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Leitwerte

Rechtsstaatlichkeit, Fairplay, Rechte des Individuums, Beschränkung der Staatsgewalt, Verbindung von Individualismus und Gemeinwohlorientierung, Meinungsfreiheit (inklusive Religionsfreiheit), Arbeitsethos, Orientierung am Fortschritt, Ausbildung von Vertrauen, Wertschätzung von Bildung und Erziehung. Ein wichtiges, wenn nicht das entscheidendes Element ist dabei das Vertrauen. Es gibt, wie empirische Vergleiche verschiedener Länder zeigen, eine enge Korrelation zwischen dem Ausmaß von Vertrauen und der ökonomischen Effizienz. Das Maß des Vertrauens ist ein Maß der Zivilisiertheit und Leistungsfähigkeit. Im Jahr 2000 beantworteten 67 % der Dänen und 66 % der Schweden die Frage, ob man den meisten Menschen vertrauen könne, mit ja, aber nur 3 % der Brasilianer. Kooperationsbereitschaft und Vertrauen erleichtern den gesellschaftlichen Umgang, und im ökonomischen Sinn verringern sie die Transaktionskosten, was die Bereitschaft zur arbeitsteiligen Kooperation verstärkt. Hier komme ich auf Afrika zurück, das ich aus eigenem Erleben kenne. Der "Vertrauenspegel" liegt hier unterhalb 1%, sobald man die sozialen Einheiten Familie | Stamm verlässt. Ähnliche Verhältnisse erlebte ich in der Südsee mit einer interessanten Reaktion der früheren Kolonialmacht Frankreich, die in ihren überseeischen Territorien wie folgt verfährt: die Bevölkerung regiert sich mit selbstgewählten Organen - Ausnahme: Polizei, Rechtsprechung und Schulsystem. Gendarmen, Richter und Lehrer kommen aus Frankreich oder müssen französischen Standards genügen. Ein ähnliches Modell könnte angebracht und förderlich sein für Afrika, angefangen z. B. mit den Maghreb-Staaten: Einführung einer funktionierenden Judikative, unbestechlichen Polizei und kostenlosen Grundschulung als Bedingung für die Gewährung substantieller Entwicklungshilfe. Könnte mir vorstellen, dass es solche Überlegungen in Frankreich sogar gibt, sie hierzulande aber - mangels Kolonialerfahrung - falsch verstanden würden. Wenngleich wir doch mit der ehemaligen DDR im Grunde nicht anders verfuhren. Die meisten Deutschen kennen das Ausland, wenn sie auch viel reisen, nicht gut genug, um eine zutreffende Vorstellung davon zu haben, wie die Gemüter und Loyalitäten in Ländern geregelt sind, denen es nicht wie Korea, Japan, Taiwan oder demnächst hoffentlich Festlandchina und Indien gelang, das europäische Modell zu adaptieren (fängt schon bei Russland an, dann Afrika mit wenigen Ausnahmen, das ehemalige osmanische Reich usf.) und halten die von dort nun zu uns strömenden Flüchtlinge zumindest potentiell für "Staatsbürger". Wessen es dazu bedarf, ist aber das Ergebnis eines jahrelangen Abrichtungsprozesses durch Familien, Kindergärten, Schulen, Fernsehen, öffentliche Meinung und deren Träger, den die Flüchtlinge nicht mitbekommen haben (sie können sich z. B. nicht richtig vorstellen, nicht aus Dummheit, sondern mangels Erfahrung bzw. Übung, wie man sich einem Polizisten, geschweige Richter bei uns nähert). Eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung der europäischen Entwicklung war die Zerschlagung von tribalen Strukturen durch die Staaten der frühen Neuzeit, was eine elementare Vorbedingung des Nationalstaats bildete, der zum institutionellen Zentrum der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde: Zentralisierung der Herrschaft und der damit verbundenen Auflösung intermediärer Gewalten, also von Stämmen, Clans, Großfamilien, Personenverbänden und Klientelsystemen aller Art. Das Ideal des Nationalstaats als Rechtsstaat ist die Staatsunmittelbarkeit des Individuums (»gleiches Recht für alle«) und die Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols mit ausdifferenzierten Erzwingungsorganen (Polizei, Armee). Dieser Nationalstaat vereinheitlicht wichtige infrastrukturelle Elemente: Geld, Recht, Sprache, Verwaltung, Verkehrswesen, Staatsangehörigkeit. Er wird damit zum Dienstleister einer komplexen marktwirtschaftlich-industriellen Ökonomie, etwa auf dem Feld der Rechtsplege (Zivilprozeß statt Fehde). Um diese Leistungen erbringen zu können, muss eine zentrale, von oben nach unten durchstrukturierte Verwaltung errichtet werden, die den Ansprüchen bürokratischer Rationalität genügt (gegen Korruption und Klientelwesen). Ein zentrales Element dessen ist auch eine einheitliche, rechtsförmige und kalkulierbare Besteuerung. All dies ist jemandem, der nicht jahrelang damit groß geworden ist, so wenig unmittelbar einleuchtend wie unsereinem, sagen wir mal, der Brauch der Genitalverstümmelung. Unser Ideal des "gleichen Rechts für alle" schließt jeden Menschen ein auf dieser Welt, auch jene Mehrheit, die es gar nicht versteht und die Welt ganz anders sieht und gestaltet (etwa hier gerade zu beobachten in den Flüchtlingsheimen, wo nicht eingeschritten wird). Wir verstehen selber auch zu wenig, wie unsere "Freiheit", auf die wir uns soviel zu Gute halten, einem jahrelangen Erlernen der Muster entspringt, in denen sie sich dann entfaltet, wie wenig spontan sie mit anderen Worten ist, deswegen zähe und unter ständiger Strafandrohung erlernt werden muss. Wir können den Neubürgern nicht die Abrichtung ersparen, die wir selber erfahren (in der Regel vergessen) haben. Vielleicht tragen wir sie aber auch mehr noch und vorbeugend, mit dem Bewusstsein des durch sie bestimmten Selbst in jene Gegenden der Welt, welche ihnen aus eigener Kraft nicht zur Geltung zu helfen vermögen, ihr Interesse an Partizipation aber mittelbar kundtun durch die Entsendung hoffnungsvoller Teilnehmer an unserer Ordnung und ihren Früchten. Wer andererseits unseren Staat und seine Mittel nicht als Schöpfer, sondern Zwingherrn des modernen Individuums begreift, dem bleibt immerhin zu hoffen, dass die Zersetzung herrschender Verhältnisse - auch in Folge der Aufnahme ihnen entgegengesetzter Strebungen (Rückkehr zu tribalen Strukturen) - neue oder endlich Freiräume schafft. Persönlich halte ich diese Möglichkeit - der "Retribalisierung" - für nicht mal die unwahrscheinlichste, denn sie liegt im Trend, der sich zeigt in der endemischen Verächtlichmachung von Staat und Politik sowie deren Vertretern - bis hin neuerdings zum privatisierungsbesessenen Vormarsch der AfD, die unter völkischem Vorwand den Staat und seine Mittel gänzlich scheint abschaffen zu wollen (cf. in USA auch Trump).