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Schopenhauer über die Höflichkeit



Von der Höflichkeit, dieser chinesischen Kardinaltugend, habe ich den einen Grund angegeben in meiner Ethik S. 201: der andre liegt in folgendem. Sie ist eine stillschweigende Übereinkunft, gegenseitig die moralisch und intellektuell elende Beschaffenheit voneinander zu ignorieren und sie nicht vorzurücken; - wodurch diese, zu beiderseitigem Vorteil, etwas weniger leicht zutage kommt.
Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist Unhöflichkeit Dummheit: sich mittelst ihrer unnötiger- und mutwilligerweise Feinde machen ist Raserei, wie wenn man sein Haus in Brand steckt. Denn Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige, eine offenkundig falsche Münze: mit einer solchen sparsam zu sein, beweist Unverstand: hingegen Freigebigkeit mit ihr Verstand. Alle Nationen schließen den Brief votre très-humble serviteur, - your most obedient servant, - suo devotissimo servo: bloß die Deutschen halten mit dem "Diener" zurück, - weil es ja doch nicht wahr sei - ! Wer hingegen die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der echte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe. - Wie das Wachs, von Natur hart und spröde, durch ein wenig Wärme so geschmeidig wird, dass es jede beliebige Gestalt annimmt; so kann man selbst störrische und feindselige Menschen, durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit, biegsam und gefällig machen. Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen, was die Wärme dem Wachs.
Eine schwere Aufgabe ist freilich die Höflichkeit insofern, als sie verlangt, dass wir allen Leuten die größte Achtung bezeigen, während die allermeisten keine verdienen; sodann, dass wir den lebhaftesten Anteil an ihnen simulieren, während wir froh sein müssen, keinen an ihnen zu haben. - Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen, ist ein Meisterstück.
Wir würden bei Beleidigungen, als welche eigentlich immer in Äußerungen der Nichtachtung bestehen, viel weniger aus der Fassung geraten, wenn wir nicht einerseits eine ganz übertriebene Vorstellung von unserm hohen Wert und Würde, also einen ungemessenen Hochmut hegten, und andrerseits uns deutlich gemacht hätten, was, in der Regel, jeder vom anderen, in seinem Herzen, hält und denkt. Welch ein greller Kontrast ist doch zwischen der Empfindlichkeit der meisten Leute über die leiseste Andeutung eines sie treffenden Tadels und dem, was sie hören würden, wenn sie die Gespräche ihrer Bekannten über sie belauschten! - Wir sollten vielmehr uns gegenwärtig erhalten, dass die gewöhnliche Höflichkeit nur eine grinsende Maske ist: dann würden wir nicht Zeter schreien, wenn sie einmal sich etwas verschiebt, oder auf einen Augenblick abgenommen wird. Wann aber gar einer geradezu grob wird, da ist es, als hätte er die Kleider abgeworfen und stände in puris naturalibus da. Freilich nimmt er sich dann, wie die meisten Mensche in diesem Zustande, schlecht aus.