Die Seitenzahlen verweisen auf die deutsche Übersetzung Fuhrmanns im
Verlag Phillip Reclam jun., Stuttgart 1982. In {geschweiften Klammern}
erscheinende Ausdrücke gehören nicht zum Ur-Text, sondern deuten benachbarte
Stellen durch verwandte deutsche Worte, Erläuterungen oder die englische Übersetzung des griechischen Originals. Die Poetik war ursprünglich wohl eine
Vorlesungsgrundlage, nicht zur Veröffentlichung vorgesehen.
Handlung ist nicht Rede, sondern Tun
[Eine falsch
verwendete Figur] sagt ... von sich aus, was der Dichter will, und nicht,
was die Überlieferung {Handlung} gebietet {... is made to say himself what
the poet rather than the story demands} ... [Sie könnte] ebenso gut
auch bestimmte Zeichen {Schrifttafeln, auf denen die Botschaft des Autors
steht} an sich tragen {dem Publikum zum Lesen hinhalten} ... S. 51
Schlecht erfundene Charakteren sagen,
was ihr Autor will, nicht was ihrer Verstrickung in die Handlung entspringt. Ebenso
gut könnten sie Schrifttafeln mit Parolen hochhalten.
... Anfänger
in der Dichtung [sind] eher imstande ..., in der Sprache {Dialogen} und
den Charakteren {Begriffen} Treffendes zustande zu bringen, als die
Geschehnisse {zu einer Handlung} zusammenzufügen. {... beginners
succeed earlier with the Diction and Characters than with the construction of a
story.} S.
23
Ungeübte Autoren bringen eher
Charaktere zustande als eine zusammenhängende Folge von Ereignissen.
Die Geschlossenheit einer Handlung
Jede Tragödie {dramatische Geschichte} besteht aus
Verknüpfung {Complication} und Lösung {Denouement}. Die
Verknüpfung [Aristoteles verwendet später dafür auch: „Knoten“] umfasst
gewöhnlich die Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den
Rest. Unter Verknüpfung {Knoten} verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu
dem Teil, der der Wende ins Glück oder Unglück unmittelbar vorausgeht {I.-II.
Akt}, unter Lösung den Abschnitt vom Anfang der Wende bis hin zum Schluss {III.
Akt}. S. 57
Jede spannende Geschichte gibt eine Folge
auseinander hervorgehender Ereignisse wieder, in deren Verlauf sich etwas Bestimmtes
anbahnt, und dann bestenfalls sein Gegenteil eintritt.
Wir haben
festgestellt, dass die Tragödie {dramatische Geschichte} die
Nachahmung {Ausgeburt} einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung {action}
ist, die eine bestimmte Größe hat ... Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte
und Ende hat. Ein Anfang {inciting incident ...} ist, was selbst
nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch
natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht ... Eine Mitte ist,
was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich
zieht {II. Akt}. Demzufolge dürfen Handlungen {Verläufe}, wenn sie gut
zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an
beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze
halten. S. 25
Eine spannende Geschichte lanciert
einen Verlauf, der umfangreich genug sein muss, um ‒ zwischen Anfang und Ende ‒ eine Mitte
zu haben. Während der Mitte wird ein Ereignis von einem vorhergehenden
verursacht und bewirkt ein weiteres. Der Anfang tritt unvermittelt ein; das
Ende beschwört nichts Weiteres herauf.
Viele
schürzen den Knoten vortrefflich und lösen ihn schlecht wieder auf; man muss
jedoch beides {Anfang und Ende} miteinander in Übereinstimmung bringen
{Spannung stiften und lösen}. S. 59
Ein Anfang ist immer der Anfang von ETWAS
= spannt auf ein bestimmtes ENDE.
Ein Ende ist ...,
was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise
oder in der Regel {höchstwahrscheinlich}, während nach ihm [erst mal] nichts
andres mehr eintritt. S. 25
Das Ende tritt ein als ein Ereignis,
welches ‒ bedingt durch seine Vorgänger ‒ als deren Folge mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit vonstattengehen muss.
Künstlerische Nachahmung wiederholt nichts Hervorgebrachtes, sondern das Hervorbringen – von Ausgeburten voller Anmut des Wahren.
Die Tragödie ist Nachahmung {Vorstellung} einer
guten {ernst zu nehmenden} und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter
Größe. S. 19
Eine spannende Geschichte verspricht
eine relevante und endliche Ereignisfolge.
Die Handlung einer Geschichte ist wichtiger als ihre Mannschaft
Die Fabel {Ordnung} des Stücks {Verlaufes} ist
nicht schon dann – wie einige meinen – eine Einheit, wenn sie sich um einen
einzigen Helden dreht. Denn diesem einen stößt unendlich vieles zu, woraus
keinerlei Einheit {Geschlossenheit} hervorgeht. So führt der eine {Held} auch
vielerlei Handlungen {Tätigkeiten} aus, ohne dass sich daraus eine einheitliche
[Linie] ... {Spannungsbogen} ergibt. Daher haben offenbar ... die Dichter
ihre Sache verkehrt gemacht, die ... derlei {character driven}
Werke gedichtet haben. Sie glaubten nämlich, dass, weil Herakles eine Person
sei, schon deshalb auch [seine Geschichte] ... notwendigerweise ...
[Geschlossenheit habe]. S. 27
Charaktere können eine Geschichte
anstoßen, nicht jedoch alleine ausmachen, da sie nicht alle Ereignisse
enthalten, welche eine spannende Handlung ordnet.
Demnach muss
– wie in den anderen nachahmenden {vorstellenden} Künsten {etwa der Genre-Malerei
...} die Einheit der ... [Darstellung] auf der Einheit des [vorgestellten]
Gegenstandes beruht – auch die Fabel {Folgerichtigkeit}, da sie Nachahmung von
Handlung ist {als Verlauf erscheint}, die Nachahmung {Ausgeburt} einer
einzigen, und zwar einer ganzen {Anfang ‒ Mitte ‒ Ende} Handlung sein. S. 29
Nicht allein Charaktere geben einer
Geschichte Form und Inhalt, sondern auch, was ihnen zustößt und wie sie darauf
reagieren ‒ zu einem bestimmten Ende.
Denn als ...
[Homer] die „Odyssee“ dichtete, da nahm er nicht alles auf, was sich mit dem
Helden abgespielt hatte, z. B. nicht, dass dieser auf dem Parnass
verwundet worden war oder dass er sich bei der Aushebung wahnsinnig gestellt
hatte, ([denn] es war ... nicht notwendig oder wahrscheinlich, dass, wenn
das eine geschah, auch das andere geschähe) – vielmehr fügte er die „Odyssee“
um eine Handlung {Geschichte} in dem von uns
gemeinten Sinne zusammen, und ähnlich die „Ilias“. S. 27 und 29
Nur die Teile eines Verlaufes werden vorgestellt,
welche sein Ende bedingen.
Ferner müssen
die Teile der Geschehnisse {Geschichte} so zusammengefügt sein, dass sich das
Ganze verändert und durcheinandergerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder
weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann,
ist gar nicht ein Teil des ganzen {„... das Rad gehört nicht zur Maschine,
das man drehen kann, ohne dass Anderes sich mitbewegt.“ L. Wittgensein
Philosophische Untersuchungen 271}. S. 29
Ereignisse, die das
Ende einer Geschichte anbahnen, dürfen in ihrem Verlauf nicht fehlen.
Aus dem
Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters {Drehbuchautors}
ist, mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen
könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder
Notwendigkeit {schlechthin} Mögliche {an Wirklichkeit}. S. 29
Es ist nicht Aufgabe des dramatischen Autors,
etwas Verlaufendes zu beschreiben, sondern gespannt auf dessen Ausgang
zu machen.
Bessere Handlungen sind eingleisig
Die gute
Fabel {Verlaufsform} muss also eher einfach sein als – wie es einige wollen –
zwiefach {mehrsträngig} ... S. 39
Eine gute Geschichte darf nie mehr als
ein Ende haben.
Unter den
einfachen Fabeln und Handlungen {Verläufen} sind die episodischen die
schlechtesten. Ich bezeichne die Fabel {Folgerichtigkeit} als episodisch
{spannungslos}, in der die Episoden {Handlungsschritte} weder nach der
Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit aufeinander folgen {beliebig
sind}. S. 33
Je größer die Rolle des Zufalls in
ihr, desto schwächer die Geschichte.
Die Tragödie {dramatische Geschichte} ist
Nachahmung {Ausgeburt} einer {einzigen} guten {ernst gemeinten} und in sich
geschlossenen Handlung von bestimmter Größe ... S. 19
Eine spannende Geschichte stellt ein
gewisses Ende in den Raum und vollzieht den Weg nach zu dessen Eintreten.
Ihre Handlung ist der Sinn einer Geschichte
Das Fundament
und gewissermaßen die Seele der Tragödie {dramatischen Vorstellung} ist also
der Mythos {Verlauf}. An zweiter Stelle stehen die Charaktere {Begriffe}.
Ähnlich verhält es sich ja auch bei der Malerei. Denn wenn jemand blindlings {unzusammenhängend}
Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu
gefallen, wie wenn er eine klare Umrisszeichnung herstellt. S. 23
Die Spannung einer gelungenen
Geschichte entspringt nicht ihren Charakteren, sondern der inneren Bezogenheit
ihrer Ereignisse auf ein gewisses Ende ‒ wie auch ein gutes Gemälde nicht isoliert
Figuren abbildet, sondern diese in ein Verhältnis setzen muss, um etwas zu
besagen.
Zweck einer Geschichte: ihre Handlung
Daher sind die
Geschehnisse und der Mythos {ihr Möglichsein} das Ziel {der Zweck} der Tragödie;
das Ziel {sinnreiches Geschehen} aber ist das Wichtigste von allem. S. 21
„Du musst wissen, dass es mit allem
auf der Welt ein Ende hat, sobald es gut ist, und dass alles gut ist, sobald es
ein Ende hat. Was kein Ende hat, ist nicht gut, und was gut sein soll, muss ein
Ende nehmen.“ Traum der Roten Kammer
Eine gute Handlung ist organisch
... man
muss die Fabeln {Handlungsläufe} ... so zusammenfügen, dass sie ...
sich auf eine einzige ... Handlung {Geschichte} ... beziehen, damit
diese ‒ in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar ‒ das ihr
eigentümliche Vergnügen {Jammer und Schaudern} bewirken kann. S. 77
Die Nebenhandlungen sind Funktionen
der Haupthandlung und bedingen mit das Ende, auf welches sie einen gespannt
macht.
Ferner ist
das Schöne bei einem Lebewesen und bei jedem Gegenstand {Verlauf}, der aus
etwas zusammengesetzt ist, nicht nur dadurch bedingt, dass die Teile in
bestimmter Weise angeordnet sind; es muss vielmehr auch eine bestimmte Größe
haben. Das Schöne beruht nämlich auf der Größe und der Anordnung S. 25
Ein Spielfilm sollte mindestens 70
Minuten lang sein ...
Die Genres des Aristoteles
Es gibt vier
Arten von Tragödien
{dramatischen Geschichten} ... Die eine ist die komplizierte {erwartungsverändernde}
Auffassung, die ganz und gar aus Peripetie {Überraschung} und Wiedererkennung {Nachvollzug} besteht; die zweite ist
die von schwerem Leid erfüllte ...; die dritte ist diejenige, die einen
Charakter {Stil} darstellt ...; an vierter Stelle stehen [spektakuläre]
Stücke {die durch special effects wirken} ... S. 57
Die Fabeln {Verläufe}
sind teils einfach {überraschungsfrei}, teils kompliziert {mit „Aha“-Effekt}.
Denn die Handlungen {Ereignisfolgen}, deren Nachahmung {Ausgeburt} die Fabeln {Strukturen}
sind, sind schon von sich aus so beschaffen. Ich bezeichne die Handlung {Ereignisfolge}
als einfach {überraschungsfrei}, die in dem angegebenen Sinne in sich
zusammenhängt [,] ... eine Einheit bildet und deren Wende {Finale}
sich ohne Peripetie {Überraschung} oder Wiedererkennung {„Aha“-Erlebnis}
vollzieht, und diejenige als kompliziert, deren Wende mit einer Wiedererkennung
oder Peripetie oder beidem verbunden ist. {Plots are
either simple or complex, for the actions in real life, of which the plots are
an imitation, obviously show a similar distinction. An action which is one and
continuous in the sense above defined, I call simple, when the change of
fortune takes place without Reversal of the Situation and without Discovery;
and complex when it involves one or the other, or both.} S. 33
Das Ende, welches eine spannende
Handlung verspricht, kann überraschend sein; man hat es dann zwar erahnt, jedoch
nicht in dieser Weise, welche die Erwartung zugleich erfüllt
und übertrifft.
Man sollte
nach Möglichkeit alle Teile {Handlungsmuster} einzubeziehen versuchen, jedenfalls
aber die wichtigsten und meisten, vor allem im Hinblick darauf, wie man jetzt
den Dichtern am Zeuge flickt. Denn es hat für jeden Teil {Fall} vorzügliche
Dichter gegeben, und da verlangt man nun, dass ein einzelner Dichter den
besonderen Vorzug eines jeden Vorgängers übertrifft. S. 57 f.
Genres mixen!
Das Epos unterscheidet sich von der
Tragödie S. 81
Denn es ist
möglich, ... dieselben Gegenstände {Verläufe} nachzuahmen {vorzustellen},
hierbei jedoch entweder zu berichten {nachzuerzählen} – in der Rolle {aus der
Sicht} eines anderen {integrierten Erzählers}, wie Homer dichtet, oder so, dass
man unwandelbar als derselbe {Autor} spricht – oder alle Figuren als handelnde
und in Tätigkeit befindliche {dramatisch} auftreten zu lassen. S. 9
Man kann Geschichten aus Sicht eines
allmächtigen Autors oder durch das unmittelbare Erleben einer
Identifikationsfigur erzählen.
[Das Epos
unterscheidet sich von der Tragödie] in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit
innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber
hinauszugehen. S. 17
Was nicht als Serie erzählt wird,
trägt sich in wenigen Stunden zu.
... das
Ungereimte, die Hauptquelle des Wunderbaren, passt besser zum Epos, weil man
den Handelnden {das Erzählte Darstellenden} nicht {unmittelbar} vor Augen hat.
So würden die Begleitumstände der Verfolgung Hektors {Ilias 22, 131 ff.}
auf der Bühne {Leinwand} lächerlich wirken: die Griechen stehen da und
beteiligen sich nicht ...; Achilleus ... [stoppte] sie durch
Kopfschütteln. Im Epos {einem Wortgemälde} hingegen bemerkt man solche Dinge
nicht. S. 83
Ungereimtheiten in der Handlung werden
geglaubt, sobald sie uns durch einen Kommentator vermittelt werden.
Was die
erzählende {spannungslose, daher epische} ... Dichtung angeht, so ist Folgendes
klar: man muss [ihre] ... Fabeln {Verläufe}
wie in den Tragödien so zusammenfügen {auf ein gewisses Ende ausrichten}, dass
sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene
Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und
Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen {„Jammer
und Schaudern“} bewirken kann. Außerdem darf die Zusammensetzung nicht der von
{wirklich Geschehenem beschreibenden} Geschichtswerken gleichen; denn dort wird
notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter
Zeitabschnitt dargestellt, d. h., alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit
mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem
rein zufälligen Verhältnis stehen. Denn wie die Seeschlacht bei Salamis und die
Schlacht der Karthager auf Sizilien um dieselbe Zeit stattfanden, ohne doch auf
dasselbe Ziel gerichtet zu sein, so folgt auch in unmittelbar aneinander
anschließenden Zeitabschnitten oft genug ein Ereignis auf das andere, ohne dass
sich ein einheitliches Ziel {implizites Ende} daraus ergäbe. Und beinahe die
Mehrzahl der Dichter geht in dieser Weise vor {ignores the distinction zwischen
Dokumentar- und Spielfilm}. S. 77
Historischen Ereignissen entspringt eine
dramatische Geschichte nicht, weil diese sich dann und dann parallel zu anderen
zugetragen haben, sondern indem sie auf ein bestimmtes Ende hin ausgerichtet
sind oder werden.
Daher kann
Homer ... im Vergleich zu den anderen Epikern als göttlich gelten: er hat
sich gehütet, den ganzen Krieg darzustellen, obwohl dieses Geschehen einen
Anfang und ein Ende hatte. Die Handlung wäre dann nämlich allzu umfangreich und
somit unübersichtlich geworden, oder sie wäre, wenn sie hinsichtlich der
Ausdehnung das richtige Maß gewahrt hätte, wegen ihrer Mannigfaltigkeit
überkompliziert ausgefallen. Er hat sich daher einen einzigen Teil vorgenommen
und die anderen Ereignisse in zahlreichen Episoden behandelt, wie im
Schiffskatalog und den übrigen Episoden, durch die er seine Dichtung
auseinanderzieht. Bei den anderen Epikern dagegen geht es um einen einzigen
Helden oder um einen einzigen Zeitabschnitt, oder auch um eine einzige
Handlung, die indes aus vielen Teilen {Strängen} besteht. S. 77 f.
Homer ist deswegen ein begnadeter
Erzähler, weil er in der Ilias den gesamten Trojanischen Krieg nicht durch
die Beschreibung seines jahrelangen Verlaufs, sondern vermittels einer
spannenden Episode wiedergibt.
Logik des Horrorfilms
... denn
auch von den zufälligen Ereignissen wirken diejenigen am wunderbarsten, die
sich nach einer Absicht vollzogen zu haben scheinen – wie es bei der
Mitys-Statue in Argos der Fall war, die den Mörder des Mitys tötete, indem sie
auf ihn stürzte, während er sie betrachtete; solche Dinge scheinen sich ja
nicht blindlings zu ereignen {Ereignisse, die sich normalerweise nicht
verursachen, rufen gerade dann den Eindruck des Wunderbaren hervor, wenn sie
kausal miteinander verknüpft zu sein scheinen}. S. 33
Ereignisse, die nicht ursächlich
auseinander hervorgehen, wähnt der Rezipient einer dramatischen Geschichte keineswegs
unverbunden, sondern auf unerklärliche Weise zusammengehörig.
Der Schwerpunkt einer Handlung: etwas Schreckliches, das dem Helden zustößt oder un|mittelbar von ihm verursacht wird
Dies sind
zwei Teile der Fabel {Verlaufsordnung}: die Peripetie {Überraschung} und die
Wiedererkennung {der Ursachen}; ein dritter ist das schwere Leid {die
Katastrophe} ..., ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen, wie z. B.
Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und [schwere
sittliche Unfälle]. S. 37
Was im wirklichen Leben Schmerz
auslöst, wird goutiert in seiner Vorstellung.
Notwendigerweise
gehen derartige Handlungen {Taten} entweder unter einander Nahestehenden oder
unter Feinden oder unter Personen vor sich, die keines von beiden sind. Wenn
nun ein Feind einem Feind etwas Derartiges antut, dann ruft er keinerlei Jammer
{Herzzerreißen} hervor, weder wenn er die Tat ausführt noch wenn er sie
auszuführen beabsichtigt – abgesehen von dem {bang vorweggenommenen} schweren
Leid als solchem. Dasselbe gilt für Personen, die einander nicht nahe stehen,
ohne miteinander verfeindet zu sein. Sooft sich aber das schwere Leid innerhalb
von Naheverhältnissen ereignet (z. B.: ein Bruder steht gegen den Bruder
oder ein Sohn gegen den Vater oder eine Mutter gegen den Sohn oder ein Sohn
gegen die Mutter; der eine tötet den anderen oder er beabsichtigt, ihn zu
töten, oder er tut ihm etwas anderes Derartiges an) – nach diesen Fällen muss
man Ausschau halten. S. 43
Je besser sich die Parteien eines
Konfliktes kennen, desto dramatischer mutet er an ‒ am dramatischsten unter
Blutsverwandten.
Was das Publikum erleben möchte
... die
Zusammensetzung einer möglichst guten Tragödie [sollte immer] ...
Schauererregendes {Fluchtauslösendes} und Jammervolles {Herzzerreißendes}
nachahmen {darstellen}. ...[Jammer] {Rührung} stellt sich... [angesichts eines
Helden] ein, der sein Unglück nicht verdient, ... [Schaudern] bei dem, der
dem Zuschauer ähnelt, der Jammer {das Wehgeschrei} bei dem unverdient
{Sympathie erweckenden} Leidenden, der Schauder bei dem [uns] Ähnlichen {dessen
Fluchtimpuls wir selbst empfinden} ... [Wobei der Umschlag ins Unglück]
nicht wegen einer Schlechtigkeit und Gemeinheit {böser Neigung} ...,
sondern wegen eines Fehlers {einer Leidenschaft oder Beschränkung, falschen
Einschätzung von Verhältnissen infolge mangelnder Einsicht} [erlebt werden
muss]. S. 39
Diejenigen dramatischen Figuren packen
uns am meisten, die uns gesellschaftlich sowie charakterlich ähneln und sich dabei
unwissentlich eine Grube graben.
(Erreger von
Jammer und Schaudern in Aristoteles‘ Nikomachische
Ethik: Tod, körperliche Versehrung oder
Misshandlung, Alter, Krankheit, Nahrungsmangel, Vereinsamung, Hässlichkeit,
Schwäche, Verkrüppelung, Enttäuschung freudiger Erwartung. Wenn sich etwas
Gutes zu spät erfüllt. Wenn einem nie etwas Gutes widerfährt. Wenn einem etwas
Gutes zuteilwird, das man nicht [mehr] genießen kann {ersehnte Voraussetzung
stellt sich ein, nachdem man ihre Auswirkung verunmöglicht hat, z. B.
trifft Rettung ein, nachdem man das zu Rettende bereits geopfert hat}.)
Mag der Zuschauer sich auch nicht allzeit in die
dargestellten Verhältnisse einer Geschichte finden ‒ immer vertraut und
mitreißend sind für ihn Machtfragen.
Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung {Darstellung}
von Menschen {Gewohnheiten}, sondern von Handlung[en] {Ereignissen} und
Lebenswirklichkeit {sich kreuzenden Leidenschaften}. S. 21
Nicht menschliche Eigenarten
oder Gewohnheiten interessieren den Zuschauer, sondern deren Erschütterung.
Richtige Länge
[Es] gilt,
dass eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie
ist, vorausgesetzt, dass sie fasslich bleibt. Um eine allgemeine Regel
aufzustellen: die Größe, die erforderlich ist, mit Hilfe der nach der Wahrscheinlichkeit
oder der Notwendigkeit aufeinander folgenden Ereignisse einen Umschlag vom
Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück herbeizuführen, diese Größe ist
die richtige Begrenzung. S. 27
Eine Handlung muss lange genug sein,
um ein ‒ möglich noch überraschendes ‒ Ende zu bedingen.
... Glück
und Unglück beruhen auf Handlung {dem Lauf der Dinge}, und das Lebensziel {sein
Sinn} ist eine Art Handlung {Fortschreiten}, keine bestimmte {gleich bleibende}
Beschaffenheit. Die Menschen ... [sind erst] infolge ihrer Handlungen {Schritte} ...
glücklich oder nicht. S. 21
Bedeutung schafft nur der Wille.
Bewirkung des Gegenteils des Beabsichtigten
... die
Dinge, mit denen die Tragödie den Zuschauer am meisten ergreift, [sind]
Bestandteile des Mythos {Potentials}, nämlich die Peripetien {Überraschungen}
und die Wiedererkennung {von verdeckten Zusammenhängen}. S. 23
Was uns mehr mitnimmt als die
Darstellung von Gewohnheiten und innerer Artung, sind der plötzliche
Richtungswechsel im vorgestellten Lauf der Ereignisse sowie seine rückblickende
Erklärung.
Peripetie
{Umschlag dessen, womit gerechnet wird, ins Gegenteil} und Wiedererkennung
{Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis wirkender Ursachen, in deren Folge
Freundschaft oder Feindschaft eintreten} müssen sich aus der Zusammensetzung
der Fabel selbst {the structure of the Plot itself [the main action]}
ergeben, d. h., sie müssen mit Notwendigkeit oder nach der
Wahrscheinlichkeit aus den früheren Ereignissen hervorgehen. Es macht nämlich
einen großen Unterschied, ob ein Ereignis infolge eines anderen eintritt oder
nur [zufällig] nach einem anderen. S. 35
Eine überraschende Wendung muss in den
ihr vorausgehenden Ereignissen angelegt sein und diesen entspringen.
(K)eine Überraschung
Die beste
unter allen Wiedererkennungen {Nachvollzügen} ist diejenige, die sich aus den
Geschehnissen {der Verknüpfung} selbst ergibt, indem die Überraschung aus
Wahrscheinlichem hervorgeht {sich beim zweiten Hinsehen auflöst}. S. 53
Das Verblüffende einer guten Überraschung
sollte beim zweiten Hinsehen verfliegen.
Wenn Zufälliges auf die Vorgeschichte beschränkt bleibt, wird seine dramatische Wirkung nicht beirren, sondern beeindrucken.
Vielmehr darf
man den Eingriff eines Gottes {des [glücklichen] Zufalls} nur bei dem
verwenden, was außerhalb der Bühnenhandlung {Leinwand} liegt oder was sich vor
ihr ereignet hat und was ein Mensch nicht wissen kann, oder was sich nach ihr
ereignen wird und was der Vorhersage und Ankündigung bedarf – den Göttern
schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu überblicken. In den [unmittelbaren]
Geschehnissen darf [deswegen] nicht Ungereimtes enthalten sein, allenfalls
außerhalb der Tragödie.
S. 49
Zufall oder Fügung dürfen nur die
Vorgeschichte beeinflussen oder jenseits des dramatischen Endes eine Rolle
spielen.
Nun kann das
Schauderhafte {Schreckliche} und Jammervolle {Rührende} durch die Inszenierung
{Anschauung}, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse
selbst bedingt sein {aroused by the very structure and incidents of the play},
was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. S. 41
Das nachhaltigste Entsetzen stiftet
ein dramatischer Verlauf in der Vorstellung des Zuschauers, ohne es darüber
hinaus anschaulich zu machen.
Die beste
unter allen Wiedererkennungen {Wenden von Unkenntnis zu plötzlicher Kenntnis,
in deren Folge Freundschaft oder Feindschaft eintreten} ist diejenige, die sich
aus den Geschehnissen {dem wohlgeformten plot} selbst ergibt, indem die
Überraschung aus Wahrscheinlichem hervorgeht. S. 53
Was eine Überraschung aus ihrer
Vorgeschichte erklärt, wirkt dadurch in hohem Maße glaubwürdig.
Die Ursachen des Höhepunktes dürfen nicht unsichtbar sein.
Da nun der
Dichter {Drehbuchautor} das Vergnügen bewirken soll, das durch Nachahmung {die
Vorstellung von} Jammer und Schaudern {Empörung und Zurückschrecken infolge
eines Umschlags dessen, womit gerechnet wird, ins Gegenteil, oder von
Unkenntnis in Kenntnis wahrer Ursachen, in deren Folge Freundschaft oder
Feindschaft eintreten} hervorruft, ist offensichtlich, dass diese Wirkungen in
den Geschehnissen selbst enthalten {von ihnen sichtlich verursacht worden} sein
müssen. S. 43
Insbesondere beim Zustandekommen von final
Entsetzlichem darf der Zufall keine Rolle spielen.
Charakter = Moral
Es sind ...
[die Verhaltensmuster], aufgrund deren wir ... [dem menschlichen Tun] eine
bestimmte Beschaffenheit {Bewandtnis} zuschreiben, und infolge ... [ihres
Stils] haben {schaffen sich} alle Menschen Glück und Unglück. {There
are in the natural order of things, therefore, two causes – Character and
Thought – of their actions, and consequently of their success or failure in
their lives.} S. 19
Was dramatischen Figuren zustößt, hat
immer auch mit ihren Angewohnheiten oder Sinnvorstellungen zu tun.
Mit aufgerührten Gefühlen gehen auch andere seelische Lasten ab.
Die Tragödie ist ... [eine] Nachahmung {Ausgeburt},
die Jammer {Wehgeschrei} und Schaudern {Mitleid} hervorruft und hierdurch eine
Reinigung {Befreiung vom Übermaß} ... derartige[r] Erregungszuständen
bewirkt. S. 19
Dramatische Geschichten machen in
erster Linie nicht klüger, sondern erleichtern den Zuschauer.
Handlungen deuten Ideen.
Daher ist
Dichtung {Spielfilm} etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung
{Dokumentarfilm}; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die
Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin,
dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder
Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung,
obwohl sie den Personen Eigennamen {statt Kennzeichnungen wie z. B. „Held“,
„Freund“, „Widersacher“ ...} gibt. S. 29-31
Fiktionale Geschichten sind
holzschnittartiger als wirkliche, da sie nur eine Möglichkeit verdeutlichen.
Die
{fiktionalen} Stoffe ... soll man ... zunächst im Allgemeinen skizzieren und
dann erst szenisch ausarbeiten und zur vollen Länge entwickeln. S. 55
Das Wesentliche einer Fiktion tritt
nicht in der Ausarbeitung, sondern ihrem Entwurf hervor.
Die wirkungsvollste Beschaffenheit der Hauptfigur
[Eine bessere
Geschichte] darf nicht vom Unglück ins Glück, sondern sie muss vielmehr vom
Glück ins Unglück umschlagen, nicht wegen der Gemeinheit {von Welt oder
Mitmenschen}, sondern wegen eines großen Fehlers {einer Leidenschaft oder
Beschränkung} entweder eines Mannes, wie er genannt wurde {von etwas über den
Durchschnitt hinausragendem sittlichen Niveau}, oder eines besseren oder
schlechteren. S. 41
Die Geschichten nehmen den Zuschauer
am meisten mit, in denen sich ein ihm ähnlicher Durchschnittscharakter, der es
nicht verdient, behände das eigene Grab schaufelt.
1. Man darf
nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück
erleben; dies nämlich ist weder schauererregend {Angst machend} noch jammervoll
{herzzerreißend}, sondern abscheulich {unrein}.
Je unschuldiger ein dramatischer
Charakter ist, desto weniger verkraften wir seinen Untergang (überhaupt nicht
mehr bei kleinen Kindern).
2. Man darf
auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben;
dies ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen
Qualitäten hat: sie ist weder menschenfreundlich {sittliches Niveau und
Glücksumstände in Übereinstimmung zeigend} noch jammervoll, noch
schauererregend.
Erfolgreiche Nichtskönner wirken
langweilig.
3. Andererseits
darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins
Unglück erlebt. Eine solche Zusammenfügung enthielte zwar
Menschenfreundlichkeit {poetische Gerechtigkeit}, aber weder Jammer noch
Schaudern {nichts Herzzerreißendes und auch nichts, das man für sich selbst
befürchten müsste}. Denn
[Jammer] ... stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht verdient,
[Schaudern] ... bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer ...
[angesichts des] unverdient Leidenden, der Schauder [angesichts] ... dem
[uns] Ähnlichen {zur selben Zielgruppe wie der Zuschauer Gehörenden}. S. 39
Auch wenn Halunken plötzlich Pech
haben, nimmt uns das weniger mit.
Jammer, Schaudern und Reinigung entspringen nicht neuen, unerhörten Tatsachen, sondern der Aktualisierung von etwas, dessen man bereits inne ist.
Wenn man
indes den dargestellten Gegenstand {Lauf} noch nie erblickt hat, dann bereitet
das Werk nicht als Nachahmung {Vorstellung} Vergnügen ... S. 13
Die Überraschung gen Ende darf sich
nicht dem völlig Unbekannten verdanken.
Der sittlich mittlere Charakter
Eine Person
hat einen Charakter {Stil}, [indem] ... ihre Worte oder Handlungen
bestimmte Neigungen erkennen lassen; ihr Charakter {Vormarsch} ist tüchtig
{anständig}, wenn ihre Neigungen {Ansinnen} tüchtig sind. S. 47
Im Trachten eines Charakters liegt
sein Wesen.
So bleibt
[als idealer] ... Held übrig, ... [wer] zwischen den genannten
Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner
sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch
nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück
erlebt, sondern wegen eines Fehlers {einer menschlichen oder intellektuellen
Schwäche}. S. 39
Der dramatischer
Charakter soll nicht ungeachtet seines großen Talentes oder infolge seiner
Unfähigkeit untergehen, sondern weil ihm ein tragischer Fehler unterläuft.
[Geschichten
ahmen] handelnde Menschen {sich kreuzende Willensbahnen} nach. Diese sind
notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere {Gewohnheiten}
fallen stets unter diese beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich
nämlich, was ihren Charakter {Stil} betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte.
Demzufolge werden {moralisch} Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder
schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir. S. 7
Dramatische Charaktere könnten intensiver
oder lascher sein als der Zuschauer oder diesem ungefähr gleichen.
Charaktere schaffen die innere Teilnahme an einer Geschichte.
... und
es wird von Handelnden {Menschen} gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres
Charakters {Stils} und ihrer Erkenntnisfähigkeit {Auffassungsgabe} eine bestimmte
[treffliche oder ruchlose] Beschaffenheit haben. (Es sind ja diese
Gegebenheiten {Manieren}, aufgrund derer wir auch den Handlungen eine bestimmte
[rührende] Beschaffenheit zuschreiben ...). S. 19
Der Stil ihre Charaktere tönt die
Handlung einer Geschichte.
Im Geschehen enthaltene Betrachter, die uns die Vergangenheit erklären, die Gegenwart bewerten oder Zukunft voraussagen, steigern das Wahrnehmungserlebnis der Zuschauer, wenn sie zur Handlung gehören.
Den Chor muss
man ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler, und er muss Teil des Ganzen
sein und sich an der Handlung beteiligen... S. 59
Charaktere, die hauptsächlich ihre
Meinung abgeben, müssen doch auch von der Handlung bewegt werden oder diese bewegen.
Was Charaktere lebendig macht
Was
Charaktere {Gesinnungen} betrifft, muss man auf vier Merkmale bedacht sein. Das
erste und wichtigste besteht darin, dass sie [zwischen den Extremen des
Tadellosen und des Schuftes] tüchtig sein sollen. Eine Person hat einen
Charakter {Maßstab}, wenn, wie schon gesagt wurde, ihre Worte und Handlungen
bestimmte Neigungen erkennen lassen; ihr Charakter {Stil} ist tüchtig, wenn
ihre Neigungen tüchtig sind ...
Das zweite
Merkmal ist Angemessenheit {die Zeichnung in typgerechten Linien} ...
Das dritte
Merkmal ist das Ähnliche {menschlich nicht allzu weit vom Niveau des Zuschauers
entfernt Liegende}. Denn dies ist etwas anderes, als den Charakter {die Macht
seiner Gewohnheiten} so zu zeichnen, dass er – in dem soeben beschriebenen
Sinne – tüchtig und angemessen ist.
Das vierte
Merkmal ist das Gleichmäßige. Und wenn jemand, der nachgeahmt werden soll,
ungleichmäßig {widersprüchlich} ist und ein solcher Charakter {eigenartig} gegeben
{eingeführt} ist, dann muss er immerhin auf gleichmäßige Weise ungleichmäßig
sein. S. 47
Charaktere sollen tüchtig sein,
realistisch gezeichnet, dem Zielpublikum ähneln und sich treu bleiben in
unterschiedlichsten Verhältnissen.
Da Tragödie {dramatische Verknüpfung von
Ereignissen} Nachahmung {Vorstellung} von Menschen ist, die besser sind als
wir, muss man ebenso verfahren wie ein guter Porträtmaler. Denn auch diese
geben die individuellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner
ab. So soll auch der Dichter, wenn er jähzornige, leichtsinnige und andere mit
derartigen Charakterfehlern {schlechten Angewohnheiten} behaftete Menschen
nachahmt {hervorbringt}, sie als die, die sie sind, und zugleich als
rechtschaffen {etwas über das sittliche Niveau des Zuschauers herausragend}
darstellen. S. 49
Alle dramatischen
Figuren sollen ‒ ein bisschen ‒ imposanter sein als ihre Betrachter.
Dialog ist besser Teil der Handlung.
Hieraus
ergibt sich, dass sich die Tätigkeit des Dichters {Drehbuchautors} mehr auf die
Fabeln {Anordnung der Ereignisse als Verlauf} erstreckt als auf die Verse
{szenische Ausarbeitung mit Dialogen}: er ist ja in Hinblick auf die Nachahmung
{Schöpfung} Dichter, und das, was er nachahmt {hervorbringt}, sind Handlungen {auseinander
hervorgehende Verläufe}. S. 31
Dialog ist keine Domäne des dramatischen
Autors.
... wenn
jemand Reden {Dialoge} aneinanderreihen wollte, die Charaktere {Meinungen}
darstellen {stiften} und sprachlich wie gedanklich gut gelungen sind, dann wird
er gleichwohl die der Tragödie eigentümliche Wirkung {Jammer und Schaudern
infolge eines menschlichen Fehlers} nicht zustande bringen. Dies ist vielmehr
weit eher bei ... [einer dramatischen Geschichte] der Fall, die in der
genannten Hinsicht {Charakterzeichnung} Schwächen zeigt, jedoch einen Mythos {Sinn},
d. h. eine Zusammenfügung von Geschehnissen, enthält. S. 21 f.
Eine gut funktionierende Geschichte
geht zulasten der Charaktere ‒ und umgekehrt.
Um die
Sprache {szenische Ausarbeitung} muss man sich vor allem in Abschnitten
bemühen, die ohne Handlung {Drama}
sind und weder Charakter {Meinung} noch Gedankliches {Thema} enthalten.
Andererseits verdunkelt eine allzu blendende Sprache {in Dialogen} die
Charaktere {Werte} und Gedankenführung. S. 85
Das Dramatische einer Geschichte ist
nie literarisch.
Zur
Gedankenführung {Vermittlung von richtigen Inhalten} gehört [freilich], was mithilfe
von Worten {in Dialogform} zubereitet {erklärt} werden soll. Teile davon sind
das Beweisen und Widerlegen und [‒ vergleichbar dem, was dramatische Handlungen
tun ‒:] ... Hervorrufen von Erregungszuständen, wie von Jammer und
Schaudern oder Zorn und dergleichen mehr, ferner das Verfahren, einem
Gegenstande {Dasein oder Lauf der Dinge} größere oder geringere Bedeutung zu
verleihen. S. 61
Dramatische Wirkungen werden erreicht
durch Handlung oder Dialoge.
Allerdings
besteht insofern ein Unterschied [zwischen ausgesprochenen Erklärungen und
einer Handlung], als sich die [in beiden Fällen erstrebten] Wirkungen
{Erregungszustände wie Jammer, Schaudern oder Zorn und Dergleichen mehr} bei
Geschehnissen {einer dramatischen Verknüpfung} ohne lenkende {verbale} Hinweise
einstellen müssen, während sie bei allem, was [nach bereits vorliegendem Stoff]
auf [beschreibenden] Worten beruht, vom Redenden hervorgerufen und durch die
Rede {Präsentierung} erzeugt werden müssen. Denn welche Aufgabe hätte der
Redende {Interpret} noch, wenn sich die angemessene Wirkung {Jammer, Schaudern ...}
auch ohne Worte einstellte? S. 61
Dialoge können nur etwas hinzutun, wo
die Handlung bereits wirksam ist.
Wenn Exposé oder Zusammenfassung einen nicht packen, werden es weder das Drehbuch noch der Film danach tun.
Denn die
Handlung muss so zusammengefügt {verknüpft} sein, dass jemand, der nur hört und
nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den [lediglich
gepitschten] Vorfällen Schaudern {Entsetzen} und Jammer {Mitleid} empfindet. S.
41 f.
Bereits als Abriss wird eine
dramatische Handlung, was sie draufhat, restlos vermitteln. Die Ausarbeitung
kann dem nichts mehr hinzutun.
Daher ist die Dichtkunst Sache fantasiebegabter
und leidenschaftlicher Naturen. S. 55
Außerdem soll
man sich die Gesten der Personen {handelnden Figuren} möglichst lebhaft
vorstellen. Am überzeugendsten sind bei gleicher Begabung diejenigen {Autoren},
die sich in Leidenschaft versetzt haben, und der selbst Erregte stellt
Erregung, der selbst Zürnende Zorn am wahrheitsgetreuesten dar. S. 55
Hysteriker eignen sich besser zum
dramatischen Autor als Depressive.
Dramatik wächst nicht mit immer neuen Überraschungen, sondern „musikalisch“ durch Abwandlung desselben Themas.
Die Teile,
die sich aus ... [der] Ausdehnung {einer dramatischen Verknüpfung}
ergeben, d. h. die Abschnitte, in die man sie gliedern kann, sind
folgende: Prolog, Episode, Exodos und Chorpartie ... S. 37
Ein
dramatischer Verlauf zerfällt in unterschiedliche Episoden.
[Die
Tragödie] hatte ursprünglich aus Improvisationen [Wortwechseln zwischen
Anführen von Chören] bestanden (sie selbst und die Komödie: sie selbst vonseiten
derer, die den Dithyrambos {das begeisterte Chorlied}, die Komödie vonseiten
derer, welche die Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im
Schwange sind, anführten) ... S. 15
Der Sinn für Dramatik liegt im
menschlichen Verhalten und Brauchtum.
Der Prolog
{Erzählung der Vorgeschichte} ist der ganze Teil der Tragödie vor dem Einzug
des Chores, eine Episode ein ganzer Teil der ... [Handlung] zwischen
ganzen Chorliedern {vertiefenden Stellungnahmen}, der Exodos der letzte Teil
der ... [Handlung] nach dem letzten Chorlied. Bei den Chorpartien ist der
Parodos der erste ganze Teil, den der Chor vorträgt {die Form, nach der sich
alles Weitere vollziehen wird, mit anderen als den Haupthandlungsinhalten
angebend}, das Stasimon ein Chorlied ohne ... [Tänze], der Kommos ein vom
Chor und vom Solosänger gemeinsam gesungenes Klagelied. S. 37
Jede Episode ist eine Kleinausgabe der
gesamten Handlung.
Die undurchsichtigste Geschichte nimmt einen gefangen in dem Maße, in dem sie einmal wirklich geschehen ist.
Der Grund
ist, dass das [erwiesen] Mögliche auch glaubwürdig ist; nun glauben wir von dem,
was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne Weiteres, dass es [tatsächlich]
möglich sei, während im Fall des wirklich Geschehenen offenkundig ist, dass es
möglich ist. S. 31
Das Mögliche bleibt nur
wahrscheinlich, während uns die Nachempfindung von etwas einmal Geschehenem wie
wahr vorkommt.
Warum Menschen sich im Gegensatz zu Tieren (am liebsten schaurige) Geschichten erzählen
Allgemein
scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar
naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen {Hervorbringen} selbst ist
den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch
unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem
Maße zur Nachahmung {Schöpfung} befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch
Nachahmung {Vorstellung} erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an
Nachahmungen {Ausgeburten} hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache
dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken,
sehen wir mit Freuden möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen
von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.
Ursache ...
[unserer Freude an solchen Darstellungen] ist folgende [...]: Das Lernen
bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern ihn ähnlicher
Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran).
Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern {Darstellungen}, weil
sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei,
z. B., dass diese Gestalt den und den darstelle. S. 11-13
Um zu wissen, wie eine Eiscreme mit
Zwiebel-Leber-Aroma mundet, brauchen wir sie nicht herzustellen, sondern können
die Vorstellung davon „schmecken“. Dieser menschlichen Fähigkeit, Vorgestelltes
wirklich zu erleben, verdankt sich das Geschichtenerzählen.
Was jämmerlich-schauderhaft aussieht, aber nicht weh tut, ist komisch.
Die Komödie
ist, wie wir sagten, Nachahmung {Darstellung} von schlechteren {närrischeren} Menschen
{als wir uns selber dünken}, aber nicht in Hinblick auf jede Art von
Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am [uns abstoßenden]
Hässlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Hässlichkeit
{Abstoßendem} verbundener Fehler, der indes [im genauen Gegensatz zum
tragischen Pathos] keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch
die lächerliche Maske hässlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von
Schmerz. S. 17
In der Komödie identifizieren wir uns
nicht mit dem Helden, weisen ihn innerlich zurück. Lachen zerstört die
Intimität.
[Am]
zweitbeste[n] ... ist ... eine [...] zwiefach zusammengefügte [...]
Fabel {Folgerichtigkeit}, wie die „Odyssee“, ... in der die Guten und die
Schlechten ein entgegengesetztes Ende finden. Sie gilt [bei manchen] als die
beste, weil sie der Schwäche des Publikums entgegenkommt. Denn die Dichter
richten sich nach den Zuschauern und lassen sich von deren Wünschen leiten.
Doch diese Wirkung ist nicht das Vergnügen, auf das die Tragödie zielt; sie ist
vielmehr eher der [lockerer gefügten Launen‑]Komödie eigentümlich. S. 41
Während die dramatische Handlung einen
ergreift, mitreißt und so zu jemand anderem werden lässt, bleibt man durch die Komödie
‒ innerlich unberührt ‒ derselbe. Beide Bedürfnisse befriedigt eine dramatische
Geschichte mit komischer Nebenhandlung.
Was Aristoteles nur mittelbar anspricht
Konflikt
– Charaktere erscheinen dramatisch durch Vorsätze, meist des Helden und des
Widersachers, deren zeitgleiche Verwirklichung sich ausschlösse. Als sich „kreuzende
Leidenschaften oder Berechtigungen“ sind sie die Bestandteile und Bedingungen
eines Konfliktes. Die eine wird dabei nach Aristoteles in der Regel moralische
{menschenfreundliche, bildende}, die andere egoistische {orgiastische,
unterhaltende oder hochmütige} Zwecke verfolgen. Beim inneren Konflikt kämpfen
diese zwei Neigungen in derselben Brust (Held oder Anti-Held will
Unvereinbares, etwa moralisch und
genussfreudig zugleich sein, und muss sich entscheiden). Der innere oder äußere
Konflikt wird vor, während oder nach der finalen Überraschung (dem jähen
Umschlagen vom Glück ins Unglück oder umgekehrt) dadurch entschieden, dass eine
der Neigungen sich auf Kosten der anderen durchsetzt.
Zusammenfassende
Deutung
Die
darstellenden Künste nehmen nach Aristoteles unter den menschlichen
Hervorbringungen eine Zwischenstellung ein: Auf der einen Seite werde mit jedem
Kunstwerk etwas Vergängliches (Veränder-/Datierbares) geschaffen ‒ andererseits
drücke es etwas Wesentliches, also Zeitloses anschaulich aus. Der Künstler
ähnelte insofern mehr einem Philosophen als einem Berichterstatter. Während
Philosophen den Sinn des Sein herausarbeiten, veranschaulichen Künstler
ebendiesen nach Aristoteles in einem erfahrbaren Stück Welt: dem Kunstwerk. In
ihm erscheine somit Wichtigkeit oder Bedeutung schlechthin.
Bedeutungserfahrung
verändere den Menschen, der sie macht. Man denke etwa an die Wirkung von Musik.
„Künstlich“ herbeigeführtes Zumute-Sein ist daher nach Aristoteles der eigentliche
Zweck von Kunst, nicht nur von Musik, sondern z. B. auch von Dichtung.
Erreicht werde es im Fall von Dichtung, indem diese ‒ wie Musik ‒ „Bewegung“
darstelle und so in ihren Wahrnehmer übertrage. Dichterisch wiedergegebene
Bewegung aber ist nach Aristoteles nichts anderes als dramatisch gefügte
(entwickelte) Handlung.
Handlung
sei das Wesen einer Geschichte. Schon ihre Verlaufsform Anfang ‒ Mitte ‒ Ende sei Bewegung (etwas, das sich in der
Zeit vollzieht), darüber hinaus aber – idealerweise – sei dieser Rhythmus
imstande, noch eine weitere Bewegung zu transportieren: mittels eines
Glückswechsels, der den dargestellten Helden schließlich unabsichtlich trifft.
Glück entspringt dabei für Aristoteles nicht (positiv) gesteigertem
Wohlbefinden, sondern (negativ) der Freiheit von Leiden, das einen träfe, wenn
man sich als Urheber einer Tat begriffe, die Menschen, denen man nur Gutes
will, ins Unglück stürzte.
Aristoteles’
Poetik
skizziert, welche Folge von Ereignissen den Zuschauer einer Handlung am
wirkungsvollsten „ansteckt“.
Zunächst
wird dafür romanhafte (epische) Erzählweise unterschieden von dramatischer.
Beide verdanken sich derselben Quelle: der Geschichte.
Vergliche man etwa die Bestandteile einer Handlung mit Noten, wäre deren Potential
oder Thema (Aristoteles‘ „Mythos“) die darin erscheinende Melodie, die ihren
Wahrnehmer ansteckt und mitnimmt (bewegt).
Die
„Melodie“ dramatischen Dichtens erscheint nach Aristoteles einerseits in der
geschlossenen Handlungsbewegung Anfang ‒ Mitte
‒ Ende ‒ darüber hinaus im finalen Glücksumschwung
ihres Helden. Nur so befriedige sie den, der sie wahrnimmt, maximal. Einem
Betrachter aber Lust zu bereiten, darauf kommt es (nach Aristoteles) vor allem
an. Lust besteht im Spüren des Menschen seiner Selbst: seines seelischen (nach
„Lähmungen“ wiederhergestellten) Muskelspiels. Die Aufgabe der dramatischen
Dichtkunst besteht nach Aristoteles daher nicht in Belehrung (Klugmachen),
sondern in der Beseitigung von Verkrampfungen durch das Aufreizen innerer
Bewegung. Letztere verdankt sich dem Erlebnis vorgestellter Abläufe, die, von
einem Autor erschaffen und gegliedert, nichts anderes sind als dramatische
Handlung.
„Jammer
und Schaudern“ sind durch dramatische Handlung erzeugbare Gemütsbewegungen, die
den Zuschauer nach Aristoteles aufrühren, dadurch entkrampfen. Verursacht
werden sie durch eine überraschende Wende vom Glück zum Unglück. Diese Wende
entspricht einer Bewegung: dauerhafte Verhältnisse guten → dauerhafte
Verhältnissen schlechten Inhalts. Um Jammer und Schaudern zu bewirken, muss
diese Bewegung darüber hinaus versehentlich erzeugt worden sein: in einer
Weise, die zwar beabsichtigt hätte sein können, es aber nicht war. Der Urheber
(tragische Held) handelt sich damit etwas ein, das nicht mehr in seiner Macht steht.
Er erfährt sich in der Gewalt von etwas oder jemand Fremdem ‒ was Furcht
einflößt. Das ist aber noch nicht der Witz einer dramatischen Geschichte.
Dieser besteht (nach Aristoteles) im unabsichtlichen Erwirken des Unheils ‒ man
kann es nicht wiedergutmachen: entweder, weil dies unmöglich ist oder in der
Gewalt eines Feindes steht. Der eigentliche Stoff einer mitreißenden Geschichte
ist so der Verursachungszusammenhang (die Mechanik) eines Glückswechsels.
Hauptsache ist dabei nicht die hochdramatische Darstellung des Umschwungs,
sondern, wie Aristoteles nicht müde wird zu betonen, die Ausarbeitungsdarstellung
der ihn herbeiführenden Schritte, der „Verknüpfung“ oder Struktur einer
Handlung. Noch als Opfer der Weiterungen seines Tuns bleibt Aristoteles‘ „tragischer“
Held ein Handelnder. Nicht die Mächte des Schicksal (die Tatsache, dass blind
über einen verfügt würde) verursachen Jammer und Schaudern im Zuschauer,
sondern die Fähigkeit des Menschen, sein Unglück spontan herbeizuführen, selber
Ursache seines Schicksals sein zu können.
Gesteigert
wird die ergreifende Wirkung durch die „komplizierte“ (verflochtene) Handlung.
Während der einfache Geschehensverlauf Erwartungen, die durch die Anlage
bestimmter Verhältnisse geweckt werden, in seinem Fortschreiten tatsächlich
erfüllt (der Actionheld besiegt den Widersacher), verbindet die verflochtene
Geschichte den notwendigen Lauf ihrer Handlungsschritte mit der
Veränderung dessen, was wir erwarten. Die komplizierte Handlung besteht aus
einer ersten Zusammenhangskette, die jählings-notwendig in eine andere, das
Gegenteil verheißende überspringt. Was sich nach und nach zu verwirklichen
schien (anbahnte), schlägt (überraschend) ins Gegenteil dessen um, wozu es ins
Werk gesetzt schien (erzielt z. B. nicht mehr Rettung, sondern Untergang)
und entzieht der ursprünglichen Deutung der Verhältnisse den Boden. Alle
Voraussetzungen müssen entsprechend der neuen Handlungsrichtung umgedacht
werden (der Freund wird zum Feind, Abneigung, die man zu verspüren glaubte, zu
Liebe, Kühnheit entpuppt sich als Kleinmut usw.).
Es findet
eine Erkenntnis statt.
Ihr
entspringen „Jammern und Schaudern“ ‒ durch den Nachvollzug von Vernichtung und
Leid, die sich einer zunächst unscheinbaren Tat verdanken. Alle anderen
Merkmale einer dramatischen Geschichte (Machtkämpfe, Gestaltung oder besondere
Darstellungsweise ...) hält Aristoteles für zweitrangig.
Jammer und
Schaudern, auf die es nach Aristoteles ankommt, lassen sich durch optimierte
Handhabung der dramatischen Elemente steigern.
Etwa der
Held: sein „persönliches Schicksal“ soll den Zuschauer anstecken und, indem
er’s sich zu eigen macht, bewegen (rütteln). Tadellosigkeit des Helden
behindert hier eher das gefühlsmäßige Sich-gleich-Setzen (mit Superman
identifiziert sich nur das kindliche Gemüt), während Verkommenheit den (für
Aristoteles ratsamen) Sturz ins Unglück nicht mehr schockierend-unverdient
genug erscheinen lässt. Furcht und echte Sorge lösen dagegen die jedermann
betreffende Möglichkeit aus, sich das eigene Grab zu schaufeln. Erinnert man
weiter als Aufgabe der Dichtkunst, das Festgefahren-Alltägliche (daher nicht
Hervorragende oder Verkommene, sondern Mittelprächtige) aufzureißen, so liegt
der optimale Held vom Niveau etwas
über dem Durchschnitt. Das Unverdient-Jammervolle seines
Missgeschicks wirkt am stärksten, indem der ihm ähnliche Zuschauer es sich
uneingeschränkt für den eigenen Fall vorstellen kann. Das Aufstachelnde einer
Geschichte entstammt dem Glücksunterschied zwischen Anfang und Ende. Nach
Aristoteles erweist es sich daher als besser, wenn der Held anfangs in eher
beneidenswerten Verhältnissen steht; der Umschwung vom Glück ins Unglück nehme
einen vergleichsweise mehr mit als sein Gegenteil (obwohl auch dies möglich ‒
ein Kennzeichen etwa von Märchen ‒ ist).
Verstärkt
werden Jammer und Schaudern nach Aristoteles, indem sie mehr der Anbahnung des
Entsetzlichen als dessen Darstellung entspringen. Wird etwa das Schaudern
schließlich durch einen Helden in bejammernswerten Umständen vermittelt, hängt
viel von der Kunst des Regisseurs, Schauspielers oder Maskenbildners ab.
Dieselbe Wirkung lässt sich wahrscheinlich besser über die dramatische
Verknüpfung steuern und verstärken. Statt des schauerlichen Schlussbildes
erregen dann die zu ihm führenden Handlungsschritte den Zuschauer in der
gewünschten Weise. Zum Beispiel könnten zunächst unscheinbare Taten, wenn ihre
wahren Folgen erkannt werden, etwas derart Entsetzliches heraufbeschwören, dass
sich einem bereits bei der Vorstellung die Haare sträuben. Am fürchterlichsten
sind nach Aristoteles Verfehlungen zwischen Blutsverwandten. Der Autor möchte
hier Jammer und Schaudern in der Seele des Zuschauers rein durch die
Darstellung des Fehlgriffs oder seines Nachvollzugs erzeugen und das folgende
Unglück sich ganz in der Vorstellung auswachsen lassen. Was nicht mehr
ausbleiben kann, muss deswegen auch nicht mehr gezeigt werden.
Statt nur die
Katastrophe ins Vorstellen zu legen, kann selbst die sie erzwingende Tat ‒
fachmännisch ausgeblendet ‒ den Zuschauer unbändig erregen, indem er nun sie
und ihre entsetzliche Weiterung unausweichlich eintreten sehen und sich
ausmalen muss.
Ein Fehlgriff
kann in der Geschichte (vor unseren Augen) geschehen. Das ist die schlechtere
Möglichkeit. Eindrucksvoller wäre, wenn er ohne Absicht oder Wissen um seine
Folgen am besten in der Vorgeschichte passierte. Jammer und Schaudern würden
dann in der Gegenwart durch eine Überraschung, den schlagartigen Wechsel vom
Irrtum zum Wissen über das vergangene Geschehen, erzeugt. Vollständig durch
erzählerische Mittel aber würden Jammer und Schauern dann produziert, wenn der
Held unwissentlich beinahe etwas Entsetzliches (gegen Blutsverwandte) täte, im
letzten Moment aber die wahren Verhältnisse durchschaut. Das Entsetzen wirkt
hier rein in der Vorstellung des Zuschauers.
Ein anderer
Aspekt, dessen Optimierung die dramatische Wirkung (Jammer und Schaudern)
steigert, sind nach Aristoteles die Charaktere. Um den Zuschauer aufzuwühlen,
muss ein Glücksumschwung irgendwie zugerechnet, auf etwas bezogen sein, das
festlegt, was „gut/Glück“ oder „böse/Unglück“ ist. Träger solcher Wertungen
sind nach Aristoteles die unterschiedlichen Charaktere. Wofür einer steht,
zeige sich in seinen nicht unmittelbar auf die Handlung zielenden Worten und
Taten, in den sich darin manifestierenden Gewohnheiten, Auffassungen oder
Gesinnungen. Der Protagonisten oder Held soll sich z. B. durch
„Tüchtigkeit“ auszeichnen. Er soll lebhaft-strebsam genug sein, um eine
Handlung voranzubringen, darüber hinaus aber nicht idealisiert, „unwahrscheinlich
tüchtig“ sein. Da es nach Aristoteles darauf ankommt, die Zuschauer
aufzurütteln durch Teilhabe an heftiger Bewegung, müssten dramatische
Charaktere oder Verhaltensmuster einer „bewegenden“ Handlung dienen, nicht
umgekehrt. Da Handlung sich am bewegendsten um eine Verfehlung dreht, muss der
davon betroffene Charakter tüchtig sein, sonst würde sein Fall beim Zuschauer
weder Jammer noch Schaudern erregen. Zugleich darf er aber auch nicht so
tüchtig (Alleskönner) sein, dass man sich nicht mehr mit ihm vergleichen kann.
Auch darf er sich, um ein Zuschauergemüt zu bewegen, nicht so weit
„entwickeln“, dass der finale Umschlag vom Glück ins Unglück ihn nicht mehr
trifft, weil seine Maßstäbe sich verändert haben.
Nicht nur
inhaltlich (in Hinblick auf Thema, Story, Charaktere ...), sondern auch
was die Gestaltung oder Sichtbarmachung des Geschehens (Arten seiner Aufführung ...)
betrifft, lässt sich die dramatische Wirkung nach Aristoteles maximieren. Wenn
Romanautoren einen Glücksumschwung darstellen, müssen sie räumliche Veränderungen
oder seelische Bewegung nur beschreiben. Der Dramatiker muss dagegen alles, was
er darstellen will, Inneres wie Äußeres, aus dem Reden und Tun seiner Personen
hervorgehen lassen. Die können in einer Handlung überhaupt nur auftauchen,
indem sie etwas vollbringen (sich nicht nur verhalten, sondern bei der Sache
sind). Deswegen rät Aristoteles dem dramatischen Autor, sich zuerst immer die
Handlung auszudenken. Charaktere möchten danach einen nötigen Schritt zum
Finale bedingen oder wahrscheinlich machen. Ihre Auftritte sollen entsprechend
kurz sein, zielführend. Dramatische Handlung ist im Gegensatz zur
romanhaften gedrängt, ein Ende anbahnend. Die dafür erforderlichen Schritte
müssen nicht einmal alle gezeigt werden. Vor allem die Lösung gehört „vor die
Kamera“, darüber hinaus nur die wichtigsten sie bedingenden Elemente. Die
Geschichte wirkt dabei nach Aristoteles umso „runder“, je mehr sie folgenden
Erzählmustern entspricht:
- kompliziert
– überraschende Erkenntnis,
- einfach
– eingehandeltes Leid,
- Rührend
– bedauerliche Zufälle,
- spektakulär
– Schau(erliches).
Der
vollendete Dramatiker vereint nach Aristoteles diese Spielformen. Sollte es
nicht vollständig gelingen, erfüllt auf jeden Fall die Erwirkung von Jammer und
Schaudern die Zuschauererwartung.
Die „romanhafte“
Entwicklung mehrerer Schicksalsläufe nebeneinander schwächt nach Aristoteles
die dramatische Handlung. Gleiches gilt, wenn mehr als ein Hauptbetroffener
(Held) auftritt. Diesem Mangel könne gegebenenfalls durch ein überraschendes
(kenntniserweiterndes) Ende abgeholfen werden.
Zuletzt
empfiehlt Aristoteles, auch den Chor (beratend-kritische Freunde ...)
handeln zu lassen, indem sein Auftreten nicht ohne Folge auf das bleiben soll,
was danach geschieht.
Da eine
dramatische Geschichte nach Aristoteles anstelle von Besonderem das Allgemeine
(„Ideen“) zum Ausdruck bringt, tritt dessen Grundzug umso deutlicher hervor, je
mehr man sie „eindampft“. Was den Leser eines ausgearbeiteten Drehbuchs oder
Zuschauer des Films danach bewegen soll, muss ihn erst recht als Hörer einer
Schlagzeile oder knappen Inhaltsangabe desselben Stoffes überkommen. In diesem
Sinne fasst Aristoteles selbst die ODYSSEE wie folgt zusammen: „Jemand weilt
viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz
allein; bei ihm zu Hause steht es so, dass Freier seinen Besitz verzehren und
seinem Sohne nachstellen. Er kehrt nach schwerer Bedrängnis zurück und gibt
sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt
selbst unversehrt und vernichtet die Feinde.“ S. 57
DER PATE ‒
Nach einem Mordversuch an seinem Vater tötet der jüngste Sohn, der dem
Mafiageschäft abgeschworen hatte, den Auftraggeber und einen korrupten
Polizisten, um seine Familie zu retten, übernimmt dann deren Geschäfte, tötet
alle Rivalen und steigt bald an die Spitze der Mafia. Dann tötet er Feinde, die
er in seiner Familie hat. Sein Schicksal, neuer Pate zu sein, ist besiegelt.
DER CLUB DER
TOTEN DICHTER – Ein Literaturlehrer inspiriert seine Schüler, ihren Träumen zu
folgen, worauf sie einen „Club der toten Dichter“ gründen. Eine der Jungen
trotzt seinem Vater, fängt an zu schauspielern und bringt sich um, als er stattdessen
in eine Kadettenanstalt soll, was die Entlassung des Lehrers zur Folge hat. Die
Jungen stehen auf ihren Pulten, um ihrem Lehrer Ehre zu erweisen, als er geht.
ROCKY will
mehr als ein kleiner Gauner sein, was er auf vielerlei Arten zu erreichen
versucht. Als ihm angeboten wird, gegen den Weltmeister zu boxen, nimmt er sich
vor, 15 Runden durchzuhalten, um zu beweisen, dass auch er jemand ist. Er
trainiert für den Kampf und hält die 15 Runden durch.
AMERICAN
BEAUTY ‒ Ein Mann mittleren Alters, dessen Frau und Tochter ihn für einen
Versager halten, hat die Lust am Leben verloren. Er vernarrt sich in die 16-jährige
Freundin seiner Tochter, was seine Kündigung, Marihuana-Konsum und
Muskeltraining zur Folge hat. So fällt er seinem homophoben Nachbarn, einem
Oberst und Neo-Nazi, auf. Nachdem er dessen sexuelle Avancen zurückgewiesen
hat, schläft er fast mit der 16-Jährigen, entscheidet sich aber, als er
erfährt, dass sie noch Jungfrau ist, dagegen und gewinnt so seine Würde zurück.
Der Oberst ermordet ihn darauf, und sterbend vollzieht er die reine Schönheit
des Lebens nach.
DER
FRÜHSTÜCKSCLUB ‒ Fünf typische Oberschüler ‒ das Hirn, der Athlet, der
Übergeschnappte, die Prinzessin und die Verwahrloste ‒ müssen nachsitzen. Nach
anfänglicher Spannung und Streit öffnen sie sich einander und entdecken, dass
jeder von ihnen ähnliche Probleme mit den Eltern und Schwierigkeiten hat, dem
Stereotyp zu entsprechen, der von ihnen erwartet wird. Dieser Tag verändert sie
alle, indem er ihre Einsicht herbeiführt, dass sie sich weniger unterscheiden
als sie dachten.
TERMINATOR ‒ Ein
Roboter wird aus der Zukunft in die Gegenwart geschickt, um eine junge Frau zu
töten, weil sie dazu bestimmt ist, den künftigen Retter der Welt zu gebären.
Ein Rebell kommt aus der Zukunft, um sie zu retten, schwängert sie, bevor er
umgebracht wird, und hilft, den Roboter zu zerstören, damit sie ihren Sohn, den
künftigen Retter der Welt, gebären kann.
ROSEMARIES
BABY – Ein frischer Ehemann verständigt sich mit Satanisten, dass für sein
Vorankommen als Schauspieler der Teufel seine Frau im Schlaf begatten darf und
sie sein Kind austrägt. Anschließend versucht die junge Frau, herauszufinden,
warum ihre Schwangerschaft so schwierig ist und was ihre komischen Nachbarn von
ihrer Leibesfrucht wollen, bis sie das Teufelskind gebiert und sich
entscheidet, es zu bemuttern.
GLADIATOR ‒
Ein ausgezeichneter römischer General weigert sich, dem gewaltsam an die Macht
gekommenen neuen Kaiser Ehre zu erweisen, und wird zu Tode verurteilt. Er
entkommt der Hinrichtung, wird zum Sklaven, Gladiatorstar, und kehrt nach Rom
zurück, um den Mord an seiner Familie durch den neuen Kaiser zu rächen. Nachdem
er von ihm letal im Rücken getroffen wurde, tötet er den Kaiser in der Arena,
das Reich mit seinem Tod an den Senat zurückgebend.
Wesen der Tragödie
„Tragisch“
kennzeichnet keine menschliche Erfahrung, sondern eine Literaturform, die
Aischylos und seine unmittelbaren Vorgänger im antiken Athen geschaffen haben;
ihre Theaterstücke hießen Tragödien ‒ nicht wegen ihres besonders „tragischen“
Inhalts, sondern weil ihre Aufführung im Zusammenhang mit „Böcken“ (griech.
tragos) stand. „Tragisch“ ist ein Vorgang daher dann, wenn er nach Art der
Tragödie dargestellt wird.
Eine
griechische Tragödie behandelt menschliches Versagen – im Gegensatz zur Komödie
– mit Erbarmen. Derselbe Inhalt kann gefühlvoll-tragisch oder gnadenlos-komisch
präsentiert werden. Aus komischer Sicht verdankt sich menschliches Scheitern
der Dummheit, für die Tragödie liegt es im unmenschlichen Plan der Schöpfung.
Die Tragödie erspürt und würdigt das im Scheitern übrig bleibende Menschsein.
Leiden, das ein Zuschauer privat verdrängt, da es ihm den Lebensmut rauben
würde, lebt in der Tragödie als universale Größe und fördert so beim Zuschauen
das Erleben, nicht grausam herausgegriffen zu sein, sondern einer Bruderschaft
anzugehören, die einige der größten Helden der Menschheit einschließt. Die
Tragödie ist nicht – wie der Komödie – klug, vermehrt nicht unser Wissen,
sondern vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, in seinem Leiden nicht alleine zu
stehen.
Das zentrale
Element der Tragödie bildet die Katastrophe (auch wenn diese nicht selten
verhindert wird). Die tragische Katastrophe ist nicht, wie im Epos, Episode,
sondern Hauptsache. Sie ist auch nicht Teil der Erziehung des Helden, sondern
ein dunkler Hintergrund dessen, was ihn zuinnerst ausmacht: seines Menschseins.
(Ihr Erbe ist daher auch nicht der Roman, sondern – im Kreisen um ein einziges
ungewöhnliches Ereignis – die Novelle.)
Der tragische
Held ist unverzagt, sein Mut und seine Ausdauer im Leiden heischen Bewunderung,
nicht Gelächter. Man ist, nachdem man eine Tragödie gesehen hat, stolz darauf,
ein Mensch zu sein.
Fast alle
klassischen Tragödien entspringen gewöhnlichen Beziehungen: zwischen Liebenden
oder Eltern und Kindern (außergewöhnliche Beziehungen bieten dem Zuschauer
weniger Erfahrung aus erster Hand). Oft ist „Blindheit“ ein zentrales Motiv:
die Unfähigkeit, diejenigen, die einem am nächsten stehen, als das zu erkennen,
was sie wirklich sind. Häufige Themen sind auch der „Fluch der Tugend“ und
„falsche Gerechtigkeit“. Das größte Übel breitet sich in griechischen Tragödien
weniger durch die Anmaßung des Widersachers aus als durch seine Unerbittlichkeit.
Während die
Komödie (blasiert) behauptet, dass Übel und Unergiebigkeit in der Welt auf
Wissensmangel und menschliche Entartung zurückgehen, stellt die Tragödie
(jammernd) den Menschen in einer Welt vor, an der er scheitern muss.
Während der
griechische Tragödienheld keine Entwicklung durchmacht, durch starr-mutiges
Festhalten an seinem Weg Bewunderung erzwingt, bekämpfen sich in der Seele des
modernen Helden gleichwertige Neigungen. Sein Untergang verursacht dann die
Einseitigkeit: die Entscheidung für das eine um des anderen willen. Der
Shakespeare‘sche Held schlägt, nicht mehr, weil er muss, sondern aus freien
Stücken, eine Richtung ein, die er dann ‒ wohl oder übel ‒ durchhält.
Shakespeares Tragödien zeigen, wie eine Leidenschaft geweckt wird und sich
entfaltet, den Fortgang einer großen Seele, die sich selbst zerstört im Kampf
mit Umständen, Verhältnissen und ihren Folgen. Shakespeares Figuren bestricken
durch Lebendigkeit, Fantasie, Witz, Innigkeit und Empfindungsgabe. Aus freien
Stücken handelnd, betrachten und deuten sie sich selbst fast wie ein Künstler
sein Werk. Ihr Scheitern wird schließlich nicht alleine von unglücklichen
Umständen oder äußeren Zufälligkeiten verursacht; diese kommen vielmehr immer
auch mit durch das zustande, wogegen und wofür der Held sich einmal entschieden
hatte. Seine Absichten mögen dabei besser gewesen sein als seine Werke; nur für
Letztere kann er schließlich aber die Verantwortung übernehmen. Wodurch er
dann, etwa im Falle Macbeths, nicht etwa „Rache an sich selbst“ nimmt, sondern
einsteht für das, was er sich eingehandelt hat. („Dass man gegen seine
Handlungen keine Feigheit begeht!“ kommentiert Nietzsche in Götzendämmerung
I,10, „dass man sie nicht hintendrein im Stich lässt! – Der Gewissensbiss ist
unanständig.“)
Der tragische
Held akzeptiert die Welt so, wie sie mit ihm geworden ist, einschließlich des
Leids, das sie verursacht.
Dante nannte
sein christliches Versepos „Göttliche
Komödie“, da es den
Weg zum rechten Tun und Sein zeigt, dessen Folgen zwangsläufig angenehm und
lohnend sind. Platonisch-christlich inspirierte Ethik ist mit der Tragödie
unvereinbar, weil Tugend im Diesseits, auch wenn sie scheitert, im Jenseits
immer belohnt wird. Das Leiden im Diesseits dauert nicht ewig und bedeutet
daher nichts. Die Qualen in der Hölle sind nicht tragisch, da sie verdient
sind. Das Christentum kennt insofern keine Würdigung des Menschen im Scheitern;
es fehlt die Möglichkeit, ihn größer zu erleben als die Mehrzahl jener, die
nicht scheitern. Es ist eine Sünde, die Verdammten zu bewundern. Selbst Christi
Leiden sind nicht tragisch, da sie etwas Sinnvolles bewirken. Hier liegen die
Ursprünge des Melodrams: Leiden als Vorform der Erlösung.