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Robert Musil zur aktuellen Lage

Es ist eine alte und wie mir scheint recht unfruchtbare Streitfrage, wie man Kultur und Zivilisation unterscheidet. Ich glaube, wenn man unterscheiden will, ist es am besten, Kultur zu sagen, wo eine Ideologie herrscht und eine noch einheitliche Lebensform, Zivilisation dagegen als den diffus gewordenen Kulturzustand zu definieren. Jeder Zivilisation ist eine Kultur vorausgegangen, die in ihr zerfällt; jede Zivilisation ist ausgezeichnet durch die gewisse technische Beherrschung der Natur und ein sehr kompliziertes, sehr viel Intelligenz forderndes, aber auch schluckendes – System sozialer Beziehungen. Es wird der Kultur fast immer eine unmittelbare Beziehung zu den Wesenheiten zugeschrieben, eine Art schicksalhafter Sicherheit der menschlichen Haltung und noch instinktive Sicherheit, der gegenüber dann der Verstand, das Zivilisationsgrundsymptom, eine etwas klägliche Unsicherheit und Indirektheit besitzen soll. Man kennt die Symptome, worauf sich das stützt. Der große, besonders aus der Ferne geschlossen wirkende Gestus von Mythos und Religion, andrerseits die Umständlichkeit, mit dem Verstand das zu sagen, was ein Blick, Schweigen, ein Entschluß viel besser ausdrücken. Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, sondern auch Wille, Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tatsächlichkeit wie das Wandern der Wolken am Himmel. Die aber nur das an ihm sehen, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen, gegen dessen Mythos, Harmonie und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich nichts ist. Wie schon gesagt, halte ich das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation. Es ist klar, daß hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andre Aufgaben stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen zum größten Teil damit zusammen, daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für Einflüsse nicht mehr entspricht. Man betrachte den Höhepunkt vor dem Krieg; Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Flugmaschine, Zeitung, Buchhandel, Schul- und Fortbildungssystem, Wehrpflicht: alles völlig unzureichend. Der Unterschied zwischen Großstadt und schwarzgeistigem Land ist größer als der zwischen Rassen. Vollkommene Unmöglichkeit, selbst in der eigenen Schicht in die Voraussetzungen eines andren Gedankenkreises einzudringen außer unter ungeheurem Zeiteinsatz. Folge: schmale Gewissenhaftigkeit oder impetuose Oberflächlichkeit. Mit dem Wachstum der Zahl hält die geistige Organisation nicht Schritt: darauf sind achtundneunzig vom Hundert aller Zivilisationserscheinungen zurückzuführen. Keine Initiative vermag den sozialen Körper auf weitere Strecken zu durchdringen und empfängt Rückwirkung von seiner Totalität. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme. Die Frage auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe für Aktivist wie Sozialist; wird sie nicht gelöst, so sind alle andren Anstrengungen umsonst, denn sie ist die Voraussetzung dafür, daß die überhaupt wirken können. - - - - Ich fasse mich zusammen; noch nie in meinem Leben habe ich nötig gehabt, es hinterdrein zu tun. Ich habe also ein allgemein beliebtes Buch angegriffen. Ich hatte mir versprochen – ich rezensiere ja nicht – am berühmten Einzelfall Zeitfehler zu demonstrieren. Oberflächlichkeit; Mantelwurf der Geistigkeit, unter dem die Gliederpuppe steckt; Überfließen einer lyrischen Ungenauigkeit in die Gevierte der Vernunft. Denn so groß auch z. B. der Unterschied zwischen dem explosiven Weltanschau[er?] ist, der zu »Ballungen« verdaut, was geistig in der Luft liegt, und dem Bücherwurm, der nach Wurmart täglich das Vielfache seines geistigen Eigengewichts frißt, Wissenschaften konsumiert und das natürlich nur in lockerer Form von sich geben kann –: es sind bloß konträre, dem Sinn nach aber gleiche Erscheinungen einer Zeit, die ihren Verstand nicht zu gebrauchen weiß. Die nicht zuviel Verstand hat, wie es immer heißt, sondern den Verstand nicht am rechten Flecke. Diese Zeit hat mit dem Expressionismus, um ein andres Beispiel von ihr zu geben, eine Urerkenntnis der Kunst veräußerlicht und verflacht, weil die nicht denken konnten, welche den Geist in die Dichtung einführen wollten. Sie konnten es nicht, weil sie in Luftworten denken, denen der Inhalt, die Kontrolle der Empirie fehlen; der Naturalismus gab Wirklichkeit ohne Geist, der Expressionismus Geist ohne Wirklichkeit: beides Ungeist. Auf der andren Seite aber kommt bei uns gleich die gewisse Dörrfischrationalität und die beiden Gegner sind einander würdig. Ich weise noch einmal auf den Unterschied von ratioïd und nichtratioïd hin, den ich nicht erfunden, sondern nur so übel benannt habe. Hier steckt die Wurzel, aus der die verhängnisvolle Frage der Intuition wächst und des gefühlsmäßigen Erfassens, die nichts andres sind als Eigentümlichkeiten des nicht-ratioïden Gebiets, falsch verstanden. Hier liegt der Schlüssel zur »Bildung«. Hier sind der rachitische Idealismus unsrer Tage und ihr Gott ausgekommen. Hier wäre zu verstehn, warum der ergebnislose Kampf in der heutigen Zivilisation zwischen dem wissenschaftlichen Denken und den Ansprüchen der Seele nur durch ein Plus zu lösen ist, einen Plan, eine Arbeitsrichtung, eine andre Verwertung der Wissenschaft wie der Dichtung! Und Oswald Spengler erkläre ich öffentlich und als Zeichen meiner Liebe, daß andre Schriftsteller bloß deshalb nicht so viele Fehler machen, weil sie gar nicht die beide Ufer berührende Spannweite haben, um so viele unterzubringen.