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Kierkegaard: Krankheit zum Tode

"Der Mensch ist Geist", beginnt das Buch. "Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält."
Mensch zu sein, lese ich die vertrickste Passage, besteht mithin darin, Stellung zu nehmen, und zwar zu einem "Verhältnis". Von was?
Text geht dazu weiter:
"Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese."
Der Mensch, lese ich dies, ist eine "Synthese" - also nicht (nur) Ansammlung, sondern Verschmelzung - von Momenten, die sich ausschließen: Unendlichkeit | Endlichkeit - Zeitlichkeit | Ewigkeit - Freiheit | Notwendigkeit - klassisch: Körper | Seele. Das "Verhältnis" dieser Momente bildet ein Spannungsfeld namens "Mensch".
Text geht weiter:
"Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst."
Dem Menschsein (im Gegensatz etwa zum Tiersein) zugrunde liegt mit anderen Worten besagte Zerrissenheit, die - irgendwie - zusammengebracht werden muss: durch "Selbst"werdung.
Das Selbst ist uns also nicht in die Wiege gelegt, sondern besteht in einer Beziehung, die jeder von uns erst entwickeln muss: zu dem Spannungsfeld, das sie oder ihn von vornherein ausmacht.
Kierkegaard, der seine Bücher selbst verlegte, weswegen kein Lektor auf Verständlichkeit achten konnte, fasst den Witz seines Gedankens dann zusammen, wie folgt:
"Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis das Dritte als negative Einheit, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und im Verhältnis zum Verhältnis; so ist unter der Bestimmung Seele das Verhältnis zwischen Seele und Leib ein Verhältnis. Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, dann ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst."
Das einen Menschen ausmachende Spannungsfeld, lese ich hier, kann gehandhabt werden
* entweder selbstlos ("negativ") durch die Ausblendung eines seiner Momente
* oder selbstbewusst ("positiv") durch Nachgehen und Innewerdung der menschlichen Lage.
Worauf es Kierkegaard bei dieser Betrachtung ankommt, wird womöglich, spekuliere ich, klarer, wenn man die antiken mit den christlichen Selbstwerdungs-Rezepten vergleicht.
Die griechischen oder römischen Glück-Schulen empfahlen, wenn ich mich recht erinnere, ein Selbst "negativ" zu schaffen - durch Ausblendung eines der das Menschsein begründenden Konflikt-Momente: entweder des Körpers (Platonismus - heute die "künstlichen Intelligenzler") oder der Seele (Epikureismus u. ä. m. - heute die "fun"-Apostel).
Die Christen dagegen ließen Gott zum Menschen werden mit der Implikation - dadurch - des Gegenteils und werten die Spannung des Menschseins infolgedessen auf, um so das meiste herauszuholen.