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Goethe | Dichtung und Wahrheit

GOETHE | Dichtung und Wahrheit - der Teenager Goethe hat nicht ganz standesgemäße Freunde gefunden, in deren Gesellschaft in vor allem das ein Jahr ältere Gretchen fasziniert:
"So vergaßen wir, an die Zeit zu denken: es war schon über Mitternacht geworden, und ich fand, daß ich unglücklicherweise den Hausschlüssel nicht bei mir hatte. Ohne das größte Aufsehen zu erregen, konnte ich nicht ins Haus. Ich teilte ihr meine Verlegenheit mit. »Am Ende«, sagte sie, »ist es das beste, die Gesellschaft bleibt beisammen.« Die Vettern und jene Fremden hatten schon den Gedanken gehabt, weil man nicht wußte, wo man diese für die Nacht unterbringen sollte. Die Sache war bald entschieden; Gretchen ging, um Kaffee zu kochen, nachdem sie, weil die Lichter auszubrennen drohten, eine große messingene Familienlampe mit Docht und Öl versehen und angezündet hereingebracht hatte.
Der Kaffee diente für einige Stunden zur Ermunterung; nach und nach aber ermattete das Spiel: das Gespräch ging aus, die Mutter schlief im großen Sessel, die Fremden, von der Reise müde, nickten da und dort, Pilades und seine Schöne saßen in einer Ecke. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und schlief; auch er wachte nicht lange. Der jüngere Vetter, gegen uns über am Schiefertische sitzend, hatte seine Arme vor sich über einander geschlagen und schlief mit aufliegendem Gesichte. Ich saß in der Fensterecke hinter dem Tische, und Gretchen neben mir. Wir unterhielten uns leise; aber endlich übermannte auch sie der Schlaf, sie lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter und war gleich eingeschlummert. So saß ich nun, allein wachend, in der wunderlichsten Lage, in der auch mich der freundliche Bruder des Todes zu beruhigen wußte. Ich schlief ein, und als ich wieder erwachte, war es schon heller Tag. Gretchen stand vor dem Spiegel und rückte ihr Häubchen zurechte; sie war liebenswürdiger als je und drückte mir, als ich schied, gar herzlich die Hände. Ich schlich durch einen Umweg nach unserm Hause: denn an der Seite, nach dem kleinen Hirschgraben zu, hatte sich mein Vater in der Mauer ein kleines Guckfenster, nicht ohne Widerspruch des Nachbarn, angelegt. Diese Seite vermieden wir, wenn wir nach Hause kommend von ihm nicht bemerkt sein wollten. Meine Mutter, deren Vermittelung uns immer zu gute kam, hatte meine Abwesenheit des Morgens beim Tee durch ein frühzeitiges Ausgehen meiner zu beschönigen gesucht; und ich empfand also von dieser unschuldigen Nacht keine unangenehmen Folgen."
Die Geschichte mit Gretchen fliegt später auseinander, weil die Freunde in Betrügereien verwickelt sind, zu denen ahnungslos auch der junge Goethe beiträgt. Man hat jedoch den Eindruck, dass Goethe sich sein Leben lang nicht von dem Verlust seiner ersten Liebe - noch vor Ch. Buff - erholt. "So viel ist aber gewiß", schreibt er an anderer Stelle von Dichtung und Wahrheit, "daß die unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der Jugend und ungebildeter Völker allein zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind. Eine solche Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle Menschen, so wie sie dieses edle Bedürfnis auf mancherlei Weise zu befriedigen suchen. Aber wie das Erhabene von Dämmerung und Nacht, wo sich die Gestaltenvereinigen gar leicht erzeugt wird, so wird es dagegen vom Tage verscheucht, der alles sondert und trennt, und so muß es auch durch jede wachsende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich sind."