mit großen Buchstaben angeschlagen.
So leichtsinnig übrigens der Freund war, so schien ihm doch die Gelegenheit, den Meister zu spielen, allzu erwünscht. Er las das Stück mit Aufmerksamkeit durch, und indem er sich mit mir hinsetzte, um einige Kleinigkeiten zu ändern, kehrte er im Laufe der Unterhaltung das ganze Stück um und um, so daß auch kein Stein auf dem andern blieb. Er strich aus, setzte zu, nahm eine Person weg, substituierte eine andere, genug, er verfuhr mit der tollsten Willkür von der Welt, daß mir die Haare zu Berge standen. Mein Vorurteil, daß er es doch verstehen müsse, ließ ihn gewähren: denn er hatte mir schon öfter von den drei Einheiten des Aristoteles, von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne, von der Wahrscheinlichkeit, von der Harmonie der Verse und allem, was daran hängt, so viel vorerzählt, daß ich ihn nicht nur für unterrichtet, sondern auch für begründet halten mußte. Er schalt auf die Engländer und verachtete die Deutschen; genug, er trug mir die ganze dramaturgische Litanei vor, die ich in meinem Leben so oft mußte wiederholen hören.
Ich nahm, wie der Knabe in der Fabel, meine zerfetzte Geburt mir nach Hause und suchte sie wieder herzustellen, aber vergebens. Weil ich sie jedoch nicht ganz aufgeben wollte, so ließ ich aus meinem ersten Manuskript, nach wenigen Veränderungen, eine saubere Abschrift durch unsern Schreibenden anfertigen, die ich denn meinem Vater überreichte und dadurch so viel erlangte, daß er mich nach vollendetem Schauspiel meine Abendkost eine Zeitlang ruhig verzehren ließ.