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GLAUBST DU AN GOTT?


Fast alle Leute, welche diese Frage stellen, hängen einer Art Yeti-Theorie an: dass Gläubige auf die Existenz eines Wesens bauen, das noch kein Mensch gesehen hat. Und Atheisten signalisieren dann sogar, wenn man ihnen dieses Wesen zeigen würde, "die Fußabdrücke" würden ihnen reichen, könnten sie es sich mit ihrem Unglauben nochmal überlegen.

Mir kommt die Existenz eines Yeti-Gottes wenig wahrscheinlich, irgendwie auch absurd vor. Die einzige Gottes-Vorstellung, die mir etwas sagen könnte, wäre die des Schöpfers von allem, des Seienden schlechthin. Gott wäre, solcherart gedacht, ein "lauter Nichts". Wie kann man ihn dann aber erfahren? Ich denke mal, durch Innerwerdung der Beschränktheit des Seinden: indem man sich wundert, dass es so gekommen ist, wie es kam, wo's doch auch ganz anders hätte kommen können.

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Da wir nicht wissen wann wir sterben werden, sehen wir das Leben wie einen unerschöpflichen Brunnen. Und doch geschieht alles nur wenige Male. Unsere Erlebnisse wiederholen sich nur sehr selten. Wie oft noch wirst du dich an einen Nachmittag in deiner Kindheit erinnern? Einen Nachmittag, der sich so tief in dein Wesen eingeprägt hat, das du dir dein Leben ohne ihn nicht einmal vorstellen kannst. Vielleicht wirst du dich noch vier oder fünfmal an ihn erinnern. Vielleicht nicht einmal so oft. Wie oft wirst du den Vollmond noch aufgehen sehen? Vielleicht noch zwanzig mal. Und doch ist alles unendlich.

P. Bowles HIMMEL ÜBER DER WÜSTE

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Der vollkommenste Tag der Welt
Es war gegen Ende meiner Landstreichertage, wenn man mich fragte, in welchem Jahr, welchem Monat, an welchem Nachmittag, ich wüsste keine Antwort. Ich kann nur sagen, dass es der vollkommenste Tag der Welt war, und dass ich ihn deswegen im Gedächtnis bewahrt habe, jenseits von Zeit und Wirklichkeit. Jeder Mensch hält so einen Tag in Ehren, in den er sich zurückziehen kann, wenn die Jahre verzweifelter werden. Für jeden ist es ein anderer Tag. Für manchen ist es die Erinnerung an eine Frau, oder an eine verklingende Melodie, oder an die glückstrunkene Nacht an einem Casino-Tisch im flüchtigen Wahn, das Spiel des Lebens gewonnen zu haben.

Auch gehört der vollkommenste Tag nur einen selbst. Wer einem Gesellschaft dabei leistete, wird sich nie in derselben Weise erinnern; wenn er sich überhaupt an etwas erinnert. Es ist ein Tag, der ausschließlich einem selbst gehört. So denke ich an meinen eigenen Tag. Ich erinnere mich nicht mehr meiner Begleiter, wenn ich damals überhaupt ihre Namen wusste. Ich erinnere mich nur, dass wir zu viert waren. Von all den Städten und Bahnhöfen dieser Jahre waren wir irgendwo in Kansas, im Weizen. War’s in Norton, war’s in – nein, ich glaube, es muss in Philippsburg gewesen sein. Wie wir schwärmende Herbstvögeln zusammengekommen waren, weiß ich nicht mehr. Es war ein zufälliges Treffen unter dem Wasserturm eines Verlade-Bahnsteigs an einem vollkommen verschwendeten Tag.

Die Stadt war klein genug, um uns gleichgültig zu sein. Von etwas Kleingeld hatten wir Trauben-Sprudel aus der Fabrik ebendieser Stadt gekauft. Wir tranken ihn langsam, genüsslich, und fanden es großartig, im Schatten eines Wassertanks ausgestreckt auf den unebenen Planken des Verlade-Bahnsteigs zu dösen. Ich weiß nicht, ob wir nach Osten oder Westen unterwegs waren oder von welchem Zug wir gesprungen waren, oder worauf wir warteten. Wir waren einfach da, Wandervögel, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, ohne Begehr.

Wir räkelten uns in der Makellosigkeit unserer Jugend und Gesundheit, rußig vom Lokomotivenrauch, geschwärzt von der Sonne vieltausender Meilen. Wir lachten, spannten aus, und die Welt konnte auf uns warten. Die Welt kann immer auf einen warten, wenn man jung ist. Es schickte sich damals nicht, jemand zu fragen, woher er kam und wohin er wollte. Meistens wollte er nirgendwo hin, egal wie weit oder wie schnell er bis jetzt gereist war. Was ihn umtrieb, ging niemanden etwas an; er hätte ein Dieb sein können, ein Revolverheld oder einfach nur vom Pech verfolgt. In den nächsten 48 Stunden mochte er unter einen Zug fallen und sterben, oder das Gesetz wartete hinter dem Horizont auf das Ende seiner Glückssträhne.

Nein, es gab keinen Grund für irgendeinen von uns, sich zu beeilen. Es gab wichtigeres. Auf den unebenen Planken, auf denen wir palaverten und dösten, waren wir in Abrahams Schoß. Unterschwellig spürten wir, glaube ich, dass wir dem Zeitfluss entronnen waren, heimlich, unbemerkt. Es war Frühherbst, die Hitze nicht mehr drückend. Wir tranken den Sprudel - eine Flasche nach der anderen - wie Ambrosia, die Welt vergessend.

Ich war die Nacht zuvor auf einem Lokomotiven-Tender gefahren – mindestens das fällt mir ein, indem ich mich anstrenge -, und der Junge, der jetzt neben mir saß, war über das Dach des schnellen Zuges herangekrochen, um mir Gesellschaft zu leisten. Als ich ihn hinunterklettern sah, war ich vor Angst ins Schwitzen geraten. Ich war zu groß für solche Kunststücke an einem schlingernden Zug. Er war der einzige Mensch, den ich je mit solchem Schneid und solcher Wendigkeit, buchstäblich im Tanz mit dem Tode die Trittleiter eines rasenden Zuges hinaufwirbeln sah. Er war einer der vollkommensten Gleichgewichtskünstler, den ich je erblickt hatte, und ich dachte mir, er würde einen sehr guten Leichtgewichtskämpfer abgeben.

Dann war da ein Indianer, Mexikaner wäre vielleicht das bessere Wort, nur dass er wie jemand aussah, der mit Geronimo geritten sein konnte. Ein ganz und gar wildes Gesicht, das durch irgendeine genetische Laune aus der Eiszeit zu uns gekommen war. Er hätte einer von Attilas Männern oder mit den ersten Jägern über die Landbrücke nach Amerika gezogen sein können . . .

Loren Eiseley ALL THE STANGE HOURS

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Apus Gedanken kehrten zurück zu jenem längst vergangenen Sommertag: Er und seine Schwester hatten im Freien nach einem Kälbchen gesucht, und sie waren weiter gegangen, um die Eisenbahn zu sehen. Sie waren gerannt, dass sie ganz außer Atem gerieten. Wie andres damals alles ausgeschaut hatte.

Die Bäume entlang der Gleise von Asharu nach Durgapur waren inzwischen gewichen, mit dem Horizont verschmolzen. Apu sah, wie der Bahndamm sich vom fernen Dorf über die Shonadanga-Ebene ihm entgegen schlängelte. Bei der Kurve nach Nishchindipur erblickte er den Rosenapfelbaum, den er so gut kannte, und darunter stand, ihrem Zuge nachschauend, seine Schwester, bleich und traurig.

Sie hatten sie nicht mitgenommen; sie fuhren weg und ließen sie zurück. Obwohl sie jetzt schon lange tot war, fühlte sich Apu ihr nahe - an jedem Ort, an dem sie zusammen gewesen waren: am Fluss, im Bambushain oder unter dem Mangobaum. Jede Ecke ihres verfallenen alten Haus in Nishchindipur atmete ihr liebes, unsichtbares Wesen. Und jetzt würde er für immer von dort wegfahren.
Er wusste, dass niemand sonst Durga wirklich geliebt hatte, niemand, nicht einmal seine Mutter. Niemandem sonst tat es leid, dass sie zurückgelassen wurde.

Da durchzog sein Herz etwas Seltsames. Es war weder Kummer noch Einsamkeit. Er wusste nicht, was es war. Es bestand aus allem möglichen Gefühlen, so vielen Erinnerungen, die ihn durchströmten: Aturi die Hexe – die Treppe hinunter zum Fluss – der Pfad unter dem Chalta-Baum – Ranu – die Spiele, die er nachmittags spielte – die Spiele, die er mittags spielte – Potu – Durgas Gesicht und all die Dinge, nach denen sie sich sehnte, und die sie niemals bekommen hatte…

Und da stand sie immer noch und schaute.

Die Worte seines Herzens ergossen sich in Tränen, immer und immer wieder versuchte er, ihr etwas zu sagen: „Ich geh’ nicht wirklich weg, Didi… ich hab’ Dich nicht vergessen… es ist nicht so, dass ich dich verlassen will… sie nehmen mich fort von hier!“

Und das stimmte, er hatte sie nicht vergessen und würde sie nie vergessen.
Später in seinem Leben, als er den Erdball so gut kennen lernte, seinen Gürtel aus Wasser und seine Zöpfe aus Blau, als sein Körper erbebte von der Geschwindigkeit der Bewegung – wenn von einem Schiffsdeck aus die überirdische Schönheit des blauen Himmels von einem Augenblick zum nächsten neu aufleuchtete, wenn die azurnen Hänge eines weinrebenverzierten Berges in die Ferne hinter die fahle Grenze des Meer-Horizontes verschwanden, wenn der süße Sirenengesang ferner Ufer, kaum zu erkennen durch Nebelhüllen, seine Ohren erreichte wie Götterrauschen – in solchen Momenten kehrten seine Erinnerungen zurück in eine stürmische Mosunnacht, in den dunklen Raum eines alten Hauses, zum unerbittlichen Regenrommeln, als die Tochter einer armen Dorf-Familie zu ihm aufsah von ihrem Totenbett und fragte „Apu, wenn ich wieder gesund bin, zeigst du mir dann die Eisenbahn?“

Die Signale des Bahnhofs von Majherpara wurden blasser und kleiner in der Ferne; schließlich konnte er sie nicht mehr sehen.

Bibhutibhushan Bandopadhyay PATHER PANCHALI