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Selbstfindung . . .

. . . ist ja eines der Haupt-Themen fiktionaler Geschichten. Ich bin, was dies betrifft, im Kielwasser einer ambitionierten Manga-Serie neulich auf "Kierkegaard" gestoßen und erachte inzwischen den Einstieg zu seinem Ratgeber "Die Krankheit zum Tode" nicht unfruchtbar für Autoren. Wer möchte, kann den Text in deutscher Übersetzung unter dem schließlich zitierten Link nachlesen. Er ist nur sehr verschraubt, weswegen ich hier eine für Autoren gemeinte Deutung hinschiebe, die hoffentlich nicht zu viele Fehler enthält.
Kierkegaard beschreibt den Menschen als Spannungsfeld zwischen unversöhnlichen Momenten wie z. B. Endlichkeit | Unendlichkeit - Zeitlichkeit | Ewigkeit - Notwendigkeit | Freiheit - also: Körper | Seele. Er deutet dies Zerwürfnis als eine verzweifelte Lage, welche das Menschsein von Anfang an ausmacht.
Dieser Verzweiflung kann der Mensch entgehen durch die Entwicklung eines Selbsts.
Dies kann auf dreierlei Art misslingen.
1 - durch Nicht-Innewerdung der inneren Spannung infolge von Zeitvertreib intellektueller oder spielerischer Natur. Blaise Pascal führt als Beispiele für diese Ablenkungen "Tennisspielen" und "Mathematik" an, was ich hier zitiere, weil ich es lustig finde. "Tennisspielen" kann man durch alles ersetzten, was heute unter den Begriff "fun" fällt (Gefühls-Rhetorik . . .) - "Mathematik" würde ich ins Heute übersetzen durch "Algorithmus", "künstliche Intelligenz | VR" und "Wo ist das Problem?"-Mentalität. - Kierkegaard hält offenbar diese Art der Verzweiflung, die gar nicht weiß, dass sie verzweifelt ist, für die hoffnungsloseste (potentiell letalste).
2 - durch "Magersucht": indem ein Spannungs-Pol dem anderen geopfert wird. Damit sind z. B. asketische Bestrebungen gemeint, auf der Kehrseite hedonistische - religiöse Unerbittlichkeit vs. hysterischer Atheismus usf. Die Spannung soll dadurch aus dem Menschsein retuschiert werden, dass eine der sie bedingenden Kräfte niedergewollt wird (um meist in verkrüppelter Form - Tatoos bei Atheisten, Drogen- oder Sex-Exzesse bei Fundamentalisten, Bulimie usf. - wieder aufzutauchen).
3 - durch Überschätzung: indem man versucht, ein "selbstbestimmtes" Leben zu führen und reklamiert, die Widersprüche im Wesen des menschlichen Seins eigenmächtig eingebunden zu haben (was nach Kierkegaard bis heute noch niemandem gelang).
Entsprechend die üblichen Ausgangspunkte von "Selbstwerdungs"-Geschichten: Verzweiflung bricht durch, die Hauptfigur verliert ihr bisheriges Leben; aber irgendwie ist es auch kein richtiger Verlust, weil damit die Chance sich eröffnet, etwas Wertvolles zu finden: das "wahre Selbst".
Wie hat man sich solches Finden vorzustellen?
Bei Kierkegaard spielt zu diesem Punkt das "Andere" herein, traditionellerweise als "Gott" interpretiert, ein Wort, das bei Kierkegaard freilich niemals fällt. Er stellt nur fest, kein Mensch wisse, sich aus eigenen Kräften aus dem nativen Widerspruch zu verhelfen, dem sein Wesen entspringt, sondern müsse sich dafür etwas widmen, das mehr sei, als er alleine, und eingebunden würde durch sein solcherart entstehendes "Selbst".
". . . ein Selbst" , schreibt Kierkgegaard, "muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein." Da wir als Menschen aber jene Bedürfnisse, welche uns ausmachen - körperliche sowie geistige - nicht zeitgleich ausdrücken können, nicht simultan völlig bei der Sache und völlig abgehoben sein können, können wir auch das, was unsere widerstreitenden Momente versöhnte, nicht von uns aus "gesetzt" haben. Sonst würde es ja bereits leisten, was uns Menschen abgeht. Vielmehr muss es "durch ein anderes gesetzt sein".
Kierkegaard fasst zusammen: "Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz beseitigt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte."
"Durchsichtig" meint wohl etwas wie "an der Nasenspitze anzusehen" = diejenige Person hat sich selbst oder ihr Selbst gefunden, deren Leben von einer Sache erfüllt ist, die sich in allen wichtigen Aspekten ihres Tuns und Sterbens ("durchsichtig") mitteilt und nichts Menschliches dabei auslässt oder unterdrückt.
Was für eine "Sache" kann das sein?
Im Falle Dantes ist es z. B. "Beatrice" (wie sie in rührender Form als "Jenny" in Forrest Gump zurückkehrt) - der Tanz in Billy Elliot - Hollys Freundschaft zu Harry in Der dritte Mann - die Krone in Macbeth - die Literaturwissenschaften in Stoner usf.
Wie aber hebt die Hinwendung zu einer Sache die einen Menschen sonst zerreißende Spannung auf sowie die kraft ihrer schwelende Verzweiflung? Zu diesem Zweck müsste sie gewiß die nativ widespenstigen Momente des Menschseins integrieren.
Dies geschieht nach Kierkegaard z. B. durch die Stiftung von "Identität", in welcher sich Zeit und Ewigkeit versöhnen. Was sich von einem Menschen hält, ihn "in Ewigkeit" ausmacht, entspringt den vergänglich Spuren, die er - im Dienste seiner Sache - im Hier und Jetzt hinterließ. Ein Mensch wird unverwechselbar ("ewig") als Summe seiner ("vergänglichen") Taten . . .
Endlichkeit und Unendlichkeit als Aspekte der Welt werden dadurch versöhnt, dass ein engagierter Mensch mit allem etwas anfangen kann, das ihm begegnet - und je begegnen wird! Denn im Hinblick auf seine Sache hat es immer Bedeutung, in dem Maße beispielsweise wie es diese konturiert, fördert oder behindert. Indem ich weiß, was wahr werden soll (Endlichkeit), hat es mit allem, was mir je begegnet (Undendlichkeit), bereits etwas auf sich.
Die Versöhnung von Notwendigkeit oder Faktizität und Freiheit liegt in der Schaffung neuer Handlungsmöglichkeiten infolge zunehmender Identität. Nur wer einen bestimmten Weg einschlug, gelangt an neue Gabelungen.
Ein wesentliches Erkennungsmerkmal aber für die "Sache", die einen Menschen zum Selbst verhilft, ist für Kierkegaard offenbar das Gefühl der Angst, die durch das implizite Tun, in einem ausgelöst wird . . .
Soweit meine zusammenfassende Deutung einiger Gedanken Kierkegaards. Sie könnten sich als nützlich erweisen, wo sich für einen Autor der Eindruck verfestigt, es in erster Linie mit einer verzweifelten Hauptfigur zu tun zu haben, die uneigentliche Ziele verfolgt.