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WITTGENSTEINS HERAUSFORDERUNG AN DEN LESER

Ludwig Wittgensteins Philosophieren besteht in dem Versuch, uns zu entwöhnen von der fixe Idee, unsere inneren Zustände und Verläufe würden etwas vergegenwärtigen oder fundamental sein - oder Bedeutung würde in Regeln oder Strukturen liegen.

Es ist nicht einfach, Wittgenstein zu folgen, da seine Texte plötzlich das Thema zu wechseln scheinen, in mehreren Stimmen sprechen, immer wieder Tonart und Farbe wechseln.

Ständig wird der Leser aufgefordert, Fragen zu beantworten.

In den "Philosophischen Untersuchungen" werden 784 Fragen gestellt, von denen nur 110 beantwortet werden - in 70 Fällen absichtlich falsch, um einen Irrtum zu veranschaulichen. Oft entdeckt man als Leser, dass die Antwort, welche einem spontan auf eine Frage einfiel, vorweggenommen wurde und Gegenstand des nächsten Abschnitts oder der nächsten Bemerkung ist.

Manchmal wird eine Frage gestellt, gefolgt von Beobachtungen, abgeschlossen mit einer - meist kurzen, schneidenden - Antwort:

Etwa in "Philosophische Untersuchungen" 199:

"Ist, was wir »einer Regel folgen« nennen, etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könnte? - Und das ist natürlich eine Anmerkung zur Grammatik des Ausdrucks »der Regel folgen«.
Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. - Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind G e p f l o g e n h e i t e n (Gebräuche, Institutionen).
Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen."

Manchmal fordert Wittgenstein den Leser unmittelbar auf, um einen Strang seiner Untersuchungen anzufangen oder zu beenden: "Mach diesen Versuch: S a g »Hier ist es kalt« und m e i n e »Hier ist es warm«. Kannst du es? - Und was tust du dabei? Und gibt es nur eine Art, das zu tun?" (510)

Dann wieder nimmt er vermutliche Antworten vorweg und stößt nach mit weiteren, den Irrtum vertiefenden Fragen, um dann seine - richtige - Antwort zu geben: "Woher kommt uns auch nur der Gedanke: Wesen, Gegenstände, könnten etwas fühlen?
Meine Erziehung hätte mich darauf geführt, indem sie mich auf die Gefühle in mir aufmerksam machte, und nun übertrage ich die Idee auf Objekte außer mir? Ich erkenne, es ist da (in mir) etwas, was ich, ohne mit dem Wortgebrauch der Andern in Widerspruch zu geraten, »Schmerzen« nennen kann? - Auf Steine und Pflanzen, etc. übertrage ich meine Idee nicht.
Könnte ich mir nicht denken, ich hätte fürchterliche Schmerzen und würde, während sie andauern, zu einem Stein? Ja, wie weiß ich, wenn ich die Augen schließe, ob ich nicht zu einem Stein geworden bin? - Und wenn das nun geschehen ist, inwiefern wird d e r S t e i n Schmerzen haben? Inwiefern wird man es vom Stein aussagen können? Ja warum soll der Schmerz hier überhaupt einen Träger haben?!
Und kann man von dem Stein sagen, er habe eine Seele und d i e hat Schmerzen? Was hat eine Seele, was haben Schmerzen, mit einem Stein zu tun?
Nur von dem, was sich benimmt wie ein Mensch, kann man sagen, daß es Schmerzen h a t.
Denn man muß es von einem Körper sagen, oder, wenn du willst, von einer Seele, die ein Körper h a t. Und wie kann ein Körper eine Seele h a b e n?" (283)

Fragen werden in den Philosophischen Untersuchungen ganz unterschiedlich verwandt. Unsere Antworten, während wir lesen, machen die Lektüre zu einer merkwürdig innigen Erfahrung, die nicht wenige Leser schließlich befreit, ja beschwingt. Hat man die Erfahrung aber hinter sich, ist es schwierig, einen Schritt davon zurück zu tun und in Worte zu fassen, was man nun gelernt hat, und wie es auf diese oder jene Streitfrage anzuwenden wäre. Die Lektüre Wittgensteins gleicht insofern dem Sich-Einlassen auf ein Kunstwerk: ein Vorgang, welcher sich der Paraphrasierung widersetzt. Man muss es selbst erleben. Nicht so sehr was, sondern w i e man denkt, wird dabei verändert.

Die "Philosophischen Untersuchungen" setzen das Wesen von Sprache und Bewusstsein auseinander sowie einen Verblendungszusammenhang, zu dem wir, meint Wittgenstein, infolge unserer herrschenden Kultur unrettbar neigen. Er sondiert unser Selbstverständnis, genuin denkende, wissende, sich die Welt vergegenwärtigende Wesen zu sein und macht dieses Selbstverständnis als höchst verworrenen Zusammenhang einander hochschaukelnder Illusionen erkennbar. Dies bewerkstelligt er nicht durch die Anführung von Gründen. Denn bei einer Verblendung helfen keine Argumente. Vielmehr liegt ihm daran, "die Neurose" aufzulösen, welche in einer fixen Idee davon besteht, was Bewusstsein und Bedeutung sind. Dafür werden Gedankenexperimente, Erinnerungen an stinknormale Lebenstatsachen ins Spiel gebracht sowie überraschende Gegenüberstellungen, ausgefuchste Listen von Beispielen und ein Chor einander widersprechender Stimmen. Wieder und wieder durchkreuzt Wittgenstein dabei dieselbe Landschaft in unterschiedlichen Richtungen, liefert Skizzen, so einseitig wie unvollständig, von dem, was dabei ins Auge springt, und versucht zu zeigen, wie zunächst einander widersprechende Auffassungen über das Wesen von Bewusstsein und Sprache zusammenhängen könnten. Die Aufgabe der Philosophie besteht dabei nicht in der Ausarbeitung von Ansprüchen oder Theorien, sondern im unausgesetzten Suchen nach Klarheit bezüglich der Weisen unseres Denkens. Wittgensteins Vormarsch zeigt einem dabei die Pfade auf eine Reihe von Hügeln und Vorgebirgen, von denen aus man die Landschaft in neuer Weise überblickt und - bestenfalls - mehr Licht darüber aufgehen sieht.