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Aristoteles für Drehbuchautoren

Die Seitenzahlen verweisen auf die deutsche Übersetzung Fuhrmanns im Verlag Phillip Reclam jun., Stuttgart 1982. In {geschweiften Klammern} erscheinende Ausdrücke gehören nicht zum Ur-Text, sondern deuten benachbarte Stellen durch verwandte deutsche Worte, Erläuterungen oder die englische Übersetzung des griechischen Originals. Die Poetik war ursprünglich wohl eine Vorlesungsgrundlage, nicht zur Veröffentlichung vorgesehen.

Handlung ist nicht Rede, sondern Tun


[Eine falsch verwendete Figur] sagt ... von sich aus, was der Dichter will, und nicht, was die Überlieferung {Handlung} gebietet {... is made to say himself what the poet rather than the story demands} ... [Sie könnte] ebenso gut auch bestimmte Zeichen {Schrifttafeln, auf denen die Botschaft des Autors steht} an sich tragen {dem Publikum zum Lesen hinhalten} ... S. 51

Schlecht erfundene Charakteren sagen, was ihr Autor will, nicht was ihrer Verstrickung in die Handlung entspringt. Ebenso gut könnten sie Schrifttafeln mit Parolen hochhalten.

... Anfänger in der Dichtung [sind] eher imstande ..., in der Sprache {Dialogen} und den Charakteren {Begriffen} Treffendes zustande zu bringen, als die Geschehnisse {zu einer Handlung} zusammenzufügen. {... beginners succeed earlier with the Diction and Characters than with the construction of a story.} S. 23

Ungeübte Autoren bringen eher Charaktere zustande als eine zusammenhängende Folge von Ereignissen.



Die Geschlossenheit einer Handlung


Jede Tragödie {dramatische Geschichte} besteht aus Verknüpfung {Complication} und Lösung {Denouement}. Die Verknüpfung [Aristoteles verwendet später dafür auch: „Knoten“] umfasst gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Unter Verknüpfung {Knoten} verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder Unglück unmittelbar vorausgeht {I.-II. Akt}, unter Lösung den Abschnitt vom Anfang der Wende bis hin zum Schluss {III. Akt}. S. 57

Jede spannende Geschichte gibt eine Folge auseinander hervorgehender Ereignisse wieder, in deren Verlauf sich etwas Bestimmtes anbahnt, und dann bestenfalls sein Gegenteil eintritt.

Wir haben festgestellt, dass die Tragödie {dramatische Geschichte} die Nachahmung {Ausgeburt} einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung {action} ist, die eine bestimmte Größe hat ... Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang {inciting incident ...} ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht ... Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht {II. Akt}. Demzufolge dürfen Handlungen {Verläufe}, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten. S. 25

Eine spannende Geschichte lanciert einen Verlauf, der umfangreich genug sein muss, um ‒ zwischen Anfang und Ende ‒ eine Mitte zu haben. Während der Mitte wird ein Ereignis von einem vorhergehenden verursacht und bewirkt ein weiteres. Der Anfang tritt unvermittelt ein; das Ende beschwört nichts Weiteres herauf.

Viele schürzen den Knoten vortrefflich und lösen ihn schlecht wieder auf; man muss jedoch beides {Anfang und Ende} miteinander in Übereinstimmung bringen {Spannung stiften und lösen}. S. 59

Ein Anfang ist immer der Anfang von ETWAS = spannt auf ein bestimmtes ENDE.

Ein Ende ist ..., was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel {höchstwahrscheinlich}, während nach ihm [erst mal] nichts andres mehr eintritt. S. 25

Das Ende tritt ein als ein Ereignis, welches ‒ bedingt durch seine Vorgänger ‒ als deren Folge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vonstattengehen muss.


Künstlerische Nachahmung wiederholt nichts Hervorgebrachtes, sondern das Hervorbringen – von Ausgeburten voller Anmut des Wahren.


Die Tragödie ist Nachahmung {Vorstellung} einer guten {ernst zu nehmenden} und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe. S. 19

Eine spannende Geschichte verspricht eine relevante und endliche Ereignisfolge.


Die Handlung einer Geschichte ist wichtiger als ihre Mannschaft


Die Fabel {Ordnung} des Stücks {Verlaufes} ist nicht schon dann – wie einige meinen – eine Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht. Denn diesem einen stößt unendlich vieles zu, woraus keinerlei Einheit {Geschlossenheit} hervorgeht. So führt der eine {Held} auch vielerlei Handlungen {Tätigkeiten} aus, ohne dass sich daraus eine einheitliche [Linie] ... {Spannungsbogen} ergibt. Daher haben offenbar ... die Dichter ihre Sache verkehrt gemacht, die ... derlei {character driven} Werke gedichtet haben. Sie glaubten nämlich, dass, weil Herakles eine Person sei, schon deshalb auch [seine Geschichte] ... notwendigerweise ... [Geschlossenheit habe]. S. 27

Charaktere können eine Geschichte anstoßen, nicht jedoch alleine ausmachen, da sie nicht alle Ereignisse enthalten, welche eine spannende Handlung ordnet.

Demnach muss – wie in den anderen nachahmenden {vorstellenden} Künsten {etwa der Genre-Malerei ...} die Einheit der ... [Darstellung] auf der Einheit des [vorgestellten] Gegenstandes beruht – auch die Fabel {Folgerichtigkeit}, da sie Nachahmung von Handlung ist {als Verlauf erscheint}, die Nachahmung {Ausgeburt} einer einzigen, und zwar einer ganzen {Anfang ‒ Mitte ‒ Ende} Handlung sein. S. 29

Nicht allein Charaktere geben einer Geschichte Form und Inhalt, sondern auch, was ihnen zustößt und wie sie darauf reagieren ‒ zu einem bestimmten Ende.

Denn als ... [Homer] die „Odyssee“ dichtete, da nahm er nicht alles auf, was sich mit dem Helden abgespielt hatte, z. B. nicht, dass dieser auf dem Parnass verwundet worden war oder dass er sich bei der Aushebung wahnsinnig gestellt hatte, ([denn] es war ... nicht notwendig oder wahrscheinlich, dass, wenn das eine geschah, auch das andere geschähe) – vielmehr fügte er die „Odyssee“ um eine Handlung {Geschichte} in dem von uns gemeinten Sinne zusammen, und ähnlich die „Ilias“. S. 27 und 29

Nur die Teile eines Verlaufes werden vorgestellt, welche sein Ende bedingen.

Ferner müssen die Teile der Geschehnisse {Geschichte} so zusammengefügt sein, dass sich das Ganze verändert und durcheinandergerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des ganzen {„... das Rad gehört nicht zur Maschine, das man drehen kann, ohne dass Anderes sich mitbewegt.“ L. Wittgensein Philosophische Untersuchungen 271}. S. 29

Ereignisse, die das Ende einer Geschichte anbahnen, dürfen in ihrem Verlauf nicht fehlen.

Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters {Drehbuchautors} ist, mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit {schlechthin} Mögliche {an Wirklichkeit}. S. 29



Bessere Handlungen sind eingleisig


Die gute Fabel {Verlaufsform} muss also eher einfach sein als – wie es einige wollen – zwiefach {mehrsträngig} ... S. 39

Eine gute Geschichte darf nie mehr als ein Ende haben.

Unter den einfachen Fabeln und Handlungen {Verläufen} sind die episodischen die schlechtesten. Ich bezeichne die Fabel {Folgerichtigkeit} als episodisch {spannungslos}, in der die Episoden {Handlungsschritte} weder nach der Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit aufeinander folgen {beliebig sind}. S. 33

Je größer die Rolle des Zufalls in ihr, desto schwächer die Geschichte.

Die Tragödie {dramatische Geschichte} ist Nachahmung {Ausgeburt} einer {einzigen} guten {ernst gemeinten} und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe ... S. 19

Eine spannende Geschichte stellt ein gewisses Ende in den Raum und vollzieht den Weg nach zu dessen Eintreten.


Ihre Handlung ist der Sinn einer Geschichte


Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie {dramatischen Vorstellung} ist also der Mythos {Verlauf}. An zweiter Stelle stehen die Charaktere {Begriffe}. Ähnlich verhält es sich ja auch bei der Malerei. Denn wenn jemand blindlings {unzusammenhängend} Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er eine klare Umrisszeichnung herstellt. S. 23

Die Spannung einer gelungenen Geschichte entspringt nicht ihren Charakteren, sondern der inneren Bezogenheit ihrer Ereignisse auf ein gewisses Ende ‒ wie auch ein gutes Gemälde nicht isoliert Figuren abbildet, sondern diese in ein Verhältnis setzen muss, um etwas zu besagen.


Zweck einer Geschichte: ihre Handlung


Daher sind die Geschehnisse und der Mythos {ihr Möglichsein} das Ziel {der Zweck} der Tragödie; das Ziel {sinnreiches Geschehen} aber ist das Wichtigste von allem. S. 21

„Du musst wissen, dass es mit allem auf der Welt ein Ende hat, sobald es gut ist, und dass alles gut ist, sobald es ein Ende hat. Was kein Ende hat, ist nicht gut, und was gut sein soll, muss ein Ende nehmen.“ Traum der Roten Kammer


Eine gute Handlung ist organisch


... man muss die Fabeln {Handlungsläufe} ... so zusammenfügen, dass sie ... sich auf eine einzige ... Handlung {Geschichte} ... beziehen, damit diese ‒ in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar ‒ das ihr eigentümliche Vergnügen {Jammer und Schaudern} bewirken kann. S. 77

Die Nebenhandlungen sind Funktionen der Haupthandlung und bedingen mit das Ende, auf welches sie einen gespannt macht.

Ferner ist das Schöne bei einem Lebewesen und bei jedem Gegenstand {Verlauf}, der aus etwas zusammengesetzt ist, nicht nur dadurch bedingt, dass die Teile in bestimmter Weise angeordnet sind; es muss vielmehr auch eine bestimmte Größe haben. Das Schöne beruht nämlich auf der Größe und der Anordnung S. 25

Ein Spielfilm sollte mindestens 70 Minuten lang sein ...

Die Genres des Aristoteles


Es gibt vier Arten von Tragödien {dramatischen Geschichten} ... Die eine ist die komplizierte {erwartungsverändernde} Auffassung, die ganz und gar aus Peripetie {Überraschung} und Wiedererkennung {Nachvollzug} besteht; die zweite ist die von schwerem Leid erfüllte ...; die dritte ist diejenige, die einen Charakter {Stil} darstellt ...; an vierter Stelle stehen [spektakuläre] Stücke {die durch special effects wirken} ... S. 57

Die Fabeln {Verläufe} sind teils einfach {überraschungsfrei}, teils kompliziert {mit „Aha“-Effekt}. Denn die Handlungen {Ereignisfolgen}, deren Nachahmung {Ausgeburt} die Fabeln {Strukturen} sind, sind schon von sich aus so beschaffen. Ich bezeichne die Handlung {Ereignisfolge} als einfach {überraschungsfrei}, die in dem angegebenen Sinne in sich zusammenhängt [,] ... eine Einheit bildet und deren Wende {Finale} sich ohne Peripetie {Überraschung} oder Wiedererkennung {„Aha“-Erlebnis} vollzieht, und diejenige als kompliziert, deren Wende mit einer Wiedererkennung oder Peripetie oder beidem verbunden ist. {Plots are either simple or complex, for the actions in real life, of which the plots are an imitation, obviously show a similar distinction. An action which is one and continuous in the sense above defined, I call simple, when the change of fortune takes place without Reversal of the Situation and without Discovery; and complex when it involves one or the other, or both.} S. 33

Das Ende, welches eine spannende Handlung verspricht, kann überraschend sein; man hat es dann zwar erahnt, jedoch nicht in dieser Weise, welche die Erwartung zugleich erfüllt und übertrifft.

Man sollte nach Möglichkeit alle Teile {Handlungsmuster} einzubeziehen versuchen, jedenfalls aber die wichtigsten und meisten, vor allem im Hinblick darauf, wie man jetzt den Dichtern am Zeuge flickt. Denn es hat für jeden Teil {Fall} vorzügliche Dichter gegeben, und da verlangt man nun, dass ein einzelner Dichter den besonderen Vorzug eines jeden Vorgängers übertrifft. S. 57 f.

Genres mixen!


Das Epos unterscheidet sich von der Tragödie S. 81


Denn es ist möglich, ... dieselben Gegenstände {Verläufe} nachzuahmen {vorzustellen}, hierbei jedoch entweder zu berichten {nachzuerzählen} – in der Rolle {aus der Sicht} eines anderen {integrierten Erzählers}, wie Homer dichtet, oder so, dass man unwandelbar als derselbe {Autor} spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche {dramatisch} auftreten zu lassen. S. 9

Man kann Geschichten aus Sicht eines allmächtigen Autors oder durch das unmittelbare Erleben einer Identifikationsfigur erzählen.

[Das Epos unterscheidet sich von der Tragödie] in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen. S. 17

Was nicht als Serie erzählt wird, trägt sich in wenigen Stunden zu.

... das Ungereimte, die Hauptquelle des Wunderbaren, passt besser zum Epos, weil man den Handelnden {das Erzählte Darstellenden} nicht {unmittelbar} vor Augen hat. So würden die Begleitumstände der Verfolgung Hektors {Ilias 22, 131 ff.} auf der Bühne {Leinwand} lächerlich wirken: die Griechen stehen da und beteiligen sich nicht ...; Achilleus ... [stoppte] sie durch Kopfschütteln. Im Epos {einem Wortgemälde} hingegen bemerkt man solche Dinge nicht. S. 83

Ungereimtheiten in der Handlung werden geglaubt, sobald sie uns durch einen Kommentator vermittelt werden.

Was die erzählende {spannungslose, daher epische} ... Dichtung angeht, so ist Folgendes klar: man muss [ihre] ... Fabeln {Verläufe} wie in den Tragödien so zusammenfügen {auf ein gewisses Ende ausrichten}, dass sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen {„Jammer und Schaudern“} bewirken kann. Außerdem darf die Zusammensetzung nicht der von {wirklich Geschehenem beschreibenden} Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h., alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen. Denn wie die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht der Karthager auf Sizilien um dieselbe Zeit stattfanden, ohne doch auf dasselbe Ziel gerichtet zu sein, so folgt auch in unmittelbar aneinander anschließenden Zeitabschnitten oft genug ein Ereignis auf das andere, ohne dass sich ein einheitliches Ziel {implizites Ende} daraus ergäbe. Und beinahe die Mehrzahl der Dichter geht in dieser Weise vor {ignores the distinction zwischen Dokumentar- und Spielfilm}. S. 77

Historischen Ereignissen entspringt eine dramatische Geschichte nicht, weil diese sich dann und dann parallel zu anderen zugetragen haben, sondern indem sie auf ein bestimmtes Ende hin ausgerichtet sind oder werden.

Daher kann Homer ... im Vergleich zu den anderen Epikern als göttlich gelten: er hat sich gehütet, den ganzen Krieg darzustellen, obwohl dieses Geschehen einen Anfang und ein Ende hatte. Die Handlung wäre dann nämlich allzu umfangreich und somit unübersichtlich geworden, oder sie wäre, wenn sie hinsichtlich der Ausdehnung das richtige Maß gewahrt hätte, wegen ihrer Mannigfaltigkeit überkompliziert ausgefallen. Er hat sich daher einen einzigen Teil vorgenommen und die anderen Ereignisse in zahlreichen Episoden behandelt, wie im Schiffskatalog und den übrigen Episoden, durch die er seine Dichtung auseinanderzieht. Bei den anderen Epikern dagegen geht es um einen einzigen Helden oder um einen einzigen Zeitabschnitt, oder auch um eine einzige Handlung, die indes aus vielen Teilen {Strängen} besteht. S. 77 f.

Homer ist deswegen ein begnadeter Erzähler, weil er in der Ilias den gesamten Trojanischen Krieg nicht durch die Beschreibung seines jahrelangen Verlaufs, sondern vermittels einer spannenden Episode wiedergibt.


Logik des Horrorfilms


... denn auch von den zufälligen Ereignissen wirken diejenigen am wunderbarsten, die sich nach einer Absicht vollzogen zu haben scheinen – wie es bei der Mitys-Statue in Argos der Fall war, die den Mörder des Mitys tötete, indem sie auf ihn stürzte, während er sie betrachtete; solche Dinge scheinen sich ja nicht blindlings zu ereignen {Ereignisse, die sich normalerweise nicht verursachen, rufen gerade dann den Eindruck des Wunderbaren hervor, wenn sie kausal miteinander verknüpft zu sein scheinen}. S. 33

Ereignisse, die nicht ursächlich auseinander hervorgehen, wähnt der Rezipient einer dramatischen Geschichte keineswegs unverbunden, sondern auf unerklärliche Weise zusammengehörig.


Der Schwerpunkt einer Handlung: etwas Schreckliches, das dem Helden zustößt oder un|mittelbar von ihm verursacht wird


Dies sind zwei Teile der Fabel {Verlaufsordnung}: die Peripetie {Überraschung} und die Wiedererkennung {der Ursachen}; ein dritter ist das schwere Leid {die Katastrophe} ..., ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und [schwere sittliche Unfälle]. S. 37

Was im wirklichen Leben Schmerz auslöst, wird goutiert in seiner Vorstellung.

Notwendigerweise gehen derartige Handlungen {Taten} entweder unter einander Nahestehenden oder unter Feinden oder unter Personen vor sich, die keines von beiden sind. Wenn nun ein Feind einem Feind etwas Derartiges antut, dann ruft er keinerlei Jammer {Herzzerreißen} hervor, weder wenn er die Tat ausführt noch wenn er sie auszuführen beabsichtigt – abgesehen von dem {bang vorweggenommenen} schweren Leid als solchem. Dasselbe gilt für Personen, die einander nicht nahe stehen, ohne miteinander verfeindet zu sein. Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb von Naheverhältnissen ereignet (z. B.: ein Bruder steht gegen den Bruder oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn gegen die Mutter; der eine tötet den anderen oder er beabsichtigt, ihn zu töten, oder er tut ihm etwas anderes Derartiges an) – nach diesen Fällen muss man Ausschau halten. S. 43

Je besser sich die Parteien eines Konfliktes kennen, desto dramatischer mutet er an ‒ am dramatischsten unter Blutsverwandten.

Was das Publikum erleben möchte


... die Zusammensetzung einer möglichst guten Tragödie [sollte immer] ... Schauererregendes {Fluchtauslösendes} und Jammervolles {Herzzerreißendes} nachahmen {darstellen}. ...[Jammer] {Rührung} stellt sich... [angesichts eines Helden] ein, der sein Unglück nicht verdient, ... [Schaudern] bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer {das Wehgeschrei} bei dem unverdient {Sympathie erweckenden} Leidenden, der Schauder bei dem [uns] Ähnlichen {dessen Fluchtimpuls wir selbst empfinden} ... [Wobei der Umschlag ins Unglück] nicht wegen einer Schlechtigkeit und Gemeinheit {böser Neigung} ..., sondern wegen eines Fehlers {einer Leidenschaft oder Beschränkung, falschen Einschätzung von Verhältnissen infolge mangelnder Einsicht} [erlebt werden muss]. S. 39

Diejenigen dramatischen Figuren packen uns am meisten, die uns gesellschaftlich sowie charakterlich ähneln und sich dabei unwissentlich eine Grube graben.

(Erreger von Jammer und Schaudern in Aristoteles‘ Nikomachische Ethik: Tod, körperliche Versehrung oder Misshandlung, Alter, Krankheit, Nahrungsmangel, Vereinsamung, Hässlichkeit, Schwäche, Verkrüppelung, Enttäuschung freudiger Erwartung. Wenn sich etwas Gutes zu spät erfüllt. Wenn einem nie etwas Gutes widerfährt. Wenn einem etwas Gutes zuteilwird, das man nicht [mehr] genießen kann {ersehnte Voraussetzung stellt sich ein, nachdem man ihre Auswirkung verunmöglicht hat, z. B. trifft Rettung ein, nachdem man das zu Rettende bereits geopfert hat}.)


Mag der Zuschauer sich auch nicht allzeit in die dargestellten Verhältnisse einer Geschichte finden ‒ immer vertraut und mitreißend sind für ihn Machtfragen.


Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung {Darstellung} von Menschen {Gewohnheiten}, sondern von Handlung[en] {Ereignissen} und Lebenswirklichkeit {sich kreuzenden Leidenschaften}. S. 21

Nicht menschliche Eigenarten oder Gewohnheiten interessieren den Zuschauer, sondern deren Erschütterung.


Richtige Länge


[Es] gilt, dass eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, dass sie fasslich bleibt. Um eine allgemeine Regel aufzustellen: die Größe, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück herbeizuführen, diese Größe ist die richtige Begrenzung. S. 27

Eine Handlung muss lange genug sein, um ein ‒ möglich noch überraschendes ‒ Ende zu bedingen.

... Glück und Unglück beruhen auf Handlung {dem Lauf der Dinge}, und das Lebensziel {sein Sinn} ist eine Art Handlung {Fortschreiten}, keine bestimmte {gleich bleibende} Beschaffenheit. Die Menschen ... [sind erst] infolge ihrer Handlungen {Schritte} ... glücklich oder nicht. S. 21

Bedeutung schafft nur der Wille.

Bewirkung des Gegenteils des Beabsichtigten


... die Dinge, mit denen die Tragödie den Zuschauer am meisten ergreift, [sind] Bestandteile des Mythos {Potentials}, nämlich die Peripetien {Überraschungen} und die Wiedererkennung {von verdeckten Zusammenhängen}. S. 23

Was uns mehr mitnimmt als die Darstellung von Gewohnheiten und innerer Artung, sind der plötzliche Richtungswechsel im vorgestellten Lauf der Ereignisse sowie seine rückblickende Erklärung.

Peripetie {Umschlag dessen, womit gerechnet wird, ins Gegenteil} und Wiedererkennung {Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis wirkender Ursachen, in deren Folge Freundschaft oder Feindschaft eintreten} müssen sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst {the structure of the Plot itself [the main action]} ergeben, d. h., sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob ein Ereignis infolge eines anderen eintritt oder nur [zufällig] nach einem anderen. S. 35

Eine überraschende Wendung muss in den ihr vorausgehenden Ereignissen angelegt sein und diesen entspringen.


(K)eine Überraschung


Die beste unter allen Wiedererkennungen {Nachvollzügen} ist diejenige, die sich aus den Geschehnissen {der Verknüpfung} selbst ergibt, indem die Überraschung aus Wahrscheinlichem hervorgeht {sich beim zweiten Hinsehen auflöst}. S. 53

Das Verblüffende einer guten Überraschung sollte beim zweiten Hinsehen verfliegen.

Wenn Zufälliges auf die Vorgeschichte beschränkt bleibt, wird seine dramatische Wirkung nicht beirren, sondern beeindrucken.


Vielmehr darf man den Eingriff eines Gottes {des [glücklichen] Zufalls} nur bei dem verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung {Leinwand} liegt oder was sich vor ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr ereignen wird und was der Vorhersage und Ankündigung bedarf – den Göttern schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken. In den [unmittelbaren] Geschehnissen darf [deswegen] nicht Ungereimtes enthalten sein, allenfalls außerhalb der Tragödie. S. 49

Zufall oder Fügung dürfen nur die Vorgeschichte beeinflussen oder jenseits des dramatischen Endes eine Rolle spielen.

Nun kann das Schauderhafte {Schreckliche} und Jammervolle {Rührende} durch die Inszenierung {Anschauung}, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse selbst bedingt sein {aroused by the very structure and incidents of the play}, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. S. 41

Das nachhaltigste Entsetzen stiftet ein dramatischer Verlauf in der Vorstellung des Zuschauers, ohne es darüber hinaus anschaulich zu machen.

Die beste unter allen Wiedererkennungen {Wenden von Unkenntnis zu plötzlicher Kenntnis, in deren Folge Freundschaft oder Feindschaft eintreten} ist diejenige, die sich aus den Geschehnissen {dem wohlgeformten plot} selbst ergibt, indem die Überraschung aus Wahrscheinlichem hervorgeht. S. 53

Was eine Überraschung aus ihrer Vorgeschichte erklärt, wirkt dadurch in hohem Maße glaubwürdig.


Die Ursachen des Höhepunktes dürfen nicht unsichtbar sein.


Da nun der Dichter {Drehbuchautor} das Vergnügen bewirken soll, das durch Nachahmung {die Vorstellung von} Jammer und Schaudern {Empörung und Zurückschrecken infolge eines Umschlags dessen, womit gerechnet wird, ins Gegenteil, oder von Unkenntnis in Kenntnis wahrer Ursachen, in deren Folge Freundschaft oder Feindschaft eintreten} hervorruft, ist offensichtlich, dass diese Wirkungen in den Geschehnissen selbst enthalten {von ihnen sichtlich verursacht worden} sein müssen. S. 43

Insbesondere beim Zustandekommen von final Entsetzlichem darf der Zufall keine Rolle spielen.


Charakter = Moral


Es sind ... [die Verhaltensmuster], aufgrund deren wir ... [dem menschlichen Tun] eine bestimmte Beschaffenheit {Bewandtnis} zuschreiben, und infolge ... [ihres Stils] haben {schaffen sich} alle Menschen Glück und Unglück. {There are in the natural order of things, therefore, two causes – Character and Thought – of their actions, and consequently of their success or failure in their lives.} S. 19

Was dramatischen Figuren zustößt, hat immer auch mit ihren Angewohnheiten oder Sinnvorstellungen zu tun.


Mit aufgerührten Gefühlen gehen auch andere seelische Lasten ab.


Die Tragödie ist ... [eine] Nachahmung {Ausgeburt}, die Jammer {Wehgeschrei} und Schaudern {Mitleid} hervorruft und hierdurch eine Reinigung {Befreiung vom Übermaß} ... derartige[r] Erregungszuständen bewirkt. S. 19

Dramatische Geschichten machen in erster Linie nicht klüger, sondern erleichtern den Zuschauer.


Handlungen deuten Ideen.


Daher ist Dichtung {Spielfilm} etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung {Dokumentarfilm}; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen {statt Kennzeichnungen wie z. B. „Held“, „Freund“, „Widersacher“ ...} gibt. S. 29-31

Fiktionale Geschichten sind holzschnittartiger als wirkliche, da sie nur eine Möglichkeit verdeutlichen.

Die {fiktionalen} Stoffe ... soll man ... zunächst im Allgemeinen skizzieren und dann erst szenisch ausarbeiten und zur vollen Länge entwickeln. S. 55

Das Wesentliche einer Fiktion tritt nicht in der Ausarbeitung, sondern ihrem Entwurf hervor.

Die wirkungsvollste Beschaffenheit der Hauptfigur


[Eine bessere Geschichte] darf nicht vom Unglück ins Glück, sondern sie muss vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen, nicht wegen der Gemeinheit {von Welt oder Mitmenschen}, sondern wegen eines großen Fehlers {einer Leidenschaft oder Beschränkung} entweder eines Mannes, wie er genannt wurde {von etwas über den Durchschnitt hinausragendem sittlichen Niveau}, oder eines besseren oder schlechteren. S. 41

Die Geschichten nehmen den Zuschauer am meisten mit, in denen sich ein ihm ähnlicher Durchschnittscharakter, der es nicht verdient, behände das eigene Grab schaufelt.

1. Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben; dies nämlich ist weder schauererregend {Angst machend} noch jammervoll {herzzerreißend}, sondern abscheulich {unrein}.

Je unschuldiger ein dramatischer Charakter ist, desto weniger verkraften wir seinen Untergang (überhaupt nicht mehr bei kleinen Kindern).

2. Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen Qualitäten hat: sie ist weder menschenfreundlich {sittliches Niveau und Glücksumstände in Übereinstimmung zeigend} noch jammervoll, noch schauererregend.

Erfolgreiche Nichtskönner wirken langweilig.

3. Andererseits darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt. Eine solche Zusammenfügung enthielte zwar Menschenfreundlichkeit {poetische Gerechtigkeit}, aber weder Jammer noch Schaudern {nichts Herzzerreißendes und auch nichts, das man für sich selbst befürchten müsste}. Denn [Jammer] ... stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient, [Schaudern] ... bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer ... [angesichts des] unverdient Leidenden, der Schauder [angesichts] ... dem [uns] Ähnlichen {zur selben Zielgruppe wie der Zuschauer Gehörenden}. S. 39

Auch wenn Halunken plötzlich Pech haben, nimmt uns das weniger mit.


Jammer, Schaudern und Reinigung entspringen nicht neuen, unerhörten Tatsachen, sondern der Aktualisierung von etwas, dessen man bereits inne ist.


Wenn man indes den dargestellten Gegenstand {Lauf} noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht als Nachahmung {Vorstellung} Vergnügen ... S. 13

Die Überraschung gen Ende darf sich nicht dem völlig Unbekannten verdanken.


Der sittlich mittlere Charakter


Eine Person hat einen Charakter {Stil}, [indem... ihre Worte oder Handlungen bestimmte Neigungen erkennen lassen; ihr Charakter {Vormarsch} ist tüchtig {anständig}, wenn ihre Neigungen {Ansinnen} tüchtig sind. S. 47

Im Trachten eines Charakters liegt sein Wesen.

So bleibt [als idealer] ... Held übrig, ... [wer] zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers {einer menschlichen oder intellektuellen Schwäche}. S. 39

Der dramatischer Charakter soll nicht ungeachtet seines großen Talentes oder infolge seiner Unfähigkeit untergehen, sondern weil ihm ein tragischer Fehler unterläuft.

[Geschichten ahmen] handelnde Menschen {sich kreuzende Willensbahnen} nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere {Gewohnheiten} fallen stets unter diese beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter {Stil} betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden {moralisch} Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir. S. 7

Dramatische Charaktere könnten intensiver oder lascher sein als der Zuschauer oder diesem ungefähr gleichen.


Charaktere schaffen die innere Teilnahme an einer Geschichte.


... und es wird von Handelnden {Menschen} gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres Charakters {Stils} und ihrer Erkenntnisfähigkeit {Auffassungsgabe} eine bestimmte [treffliche oder ruchlose] Beschaffenheit haben. (Es sind ja diese Gegebenheiten {Manieren}, aufgrund derer wir auch den Handlungen eine bestimmte [rührende] Beschaffenheit zuschreiben ...). S. 19

Der Stil ihre Charaktere tönt die Handlung einer Geschichte.

Im Geschehen enthaltene Betrachter, die uns die Vergangenheit erklären, die Gegenwart bewerten oder Zukunft voraussagen, steigern das Wahrnehmungserlebnis der Zuschauer, wenn sie zur Handlung gehören.


Den Chor muss man ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler, und er muss Teil des Ganzen sein und sich an der Handlung beteiligen... S. 59

Charaktere, die hauptsächlich ihre Meinung abgeben, müssen doch auch von der Handlung bewegt werden oder diese bewegen.

Was Charaktere lebendig macht


Was Charaktere {Gesinnungen} betrifft, muss man auf vier Merkmale bedacht sein. Das erste und wichtigste besteht darin, dass sie [zwischen den Extremen des Tadellosen und des Schuftes] tüchtig sein sollen. Eine Person hat einen Charakter {Maßstab}, wenn, wie schon gesagt wurde, ihre Worte und Handlungen bestimmte Neigungen erkennen lassen; ihr Charakter {Stil} ist tüchtig, wenn ihre Neigungen tüchtig sind ...
Das zweite Merkmal ist Angemessenheit {die Zeichnung in typgerechten Linien} ...
Das dritte Merkmal ist das Ähnliche {menschlich nicht allzu weit vom Niveau des Zuschauers entfernt Liegende}. Denn dies ist etwas anderes, als den Charakter {die Macht seiner Gewohnheiten} so zu zeichnen, dass er – in dem soeben beschriebenen Sinne – tüchtig und angemessen ist.
Das vierte Merkmal ist das Gleichmäßige. Und wenn jemand, der nachgeahmt werden soll, ungleichmäßig {widersprüchlich} ist und ein solcher Charakter {eigenartig} gegeben {eingeführt} ist, dann muss er immerhin auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig sein. S. 47

Charaktere sollen tüchtig sein, realistisch gezeichnet, dem Zielpublikum ähneln und sich treu bleiben in unterschiedlichsten Verhältnissen.

Da Tragödie {dramatische Verknüpfung von Ereignissen} Nachahmung {Vorstellung} von Menschen ist, die besser sind als wir, muss man ebenso verfahren wie ein guter Porträtmaler. Denn auch diese geben die individuellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner ab. So soll auch der Dichter, wenn er jähzornige, leichtsinnige und andere mit derartigen Charakterfehlern {schlechten Angewohnheiten} behaftete Menschen nachahmt {hervorbringt}, sie als die, die sie sind, und zugleich als rechtschaffen {etwas über das sittliche Niveau des Zuschauers herausragend} darstellen. S. 49

Alle dramatischen Figuren sollen ‒ ein bisschen ‒ imposanter sein als ihre Betrachter.


Dialog ist besser Teil der Handlung.


Hieraus ergibt sich, dass sich die Tätigkeit des Dichters {Drehbuchautors} mehr auf die Fabeln {Anordnung der Ereignisse als Verlauf} erstreckt als auf die Verse {szenische Ausarbeitung mit Dialogen}: er ist ja in Hinblick auf die Nachahmung {Schöpfung} Dichter, und das, was er nachahmt {hervorbringt}, sind Handlungen {auseinander hervorgehende Verläufe}. S. 31

Dialog ist keine Domäne des dramatischen Autors.

... wenn jemand Reden {Dialoge} aneinanderreihen wollte, die Charaktere {Meinungen} darstellen {stiften} und sprachlich wie gedanklich gut gelungen sind, dann wird er gleichwohl die der Tragödie eigentümliche Wirkung {Jammer und Schaudern infolge eines menschlichen Fehlers} nicht zustande bringen. Dies ist vielmehr weit eher bei ... [einer dramatischen Geschichte] der Fall, die in der genannten Hinsicht {Charakterzeichnung} Schwächen zeigt, jedoch einen Mythos {Sinn}, d. h. eine Zusammenfügung von Geschehnissen, enthält. S. 21 f.

Eine gut funktionierende Geschichte geht zulasten der Charaktere ‒ und umgekehrt.

Um die Sprache {szenische Ausarbeitung} muss man sich vor allem in Abschnitten bemühen, die ohne Handlung {Drama} sind und weder Charakter {Meinung} noch Gedankliches {Thema} enthalten. Andererseits verdunkelt eine allzu blendende Sprache {in Dialogen} die Charaktere {Werte} und Gedankenführung. S. 85

Das Dramatische einer Geschichte ist nie literarisch.

Zur Gedankenführung {Vermittlung von richtigen Inhalten} gehört [freilich], was mithilfe von Worten {in Dialogform} zubereitet {erklärt} werden soll. Teile davon sind das Beweisen und Widerlegen und [‒ vergleichbar dem, was dramatische Handlungen tun ‒:] ... Hervorrufen von Erregungszuständen, wie von Jammer und Schaudern oder Zorn und dergleichen mehr, ferner das Verfahren, einem Gegenstande {Dasein oder Lauf der Dinge} größere oder geringere Bedeutung zu verleihen. S. 61

Dramatische Wirkungen werden erreicht durch Handlung oder Dialoge.

Allerdings besteht insofern ein Unterschied [zwischen ausgesprochenen Erklärungen und einer Handlung], als sich die [in beiden Fällen erstrebten] Wirkungen {Erregungszustände wie Jammer, Schaudern oder Zorn und Dergleichen mehr} bei Geschehnissen {einer dramatischen Verknüpfung} ohne lenkende {verbale} Hinweise einstellen müssen, während sie bei allem, was [nach bereits vorliegendem Stoff] auf [beschreibenden] Worten beruht, vom Redenden hervorgerufen und durch die Rede {Präsentierung} erzeugt werden müssen. Denn welche Aufgabe hätte der Redende {Interpret} noch, wenn sich die angemessene Wirkung {Jammer, Schaudern ...} auch ohne Worte einstellte? S. 61

Dialoge können nur etwas hinzutun, wo die Handlung bereits wirksam ist.


Wenn Exposé oder Zusammenfassung einen nicht packen, werden es weder das Drehbuch noch der Film danach tun.


Denn die Handlung muss so zusammengefügt {verknüpft} sein, dass jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den [lediglich gepitschten] Vorfällen Schaudern {Entsetzen} und Jammer {Mitleid} empfindet. S. 41 f.

Bereits als Abriss wird eine dramatische Handlung, was sie draufhat, restlos vermitteln. Die Ausarbeitung kann dem nichts mehr hinzutun.

Daher ist die Dichtkunst Sache fantasiebegabter und leidenschaftlicher Naturen. S. 55


Außerdem soll man sich die Gesten der Personen {handelnden Figuren} möglichst lebhaft vorstellen. Am überzeugendsten sind bei gleicher Begabung diejenigen {Autoren}, die sich in Leidenschaft versetzt haben, und der selbst Erregte stellt Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreuesten dar. S. 55

Hysteriker eignen sich besser zum dramatischen Autor als Depressive.


Dramatik wächst nicht mit immer neuen Überraschungen, sondern „musikalisch“ durch Abwandlung desselben Themas.


Die Teile, die sich aus ... [der] Ausdehnung {einer dramatischen Verknüpfung} ergeben, d. h. die Abschnitte, in die man sie gliedern kann, sind folgende: Prolog, Episode, Exodos und Chorpartie ... S. 37

Ein dramatischer Verlauf zerfällt in unterschiedliche Episoden.

[Die Tragödie] hatte ursprünglich aus Improvisationen [Wortwechseln zwischen Anführen von Chören] bestanden (sie selbst und die Komödie: sie selbst vonseiten derer, die den Dithyrambos {das begeisterte Chorlied}, die Komödie vonseiten derer, welche die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwange sind, anführten) ... S. 15

Der Sinn für Dramatik liegt im menschlichen Verhalten und Brauchtum.

Der Prolog {Erzählung der Vorgeschichte} ist der ganze Teil der Tragödie vor dem Einzug des Chores, eine Episode ein ganzer Teil der ... [Handlung] zwischen ganzen Chorliedern {vertiefenden Stellungnahmen}, der Exodos der letzte Teil der ... [Handlung] nach dem letzten Chorlied. Bei den Chorpartien ist der Parodos der erste ganze Teil, den der Chor vorträgt {die Form, nach der sich alles Weitere vollziehen wird, mit anderen als den Haupthandlungsinhalten angebend}, das Stasimon ein Chorlied ohne ... [Tänze], der Kommos ein vom Chor und vom Solosänger gemeinsam gesungenes Klagelied. S. 37

Jede Episode ist eine Kleinausgabe der gesamten Handlung.


Die undurchsichtigste Geschichte nimmt einen gefangen in dem Maße, in dem sie einmal wirklich geschehen ist.


Der Grund ist, dass das [erwiesen] Mögliche auch glaubwürdig ist; nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne Weiteres, dass es [tatsächlich] möglich sei, während im Fall des wirklich Geschehenen offenkundig ist, dass es möglich ist. S. 31

Das Mögliche bleibt nur wahrscheinlich, während uns die Nachempfindung von etwas einmal Geschehenem wie wahr vorkommt.


Warum Menschen sich im Gegensatz zu Tieren (am liebsten schaurige) Geschichten erzählen


Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen {Hervorbringen} selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung {Schöpfung} befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung {Vorstellung} erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen {Ausgeburten} hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freuden möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.
Ursache ... [unserer Freude an solchen Darstellungen] ist folgende [...]: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern ihn ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern {Darstellungen}, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B., dass diese Gestalt den und den darstelle. S. 11-13

Um zu wissen, wie eine Eiscreme mit Zwiebel-Leber-Aroma mundet, brauchen wir sie nicht herzustellen, sondern können die Vorstellung davon „schmecken“. Dieser menschlichen Fähigkeit, Vorgestelltes wirklich zu erleben, verdankt sich das Geschichtenerzählen.

Was jämmerlich-schauderhaft aussieht, aber nicht weh tut, ist komisch.


Die Komödie ist, wie wir sagten, Nachahmung {Darstellung} von schlechteren {närrischeren} Menschen {als wir uns selber dünken}, aber nicht in Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am [uns abstoßenden] Hässlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Hässlichkeit {Abstoßendem} verbundener Fehler, der indes [im genauen Gegensatz zum tragischen Pathos] keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske hässlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz. S. 17

In der Komödie identifizieren wir uns nicht mit dem Helden, weisen ihn innerlich zurück. Lachen zerstört die Intimität.

[Am] zweitbeste[n] ... ist ... eine [...] zwiefach zusammengefügte [...] Fabel {Folgerichtigkeit}, wie die „Odyssee“, ... in der die Guten und die Schlechten ein entgegengesetztes Ende finden. Sie gilt [bei manchen] als die beste, weil sie der Schwäche des Publikums entgegenkommt. Denn die Dichter richten sich nach den Zuschauern und lassen sich von deren Wünschen leiten. Doch diese Wirkung ist nicht das Vergnügen, auf das die Tragödie zielt; sie ist vielmehr eher der [lockerer gefügten Launen‑]Komödie eigentümlich. S. 41

Während die dramatische Handlung einen ergreift, mitreißt und so zu jemand anderem werden lässt, bleibt man durch die Komödie ‒ innerlich unberührt ‒ derselbe. Beide Bedürfnisse befriedigt eine dramatische Geschichte mit komischer Nebenhandlung.


Was Aristoteles nur mittelbar anspricht


Konflikt – Charaktere erscheinen dramatisch durch Vorsätze, meist des Helden und des Widersachers, deren zeitgleiche Verwirklichung sich ausschlösse. Als sich „kreuzende Leidenschaften oder Berechtigungen“ sind sie die Bestandteile und Bedingungen eines Konfliktes. Die eine wird dabei nach Aristoteles in der Regel moralische {menschenfreundliche, bildende}, die andere egoistische {orgiastische, unterhaltende oder hochmütige} Zwecke verfolgen. Beim inneren Konflikt kämpfen diese zwei Neigungen in derselben Brust (Held oder Anti-Held will Unvereinbares, etwa moralisch und genussfreudig zugleich sein, und muss sich entscheiden). Der innere oder äußere Konflikt wird vor, während oder nach der finalen Überraschung (dem jähen Umschlagen vom Glück ins Unglück oder umgekehrt) dadurch entschieden, dass eine der Neigungen sich auf Kosten der anderen durchsetzt.
  

Zusammenfassende Deutung


Die darstellenden Künste nehmen nach Aristoteles unter den menschlichen Hervorbringungen eine Zwischenstellung ein: Auf der einen Seite werde mit jedem Kunstwerk etwas Vergängliches (Veränder-/Datierbares) geschaffen ‒ andererseits drücke es etwas Wesentliches, also Zeitloses anschaulich aus. Der Künstler ähnelte insofern mehr einem Philosophen als einem Berichterstatter. Während Philosophen den Sinn des Sein herausarbeiten, veranschaulichen Künstler ebendiesen nach Aristoteles in einem erfahrbaren Stück Welt: dem Kunstwerk. In ihm erscheine somit Wichtigkeit oder Bedeutung schlechthin.

Bedeutungserfahrung verändere den Menschen, der sie macht. Man denke etwa an die Wirkung von Musik. „Künstlich“ herbeigeführtes Zumute-Sein ist daher nach Aristoteles der eigentliche Zweck von Kunst, nicht nur von Musik, sondern z. B. auch von Dichtung. Erreicht werde es im Fall von Dichtung, indem diese ‒ wie Musik ‒ „Bewegung“ darstelle und so in ihren Wahrnehmer übertrage. Dichterisch wiedergegebene Bewegung aber ist nach Aristoteles nichts anderes als dramatisch gefügte (entwickelte) Handlung.

Handlung sei das Wesen einer Geschichte. Schon ihre Verlaufsform Anfang ‒ Mitte ‒ Ende sei Bewegung (etwas, das sich in der Zeit vollzieht), darüber hinaus aber – idealerweise – sei dieser Rhythmus imstande, noch eine weitere Bewegung zu transportieren: mittels eines Glückswechsels, der den dargestellten Helden schließlich unabsichtlich trifft. Glück entspringt dabei für Aristoteles nicht (positiv) gesteigertem Wohlbefinden, sondern (negativ) der Freiheit von Leiden, das einen träfe, wenn man sich als Urheber einer Tat begriffe, die Menschen, denen man nur Gutes will, ins Unglück stürzte.

Aristoteles’ Poetik skizziert, welche Folge von Ereignissen den Zuschauer einer Handlung am wirkungsvollsten „ansteckt“.

Zunächst wird dafür romanhafte (epische) Erzählweise unterschieden von dramatischer. Beide verdanken sich derselben Quelle: der Geschichte. Vergliche man etwa die Bestandteile einer Handlung mit Noten, wäre deren Potential oder Thema (Aristoteles‘ „Mythos“) die darin erscheinende Melodie, die ihren Wahrnehmer ansteckt und mitnimmt (bewegt).

Die „Melodie“ dramatischen Dichtens erscheint nach Aristoteles einerseits in der geschlossenen Handlungsbewegung Anfang ‒ Mitte ‒ Ende ‒ darüber hinaus im finalen Glücksumschwung ihres Helden. Nur so befriedige sie den, der sie wahrnimmt, maximal. Einem Betrachter aber Lust zu bereiten, darauf kommt es (nach Aristoteles) vor allem an. Lust besteht im Spüren des Menschen seiner Selbst: seines seelischen (nach „Lähmungen“ wiederhergestellten) Muskelspiels. Die Aufgabe der dramatischen Dichtkunst besteht nach Aristoteles daher nicht in Belehrung (Klugmachen), sondern in der Beseitigung von Verkrampfungen durch das Aufreizen innerer Bewegung. Letztere verdankt sich dem Erlebnis vorgestellter Abläufe, die, von einem Autor erschaffen und gegliedert, nichts anderes sind als dramatische Handlung.

„Jammer und Schaudern“ sind durch dramatische Handlung erzeugbare Gemütsbewegungen, die den Zuschauer nach Aristoteles aufrühren, dadurch entkrampfen. Verursacht werden sie durch eine überraschende Wende vom Glück zum Unglück. Diese Wende entspricht einer Bewegung: dauerhafte Verhältnisse guten dauerhafte Verhältnissen schlechten Inhalts. Um Jammer und Schaudern zu bewirken, muss diese Bewegung darüber hinaus versehentlich erzeugt worden sein: in einer Weise, die zwar beabsichtigt hätte sein können, es aber nicht war. Der Urheber (tragische Held) handelt sich damit etwas ein, das nicht mehr in seiner Macht steht. Er erfährt sich in der Gewalt von etwas oder jemand Fremdem ‒ was Furcht einflößt. Das ist aber noch nicht der Witz einer dramatischen Geschichte. Dieser besteht (nach Aristoteles) im unabsichtlichen Erwirken des Unheils ‒ man kann es nicht wiedergutmachen: entweder, weil dies unmöglich ist oder in der Gewalt eines Feindes steht. Der eigentliche Stoff einer mitreißenden Geschichte ist so der Verursachungszusammenhang (die Mechanik) eines Glückswechsels. Hauptsache ist dabei nicht die hochdramatische Darstellung des Umschwungs, sondern, wie Aristoteles nicht müde wird zu betonen, die Ausarbeitungsdarstellung der ihn herbeiführenden Schritte, der „Verknüpfung“ oder Struktur einer Handlung. Noch als Opfer der Weiterungen seines Tuns bleibt Aristoteles‘ „tragischer“ Held ein Handelnder. Nicht die Mächte des Schicksal (die Tatsache, dass blind über einen verfügt würde) verursachen Jammer und Schaudern im Zuschauer, sondern die Fähigkeit des Menschen, sein Unglück spontan herbeizuführen, selber Ursache seines Schicksals sein zu können.

Gesteigert wird die ergreifende Wirkung durch die „komplizierte“ (verflochtene) Handlung. Während der einfache Geschehensverlauf Erwartungen, die durch die Anlage bestimmter Verhältnisse geweckt werden, in seinem Fortschreiten tatsächlich erfüllt (der Actionheld besiegt den Widersacher), verbindet die verflochtene Geschichte den notwendigen Lauf ihrer Handlungsschritte mit der Veränderung dessen, was wir erwarten. Die komplizierte Handlung besteht aus einer ersten Zusammenhangskette, die jählings-notwendig in eine andere, das Gegenteil verheißende überspringt. Was sich nach und nach zu verwirklichen schien (anbahnte), schlägt (überraschend) ins Gegenteil dessen um, wozu es ins Werk gesetzt schien (erzielt z. B. nicht mehr Rettung, sondern Untergang) und entzieht der ursprünglichen Deutung der Verhältnisse den Boden. Alle Voraussetzungen müssen entsprechend der neuen Handlungsrichtung umgedacht werden (der Freund wird zum Feind, Abneigung, die man zu verspüren glaubte, zu Liebe, Kühnheit entpuppt sich als Kleinmut usw.).

Es findet eine Erkenntnis statt.

Ihr entspringen „Jammern und Schaudern“ ‒ durch den Nachvollzug von Vernichtung und Leid, die sich einer zunächst unscheinbaren Tat verdanken. Alle anderen Merkmale einer dramatischen Geschichte (Machtkämpfe, Gestaltung oder besondere Darstellungsweise ...) hält Aristoteles für zweitrangig.

Jammer und Schaudern, auf die es nach Aristoteles ankommt, lassen sich durch optimierte Handhabung der dramatischen Elemente steigern.

Etwa der Held: sein „persönliches Schicksal“ soll den Zuschauer anstecken und, indem er’s sich zu eigen macht, bewegen (rütteln). Tadellosigkeit des Helden behindert hier eher das gefühlsmäßige Sich-gleich-Setzen (mit Superman identifiziert sich nur das kindliche Gemüt), während Verkommenheit den (für Aristoteles ratsamen) Sturz ins Unglück nicht mehr schockierend-unverdient genug erscheinen lässt. Furcht und echte Sorge lösen dagegen die jedermann betreffende Möglichkeit aus, sich das eigene Grab zu schaufeln. Erinnert man weiter als Aufgabe der Dichtkunst, das Festgefahren-Alltägliche (daher nicht Hervorragende oder Verkommene, sondern Mittelprächtige) aufzureißen, so liegt der optimale Held vom Niveau etwas über dem Durchschnitt. Das Unverdient-Jammervolle seines Missgeschicks wirkt am stärksten, indem der ihm ähnliche Zuschauer es sich uneingeschränkt für den eigenen Fall vorstellen kann. Das Aufstachelnde einer Geschichte entstammt dem Glücksunterschied zwischen Anfang und Ende. Nach Aristoteles erweist es sich daher als besser, wenn der Held anfangs in eher beneidenswerten Verhältnissen steht; der Umschwung vom Glück ins Unglück nehme einen vergleichsweise mehr mit als sein Gegenteil (obwohl auch dies möglich ‒ ein Kennzeichen etwa von Märchen ‒ ist).

Verstärkt werden Jammer und Schaudern nach Aristoteles, indem sie mehr der Anbahnung des Entsetzlichen als dessen Darstellung entspringen. Wird etwa das Schaudern schließlich durch einen Helden in bejammernswerten Umständen vermittelt, hängt viel von der Kunst des Regisseurs, Schauspielers oder Maskenbildners ab. Dieselbe Wirkung lässt sich wahrscheinlich besser über die dramatische Verknüpfung steuern und verstärken. Statt des schauerlichen Schlussbildes erregen dann die zu ihm führenden Handlungsschritte den Zuschauer in der gewünschten Weise. Zum Beispiel könnten zunächst unscheinbare Taten, wenn ihre wahren Folgen erkannt werden, etwas derart Entsetzliches heraufbeschwören, dass sich einem bereits bei der Vorstellung die Haare sträuben. Am fürchterlichsten sind nach Aristoteles Verfehlungen zwischen Blutsverwandten. Der Autor möchte hier Jammer und Schaudern in der Seele des Zuschauers rein durch die Darstellung des Fehlgriffs oder seines Nachvollzugs erzeugen und das folgende Unglück sich ganz in der Vorstellung auswachsen lassen. Was nicht mehr ausbleiben kann, muss deswegen auch nicht mehr gezeigt werden.

Statt nur die Katastrophe ins Vorstellen zu legen, kann selbst die sie erzwingende Tat ‒ fachmännisch ausgeblendet ‒ den Zuschauer unbändig erregen, indem er nun sie und ihre entsetzliche Weiterung unausweichlich eintreten sehen und sich ausmalen muss.

Ein Fehlgriff kann in der Geschichte (vor unseren Augen) geschehen. Das ist die schlechtere Möglichkeit. Eindrucksvoller wäre, wenn er ohne Absicht oder Wissen um seine Folgen am besten in der Vorgeschichte passierte. Jammer und Schaudern würden dann in der Gegenwart durch eine Überraschung, den schlagartigen Wechsel vom Irrtum zum Wissen über das vergangene Geschehen, erzeugt. Vollständig durch erzählerische Mittel aber würden Jammer und Schauern dann produziert, wenn der Held unwissentlich beinahe etwas Entsetzliches (gegen Blutsverwandte) täte, im letzten Moment aber die wahren Verhältnisse durchschaut. Das Entsetzen wirkt hier rein in der Vorstellung des Zuschauers.

Ein anderer Aspekt, dessen Optimierung die dramatische Wirkung (Jammer und Schaudern) steigert, sind nach Aristoteles die Charaktere. Um den Zuschauer aufzuwühlen, muss ein Glücksumschwung irgendwie zugerechnet, auf etwas bezogen sein, das festlegt, was „gut/Glück“ oder „böse/Unglück“ ist. Träger solcher Wertungen sind nach Aristoteles die unterschiedlichen Charaktere. Wofür einer steht, zeige sich in seinen nicht unmittelbar auf die Handlung zielenden Worten und Taten, in den sich darin manifestierenden Gewohnheiten, Auffassungen oder Gesinnungen. Der Protagonisten oder Held soll sich z. B. durch „Tüchtigkeit“ auszeichnen. Er soll lebhaft-strebsam genug sein, um eine Handlung voranzubringen, darüber hinaus aber nicht idealisiert, „unwahrscheinlich tüchtig“ sein. Da es nach Aristoteles darauf ankommt, die Zuschauer aufzurütteln durch Teilhabe an heftiger Bewegung, müssten dramatische Charaktere oder Verhaltensmuster einer „bewegenden“ Handlung dienen, nicht umgekehrt. Da Handlung sich am bewegendsten um eine Verfehlung dreht, muss der davon betroffene Charakter tüchtig sein, sonst würde sein Fall beim Zuschauer weder Jammer noch Schaudern erregen. Zugleich darf er aber auch nicht so tüchtig (Alleskönner) sein, dass man sich nicht mehr mit ihm vergleichen kann. Auch darf er sich, um ein Zuschauergemüt zu bewegen, nicht so weit „entwickeln“, dass der finale Umschlag vom Glück ins Unglück ihn nicht mehr trifft, weil seine Maßstäbe sich verändert haben.

Nicht nur inhaltlich (in Hinblick auf Thema, Story, Charaktere ...), sondern auch was die Gestaltung oder Sichtbarmachung des Geschehens (Arten seiner Aufführung ...) betrifft, lässt sich die dramatische Wirkung nach Aristoteles maximieren. Wenn Romanautoren einen Glücksumschwung darstellen, müssen sie räumliche Veränderungen oder seelische Bewegung nur beschreiben. Der Dramatiker muss dagegen alles, was er darstellen will, Inneres wie Äußeres, aus dem Reden und Tun seiner Personen hervorgehen lassen. Die können in einer Handlung überhaupt nur auftauchen, indem sie etwas vollbringen (sich nicht nur verhalten, sondern bei der Sache sind). Deswegen rät Aristoteles dem dramatischen Autor, sich zuerst immer die Handlung auszudenken. Charaktere möchten danach einen nötigen Schritt zum Finale bedingen oder wahrscheinlich machen. Ihre Auftritte sollen entsprechend kurz sein, zielführend. Dramatische Handlung ist im Gegensatz zur romanhaften gedrängt, ein Ende anbahnend. Die dafür erforderlichen Schritte müssen nicht einmal alle gezeigt werden. Vor allem die Lösung gehört „vor die Kamera“, darüber hinaus nur die wichtigsten sie bedingenden Elemente. Die Geschichte wirkt dabei nach Aristoteles umso „runder“, je mehr sie folgenden Erzählmustern entspricht:
  • kompliziert – überraschende Erkenntnis,
  • einfach – eingehandeltes Leid,
  • Rührend – bedauerliche Zufälle,
  • spektakulär – Schau(erliches).

Der vollendete Dramatiker vereint nach Aristoteles diese Spielformen. Sollte es nicht vollständig gelingen, erfüllt auf jeden Fall die Erwirkung von Jammer und Schaudern die Zuschauererwartung.

Die „romanhafte“ Entwicklung mehrerer Schicksalsläufe nebeneinander schwächt nach Aristoteles die dramatische Handlung. Gleiches gilt, wenn mehr als ein Hauptbetroffener (Held) auftritt. Diesem Mangel könne gegebenenfalls durch ein überraschendes (kenntniserweiterndes) Ende abgeholfen werden.

Zuletzt empfiehlt Aristoteles, auch den Chor (beratend-kritische Freunde ...) handeln zu lassen, indem sein Auftreten nicht ohne Folge auf das bleiben soll, was danach geschieht.

Da eine dramatische Geschichte nach Aristoteles anstelle von Besonderem das Allgemeine („Ideen“) zum Ausdruck bringt, tritt dessen Grundzug umso deutlicher hervor, je mehr man sie „eindampft“. Was den Leser eines ausgearbeiteten Drehbuchs oder Zuschauer des Films danach bewegen soll, muss ihn erst recht als Hörer einer Schlagzeile oder knappen Inhaltsangabe desselben Stoffes überkommen. In diesem Sinne fasst Aristoteles selbst die ODYSSEE wie folgt zusammen: „Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, dass Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohne nachstellen. Er kehrt nach schwerer Bedrängnis zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde.“ S. 57

DER PATE ‒ Nach einem Mordversuch an seinem Vater tötet der jüngste Sohn, der dem Mafiageschäft abgeschworen hatte, den Auftraggeber und einen korrupten Polizisten, um seine Familie zu retten, übernimmt dann deren Geschäfte, tötet alle Rivalen und steigt bald an die Spitze der Mafia. Dann tötet er Feinde, die er in seiner Familie hat. Sein Schicksal, neuer Pate zu sein, ist besiegelt.

DER CLUB DER TOTEN DICHTER – Ein Literaturlehrer inspiriert seine Schüler, ihren Träumen zu folgen, worauf sie einen „Club der toten Dichter“ gründen. Eine der Jungen trotzt seinem Vater, fängt an zu schauspielern und bringt sich um, als er stattdessen in eine Kadettenanstalt soll, was die Entlassung des Lehrers zur Folge hat. Die Jungen stehen auf ihren Pulten, um ihrem Lehrer Ehre zu erweisen, als er geht.

ROCKY will mehr als ein kleiner Gauner sein, was er auf vielerlei Arten zu erreichen versucht. Als ihm angeboten wird, gegen den Weltmeister zu boxen, nimmt er sich vor, 15 Runden durchzuhalten, um zu beweisen, dass auch er jemand ist. Er trainiert für den Kampf und hält die 15 Runden durch.

AMERICAN BEAUTY ‒ Ein Mann mittleren Alters, dessen Frau und Tochter ihn für einen Versager halten, hat die Lust am Leben verloren. Er vernarrt sich in die 16-jährige Freundin seiner Tochter, was seine Kündigung, Marihuana-Konsum und Muskeltraining zur Folge hat. So fällt er seinem homophoben Nachbarn, einem Oberst und Neo-Nazi, auf. Nachdem er dessen sexuelle Avancen zurückgewiesen hat, schläft er fast mit der 16-Jährigen, entscheidet sich aber, als er erfährt, dass sie noch Jungfrau ist, dagegen und gewinnt so seine Würde zurück. Der Oberst ermordet ihn darauf, und sterbend vollzieht er die reine Schönheit des Lebens nach.

DER FRÜHSTÜCKSCLUB ‒ Fünf typische Oberschüler ‒ das Hirn, der Athlet, der Übergeschnappte, die Prinzessin und die Verwahrloste ‒ müssen nachsitzen. Nach anfänglicher Spannung und Streit öffnen sie sich einander und entdecken, dass jeder von ihnen ähnliche Probleme mit den Eltern und Schwierigkeiten hat, dem Stereotyp zu entsprechen, der von ihnen erwartet wird. Dieser Tag verändert sie alle, indem er ihre Einsicht herbeiführt, dass sie sich weniger unterscheiden als sie dachten.

TERMINATOR ‒ Ein Roboter wird aus der Zukunft in die Gegenwart geschickt, um eine junge Frau zu töten, weil sie dazu bestimmt ist, den künftigen Retter der Welt zu gebären. Ein Rebell kommt aus der Zukunft, um sie zu retten, schwängert sie, bevor er umgebracht wird, und hilft, den Roboter zu zerstören, damit sie ihren Sohn, den künftigen Retter der Welt, gebären kann.

ROSEMARIES BABY – Ein frischer Ehemann verständigt sich mit Satanisten, dass für sein Vorankommen als Schauspieler der Teufel seine Frau im Schlaf begatten darf und sie sein Kind austrägt. Anschließend versucht die junge Frau, herauszufinden, warum ihre Schwangerschaft so schwierig ist und was ihre komischen Nachbarn von ihrer Leibesfrucht wollen, bis sie das Teufelskind gebiert und sich entscheidet, es zu bemuttern.

GLADIATOR ‒ Ein ausgezeichneter römischer General weigert sich, dem gewaltsam an die Macht gekommenen neuen Kaiser Ehre zu erweisen, und wird zu Tode verurteilt. Er entkommt der Hinrichtung, wird zum Sklaven, Gladiatorstar, und kehrt nach Rom zurück, um den Mord an seiner Familie durch den neuen Kaiser zu rächen. Nachdem er von ihm letal im Rücken getroffen wurde, tötet er den Kaiser in der Arena, das Reich mit seinem Tod an den Senat zurückgebend.

Wesen der Tragödie

„Tragisch“ kennzeichnet keine menschliche Erfahrung, sondern eine Literaturform, die Aischylos und seine unmittelbaren Vorgänger im antiken Athen geschaffen haben; ihre Theaterstücke hießen Tragödien ‒ nicht wegen ihres besonders „tragischen“ Inhalts, sondern weil ihre Aufführung im Zusammenhang mit „Böcken“ (griech. tragos) stand. „Tragisch“ ist ein Vorgang daher dann, wenn er nach Art der Tragödie dargestellt wird.

Eine griechische Tragödie behandelt menschliches Versagen – im Gegensatz zur Komödie – mit Erbarmen. Derselbe Inhalt kann gefühlvoll-tragisch oder gnadenlos-komisch präsentiert werden. Aus komischer Sicht verdankt sich menschliches Scheitern der Dummheit, für die Tragödie liegt es im unmenschlichen Plan der Schöpfung. Die Tragödie erspürt und würdigt das im Scheitern übrig bleibende Menschsein. Leiden, das ein Zuschauer privat verdrängt, da es ihm den Lebensmut rauben würde, lebt in der Tragödie als universale Größe und fördert so beim Zuschauen das Erleben, nicht grausam herausgegriffen zu sein, sondern einer Bruderschaft anzugehören, die einige der größten Helden der Menschheit einschließt. Die Tragödie ist nicht – wie der Komödie – klug, vermehrt nicht unser Wissen, sondern vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, in seinem Leiden nicht alleine zu stehen.

Das zentrale Element der Tragödie bildet die Katastrophe (auch wenn diese nicht selten verhindert wird). Die tragische Katastrophe ist nicht, wie im Epos, Episode, sondern Hauptsache. Sie ist auch nicht Teil der Erziehung des Helden, sondern ein dunkler Hintergrund dessen, was ihn zuinnerst ausmacht: seines Menschseins. (Ihr Erbe ist daher auch nicht der Roman, sondern – im Kreisen um ein einziges ungewöhnliches Ereignis – die Novelle.)

Der tragische Held ist unverzagt, sein Mut und seine Ausdauer im Leiden heischen Bewunderung, nicht Gelächter. Man ist, nachdem man eine Tragödie gesehen hat, stolz darauf, ein Mensch zu sein.

Fast alle klassischen Tragödien entspringen gewöhnlichen Beziehungen: zwischen Liebenden oder Eltern und Kindern (außergewöhnliche Beziehungen bieten dem Zuschauer weniger Erfahrung aus erster Hand). Oft ist „Blindheit“ ein zentrales Motiv: die Unfähigkeit, diejenigen, die einem am nächsten stehen, als das zu erkennen, was sie wirklich sind. Häufige Themen sind auch der „Fluch der Tugend“ und „falsche Gerechtigkeit“. Das größte Übel breitet sich in griechischen Tragödien weniger durch die Anmaßung des Widersachers aus als durch seine Unerbittlichkeit.

Während die Komödie (blasiert) behauptet, dass Übel und Unergiebigkeit in der Welt auf Wissensmangel und menschliche Entartung zurückgehen, stellt die Tragödie (jammernd) den Menschen in einer Welt vor, an der er scheitern muss.

Während der griechische Tragödienheld keine Entwicklung durchmacht, durch starr-mutiges Festhalten an seinem Weg Bewunderung erzwingt, bekämpfen sich in der Seele des modernen Helden gleichwertige Neigungen. Sein Untergang verursacht dann die Einseitigkeit: die Entscheidung für das eine um des anderen willen. Der Shakespeare‘sche Held schlägt, nicht mehr, weil er muss, sondern aus freien Stücken, eine Richtung ein, die er dann ‒ wohl oder übel ‒ durchhält. Shakespeares Tragödien zeigen, wie eine Leidenschaft geweckt wird und sich entfaltet, den Fortgang einer großen Seele, die sich selbst zerstört im Kampf mit Umständen, Verhältnissen und ihren Folgen. Shakespeares Figuren bestricken durch Lebendigkeit, Fantasie, Witz, Innigkeit und Empfindungsgabe. Aus freien Stücken handelnd, betrachten und deuten sie sich selbst fast wie ein Künstler sein Werk. Ihr Scheitern wird schließlich nicht alleine von unglücklichen Umständen oder äußeren Zufälligkeiten verursacht; diese kommen vielmehr immer auch mit durch das zustande, wogegen und wofür der Held sich einmal entschieden hatte. Seine Absichten mögen dabei besser gewesen sein als seine Werke; nur für Letztere kann er schließlich aber die Verantwortung übernehmen. Wodurch er dann, etwa im Falle Macbeths, nicht etwa „Rache an sich selbst“ nimmt, sondern einsteht für das, was er sich eingehandelt hat. („Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht!“ kommentiert Nietzsche in Götzendämmerung I,10, „dass man sie nicht hintendrein im Stich lässt! – Der Gewissensbiss ist unanständig.“)

Der tragische Held akzeptiert die Welt so, wie sie mit ihm geworden ist, einschließlich des Leids, das sie verursacht.

Dante nannte sein christliches Versepos „Göttliche Komödie“, da es den Weg zum rechten Tun und Sein zeigt, dessen Folgen zwangsläufig angenehm und lohnend sind. Platonisch-christlich inspirierte Ethik ist mit der Tragödie unvereinbar, weil Tugend im Diesseits, auch wenn sie scheitert, im Jenseits immer belohnt wird. Das Leiden im Diesseits dauert nicht ewig und bedeutet daher nichts. Die Qualen in der Hölle sind nicht tragisch, da sie verdient sind. Das Christentum kennt insofern keine Würdigung des Menschen im Scheitern; es fehlt die Möglichkeit, ihn größer zu erleben als die Mehrzahl jener, die nicht scheitern. Es ist eine Sünde, die Verdammten zu bewundern. Selbst Christi Leiden sind nicht tragisch, da sie etwas Sinnvolles bewirken. Hier liegen die Ursprünge des Melodrams: Leiden als Vorform der Erlösung.