Unter den Liedern, die Josepha sang, war ein Volkslied, das sie
von der Zippel gelernt, und welches diese auch mir in meiner Kindheit oft
vorgesungen, so daß ich zwei Strophen im Gedächtnis behielt, die ich um so
lieber hier mitteilen will, da ich das Gedicht in keiner der vorhandenen
Volksliedersammlungen fand. Sie lauten folgendermaßen – zuerst spricht der böse
Tragig: »Otilje lieb, Otilje mein, Du wirst wohl nicht die letzte sein –
Sprich, willst du hängen am hohen Baum? Oder willst du schwimmen im blauen See?
Oder willst du küssen das blanke Schwert, Was der liebe Gott beschert?« Hierauf
antwortet Otilje: »Ich will nicht hängen am hohen Baum Ich will nicht schwimmen
im blauen See, Ich will küssen das blanke Schwert, Was der liebe Gott
beschert!« Als das rote Sefchen einst das Lied singend an das Ende dieser
Strophe kam und ich ihr die innere Bewegung abmerkte, ward auch ich so
erschüttert, daß ich in ein plötzliches Weinen ausbrach, und wir fielen uns
beide schluchzend in die Arme, sprachen kein Wort, wohl eine Stunde lang,
während uns die Tränen aus den Augen rannen und wir uns wie durch einen
Tränenschleier ansahen. HEINRICH HEINE (Memoiren)