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Wahrheit

Klassisch zu dem Thema ist natürlich Nietzsche (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873): "Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen."

Hat er Recht der Mann - und kann trotzdem falsch verstanden werden. Denn er beschreibt andererseits ja, wie Menschen sich verstehen, aufeinander eingehen. Sie führen eine Art Theater dabei auf. Und nehmen wir Theater nicht etwa besonders ernst? Ist nicht gerade der Schauspieler-Beruf der gesuchteste und respektierteste von allen? Was ist so attraktiv an einer Tätigkeit, die - im Bewusstsein aller Beteiligten auf und vor der Bühne - etwas aufführt?

Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen 129): „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, - weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm d i e s einmal aufgefallen ist. - Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendste und Stärkste ist, fällt uns nicht auf.“

Wittgenstein will damit, denke ich, andeuten, die Hauptsache, das wichtigste im Leben überhaupt, alles weitere einfärbend, ja es wesentlich ausmachend, bestehe nicht im Elementaren, also z.B. Atomen oder Nervenzellen, aus dem, was uns begegnet, zusammengesetzt ist und erklärt werden kann. Der "für uns wichtigste Aspekt" entspringt vielmehr dem Selbstverständlichen, liegt in dessen Gegenwart, ohne jedoch durch diese oder ihre Zerlegung erklärt werden zu können. Wie Form und Wuchs eines Baums nicht durch seinen Samen "erklärt" werden können. Durch ihre Selbstverständlichkeit / Alltäglichkeit vor uns verborgen sind nach Wittgenstein, nehme ich an, SPRACHE und DENKEN, diese „eigentlichen Grundlagen seiner Forschung“, die dem Menschen gar nicht auffallen. Alles, was wir wissen (Atom-, Hirnforschung, Wettervorhersagen…) kann nur begrifflich verfasst sein = kraft der Fähigkeit zu sprechen und zu denken. Die von vornherein zur Verfügung stehen muss. Sprache tritt in unterschiedlichsten Verwendungszusammenhängen in Erscheinung. In der Poesie beispielsweise. Als Tanz. Als Befehlston. Wird sie wissenschaftlich verwendet, zerlegt sie ihre Gegenstände in "Bestandteile", welche diese "erklären". Damit erklärt Sprache aber nie sich selbst. Ginge ja auch nur, wenn sie erklärungs b e d ü r f t i g  wäre = (noch) nicht imstande wäre, etwas zu erklären. Daher müssen Sprache/Denken von vornherein funktionieren. Das fällt uns - nach Wittgenstein - nicht auf, und ist doch die Grundlage von allem. Indem Sprache "unerklärlich" ist, ist es auch das Denken - und funktioniert trotz allem.

Nietzsche münzt diesen Zusammenhang als "Summe von menschlichen Relationen, die . . . nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken".

Wittgenstein dazu im Nachlass: "Wenn ich nicht ein richtigeres Denken, sondern eine neue Gedankenbewegung lehren will, so ist mein Zweck eine ‘Umwertung von Werten’ und ich komme auf Nietzsche, sowie auch dadurch, dass meiner Ansicht nach, der Philosoph ein Dichter sein sollen . . ."

Denken bleibt also, auch wenn es sich - mit der Sprache - entwickelt, eine Fiktion. In dieser liegt, spekuliere ich, sogar das Menschliche: in der Fähigkeit, wie ein Schauspieler aufs Stichwort die richtige Antwort zu liefern, mit anderen nicht nur in den Definitionen, sondern auch in den Urteilen übereinzustimmen, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen schreibt.

In seinen "Denkbewegungen" (S. 67 f.) taucht schließlich folgende Passage auf, die mich, seit ich sie las, in Träumen heimsucht: "Verstümmele einen Menschen ganz & gar schneide ihm Arme & Beine Nase & Ohren ab & dann sieh was von seinem Selbstrespekt & von seiner Würde übrig bleibt & wieweit seine Begriffe von solchen Dingen dann noch die selben sind. Wir ahnen gar nicht, wie diese Begriffe von dem Gewöhnlichen, normalen  Z u s t an d  unseres Körpers abhängen. Was wird aus ihnen wenn wir mit einem Ring durch unsere Zungen & gefesselt an einer Leine geführt werden? Wie viel bleibt dann noch von einem Menschen in ihm übrig? In welchem Zustand versinkt so ein Mensch? Wir wissen nicht, daß wir auf einem hohen schmalen Felsen stehen, & um uns Abgrunde, in denen alles ganz anders ausschaut."

Die Wahrheit geht einher mit der Unversehrtheit unseres Leibes. Die freilich eine Fiktion ist, indem dieser unentwegt zerfällt, mehr einem Straßengemälde gleicht als einem, das im Museum hängt.