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Mutti

Gestern sah ich mal wieder den Faust. Ich denke immer, ich kenne das Stück nicht gut genug, aber der Deutschunterricht war nicht vergebens, fast alles ist irgendwie präsent bis in einzelne Worte oder Begriffe ("Gretchenfrage" . . .).
Was mir diesmal auffiel: Goethes notorische Gutgestimtheit. Innerlich kann ihn nichts wirklich umstossen. Die Verzweiflungen seines Spiegelbildes Faust werden immer aufgewogen durch dessen Alter Ego Mephisto.
Goethe hatte bekanntermaßen nur gearbeitet, wenn es ihm leicht fiel, sonst lieber eine Pause eingelegt. Für Schillers übermenschliche Disziplin hatte er nur Kopfschütteln übrig und machte sie mittelbar verantwortlich für den frühen Tod des Freundes.
Ich hatte Goethes Gemüt lange der Tatsache zugeschrieben, dass er Hesse war. Nachdem ich neulich aber Dichtung und Wahrheit las, denke ich, seine Mutter ist die Verantwortliche. Goethe hatte eine Mutter, die ihn für den größten hielt. Ähnlich Freud. So eine Mutter garantiert ein ungebrochenes, Welt und Wahrheit zugewandtes Selbstbewusstsein.
Goethes Mutter war sehr kindlich, nicht unähnlich seiner späteren Frau, die von ihrer Schwiegermutter mit dem Term (in heutiger Sprache) "Betthase" belegt wurde.
Schopenhauer hatte dagegen eine sehr kalte Mutter, die einem älteren Ehemann verkuppelt worden war, den sie nicht liebte. Heute hätte sie nicht mehr geheiratet, wäre eine bekannte Professorin, womöglich Ministerin o. ä. geworden. Trotzdem hielt sie ihren Sohn, weil er eben von ihr war, für ein Genie. Was zumindest Schopenhausers - pessimistischer - Philosophie einen gewisse Wohlgenährtheit verlieh.
Als komplizierteste ist mir Katharina, die Mutter Johannes Keplers, in Erinnerung, eine Gastwirtstochter und Kräuterfrau, die später der Hexerei angeklagt wurde. Ihr Sohn verbrachte einen Gutteil seiner Gelehrten-Existenz damit, sie aus den hochkomplizierten Prozessen von damals zu lösen und vor dem Scheiterhaufen zu bewahren. Sein Bruder hing noch mit 40 Jahren am Schürzenband der Mutter.
Kepler hätte die schleifenartigen Bewegungen der Planeten am Himmel wohl nicht als Audruck von Ellipsenbahnen deuten können, denke ich manchmal, wenn er nicht schon sehr früh Sinn in die Vorgänge seiner schizoiden Mutter zu lesen gezwungen gewesen wäre.
Ein anderes, hochkompliziertes Mutterverhältnis beschreibt Moritz in seinem autobiographischen Roman Anton Reiser, den manche für den besten deutschen Roman, besser als Wilhelm Meister, halten.
Goethe kannte Moritz, nannte ihn seinen "Bruder", aber sie waren sehr unterschiedliche Naturen. Ich spekuliere manchmal, Goethe ahnte, dass ihm die Tiefe eines Moritz abging, die nur zu haben war durch eine glücklose Kindheit.
Houllebecq - auch so ein Autor, der zehrt von der Abwesenheit der Mutter.
Die (nicht besonders originelle) These im Hintergrund meiner Überlegungen: dass sich alles Entscheidende von dem besonderen Verhältnis zur Mutter ableiten lässt bei Autoren und wohl auch Lesern. Wer eine kühle Mutter hatte, wird Anton Reiser für einen besseren Roman halten. Und es wird diesen Roman krank finden, wer eine "Goethe-Mutter" innehatte.
Der Faust ist und bleibt deswegen für mich ein rücksichtlos optimistisches Gedicht, spielt nur mit dem Horror, erlebt ihn aber nicht. Es sei denn man schnitte die Gretchen-Tragödie heraus und machte sie zu einem selbstständigen Werk. Jelinek würde das wahrscheinlich bringen, aber der fröhliche Brocken Goethe ragt gewaltig und dürfte selbst sie einschüchtern.
P. S. Der Faust ist eine Komödie, wie Dantes "Göttliche Komödie", indem er auf ein Gelingen hinausläuft.