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WIE WITTGENSTEIN UNS HELFEN KANN, DIE HERAUSFORDERUG DES AUSLÄNDISCHEN ZU VERSTEHEN


Ich bin in meinem Leben in vielen Teilen der Welt gewesen. Eigentlich fast überall außer Lateinamerika. Je mehr ich herum kam, desto mehr fielen mir die Deutschen auf. Egal, wo man hinkommt, es gibt immer einen Deutschen, der dorthin ausgewandert ist. Und er hat fast immer einen an der Waffel. Wenn er gerade erst angekommen ist, idealisiert er seine neue Heimat und macht Deutschland herunter. War er länger im Ausland, verhält es sich genau andersherum.

Wer zwei Frauen liebt, verliert sie Seele, sagt der französische Volksmund, wer in zwei Häusern lebt, verliert den Verstand.

Wie dieser Verlust des Verstandes vor sich geht, gehen muss, erhellt aus den Beobachtungen Ludwig Wittgensteins zum Wesen des Gemütes.

Unser Denken vollzieht sich in einem Netzwerk von Begriffen, denen gemäß wir die Wirklichkeit auffassen und handhaben. Die meisten Philosophen kommen nicht über diese Beobachtung hinaus - stellen Bewusstsein und Wirklichkeit einander gegenüber, ohne auseinander setzen zu wollen, wie die beiden aufeinander bezogen sind. Die Begriffe, welche alles bedeuten, werden selber nicht weiter erklärt, sondern hingenommen als etwas geistig Gegebenes.

Hier setzt Wittgensteins grundsätzlicher Gedanke an: zum Wesen des Begriffs, das er im von ihm sog. Sprachspiel ausmacht.

Was Wittgenstein mit Sprachspiel markieren möchte, heißt später bei Luhmann Kommunikation und wird ursprünglich dargestellt durch den Blickwechsel Mutter-Baby. Denn offenbar geht etwas Bedeutendes vor zwischen den beiden. Ihre Gegenseitigkeit hat Witz. Hier lokalisiert Wittgenstein den Ursprung von Begreifen und Bewusstsein, dessen später noch so vielschichtige und verflochtene Erscheinungen doch immer den sinnstiftenden Grundzug des zwischenmenschlich Antwortenden haben.

Wenn ich denke, befindet sich mit anderen Worten immer jemand anderes in meinem Kopf, auf den ich antworte, und der mir antwortet.

Das Sprachspiel, in dem sich Menschen, Alltag und Sprache gegenseitig bedingen, wird in Wittgensteins Spätphilosophie zum Ursprung der Bedeutung. 

Die Verstandestätigkeit entspringt hiermit zum ersten Mal im westlichen Denken nicht der Gegenüberstellung von Einzelnem und Gegenstand, welche der Philosoph versucht, aufeinander zu beziehen. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen beginnen mit etwas, was sich bis dahin niemand als Startpunkt vorstellen konnte, und es fällt, wenn man das Werk zum ersten Mal liest, schwer, Verständnis für etwas zu entwickeln, das so offensichtlich zusammengesetzt ist wie das Sprachspiel, als Keimzelle der Besinnlichkeit.

Doch Wittgensteins Genie besteht genau in diesem Erkennen der dreifachen Wechselbeziehung – von Menschen, Umgebung und Sprache – als Ureinheit der Bedeutung. Dadurch erfüllt er den Traum eines jeden Philosophen, endlich hinauszukommen über das Subjekt-Objekt-Schema als Startpunkt des Denkens, ohne dabei doppeldeutig werden zu müssen. Wie es möglich sein könnte, Bedeutung schlechthin zu besichtigen, noch bevor der einzelne Mensch einer Welt gegenübertritt, darauf war vor Wittgenstein noch niemand gekommen.

Was er unter „Sprachspiel“ versteht, veranschaulicht Wittgenstein ab dem zweiten Paragrafen seiner Philosophischen Untersuchungen: „Denken wir uns eine Sprache […]. Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ‚Würfel‘, ‚Säule‘, ‚Platte‘, ‚Balken‘. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.“

Am wichtigsten hier: die „Vollständigkeit“, welche „aufzufassen“ einem geraten wird. „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen“, fügt Wittgenstein erklärend hinzu. „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“

Weitere Sprachspiele, welche Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen anführt, sind nicht immer der Wirklichkeit entnommen, sondern manchmal als „Vergleichsobjekte“ erfunden worden, um die Aufmerksamkeit auf wichtige Merkmale zu lenken. Als existierende Sprachspiele zitiert er: 

• Befehlen und nach Befehlen handeln
• Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen oder nach Messungen
• Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung)
• Berichten eines Hergangs
• Über den Hergang Vermutungen anstellen
• Eine Hypothese aufstellen und prüfen
• Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme
• Eine Geschichte erfinden und lesen
• Theater spielen
• Reigen singen
• Rätselraten
• Einen Witz machen, erzählen
• Ein angewandtes Rechenexempel lösen
• Aus einer Sprache in die andere übersetzen
• Bitten, danken, fluchen, grüßen, beten

Es hilft, sich vorzustellen, die hier aufgelisteten Sprachspiele seien gerade erst entstanden, spontan in die Welt getreten vor Millionen Jahren, um zu erkennen, dass in ihnen die Keimzelle von zum Beispiel Physik, Architektur, Geschichte, Theoriebildung oder Humor liegt.

Wie viele Sprachspiele gibt es?

Unendlich viele – neue kommen ständig in die Welt, alte verblassen.

Sprachspiele als Teil einer Kultur sind Erweiterungen einer noch primitiveren organischen Entwicklung, welche Wittgenstein als die Naturgeschichte der Menschen beschreibt: „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.“ Nicht alle Sprachen verwenden Wörter, einige bestehen aus Nummern – oder Gesten – oder Tönen. Auch Bienen, Ameisen, Vögel oder Schimpansen haben ihre jeweilige Sprache. Die menschliche Wortsprache aber ist Teil der menschlichen Naturgeschichte, welche deswegen nicht etwa erklärt, warum wir sprechen, sondern diesen Entwicklungsschritt eben mit sich bringt.

Von großer Bedeutung ist schließlich noch die Beziehung zwischen Sprachspiel und Lebensform, Wittgensteins Bezeichnung für das Unbewusste, in Form des Alltags.

„Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen“, schreibt Wittgenstein dazu in den Philosophischen Untersuchungen, „die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzählige Andere [sic!]. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich [einen Alltag] […] vorstellen.“

Zu einer Sprache, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht, gehört dann zum Beispiel der Alltag „Krieg“. Besteht eine Sprache nur aus Fragen und einem Ausdruck der Bejahung oder der Verneinung, ist sie im Alltag „Gerichtsverfahren“ anzusiedeln.

Ein Alltag besteht aus sich wiederholenden Aktivitäten, egal, ob sie nun kultureller oder biologischer Natur sind. Sich einen menschlichen Alltag vorzustellen, heißt, sich eine Sprache – wohlgemerkt noch kein Sprachspiel – vorzustellen: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll […] hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder […] [eines Alltags] […].“

Dass sich der menschliche Alltag aus etwas sich Wiederholendem zusammensetzt, beinhaltet unter anderem, dass gesprochen wird – also Sprachspiele stattfinden.

Der Alltag kann nun beispielsweise jener der Geschäftswelt sein; eines seiner Sprachspiele wäre dann die Werbung. Er könnte auch im Bereich der Therapie verortet sein; in dem Fall wäre ein Sprachspiel die Psychoanalyse. Im Alltag der Wahrsagerei bestünde ein Sprachspiel im Handlesen, in einer Welt, die sich nur ums Glücksspiel dreht, hieße ein zugehöriges Sprachspiel Lotto, usw.

Ich komme auf meine einleitende Wahrnehmung zurück: wie deutsche Auswanderer nach meiner Beobachtung nicht selten einen "an der Waffel" - also Bewusstseinsprobleme - zu haben scheinen. Denn wenn unser Bewusstsein eine Funktion der Umgebung ist, in welcher es sich ausbildete, kommt es in Schwierigkeiten, je mehr Umgebungs-Antworten abweichen von denen, die ein Bewußtsein ursprünglich zu Wege brachten.

In einem fremden Kulturkreis lauert immer die Gefahr des Nervenzusammenbruchs für solche Personen, deren Begriffswelt und daher innere Gesetztheit sich anderen Zusammenhängen verdankt.

Freilich gibt es beweglichere Gemüter, die Fremdsprachengenies, die sich vergrößern mit dem Aufenthalte in unterschiedlichen Kulturen, dadurch aber nicht selten auch an Unförmigkeit gewinnen. Ich erinnere mich an einen jungen Mann in Bangkok, der ständig - mitten im Satz - von einer Sprache in die andere wechselte und dadurch mehr Verwirrung signalisierte als Weltgewandtheit. Es ist auch bekannt, dass Diplomaten nur mit Schwierigkeiten einen Altersruhesitz finden.

Wie den Deutschen im Ausland könnte es auch den Ausländern in Deutschland gehen, die uns daher immer wieder mit Nervenzusammenbrüchen überraschen dürften.



DAS HAUPTARGUMENT GEGEN DAS CHRISTENTUM . . .

. . . besteht darin, Gottes Existenz ließe sich nicht eindeutig erkennen und ihre Annahme sei unverträglich mit der logischen Zustimmung zu einem überzeugenden Argument.

Wie halten wir’s andererseits unter Menschen?

Erwarten wir beispielsweise von einem Freund, dass er unsere guten Absichten erst dann glaubt, nachdem wir alle Zweifel daran ausgeräumt haben? Entsteht Vertrauen auf Grund von Beweisen?

Ist unser Vorbild Othello, der an die Unschuld seiner inzwischen ermordeten Frau erst glaubt, nachdem sie ihm klar wurde? Muss die Müllerstochter im Märchen im Holzfäller den verkleideten Prinzen erkennen, damit ihm ihr Herz rechtmäßig zufliegt?

Was ist von einer Entscheidung zu halten, zu der man sich durchringt, nachdem alle anderen sie getroffen haben?

Aber wenn ich jemandem irrtümlich glaubte?

Habe ich ihm dann nicht doch ein Kompliment gemacht?

SIND DEKONSTRUKTIVISMUS UND GENDER-THEORIE MODERNDE ERSCHEINUNGEN DES BILDERSTURMS?

Der Bilderstreit geht zurück auf das Alttestament-Verbot, Gott sich leibhaftig vorzustellen. Die Kirche meinte schließlich, Gott könne abgebildet werden: indem er Mensch wurde. Daraus entwickelte sich die Auffassung der Welt als Offenbarung Gottes - einer der letzten Punkte, in dem wirklich alle Christen sich einig waren: Bilder haben ihren Platz in der Kirche, weil Gott sich in dem zeigt, was unsere Sinne erreicht, folglich auch in dessen Wiedergabe.

Ist die Postmoderne, indem sie die Vorstellung von etwas Wirklichem, somit Abbildbaren zersetzt, eine Weiterung des Alten Testaments? Geht beispielsweise die Gender-Theorie zurück auf den Bilderstreit, indem sie einen notwendigen Zusammenhang zwischen Vorstellung und Gegebenheiten bestreitet?

Der sinnlich wahrnehmbare Teil eines Menschen offenbart, sagt die Gender-Theorie, nichts Seelisches. Darin gleicht sie der gnostischen Häresie, welche das Jenseits radikal unterscheidet vom Diesseits und keinen Zusammenhang sieht zwischen den beiden. Weiblichkeit oder Männlichkeit wären demzufolge keine Gegebenheiten, sondern Vorstellungen, also Willenssache. Wissenschaftler, welche den menschlichen Körper betrachten, um Geschlechtsunterschiede festzustellen, sind biologische Essentialisten, eine Form des intellektuellen Faschismus.

Die Postmoderne stellt fest, dass alle Formen gleichwertig sind und daher jede mit demselben Recht in Erscheinung treten kann. Das überkommene Christentum nimmt dagegen an, Gott zeige sich in bestimmten Gegebenheiten oder Verläufen der Welt, die dadurch liturgische Bewandtnis haben. (So wie nicht alle Bewegungen als Tanz qualifizieren, dieser aber trotzdem nicht ohne Bewegungen auskommt).

Man kann die Postmoderne als „neue Gnosis“ bezeichnen: wir sind Geister, unsere Körper zählen nicht, können jederzeit unserem Wollen angepasst werden.

Dies entspricht nicht der christlichen Vorstellung vom Wesen einer Person, die sich eher im Handel mit Reliquien zeigt. Der christliche Heilige muss wie Gott einen Körper gehabt haben und von diesem bestimmt gewesen sein.

Freilich lässt sich jeder Ausschnitt der Welt in unendlich verschiedener Weise deuten. Was je vorherrscht, gibt immer weitere Möglichkeiten ein. Der Zweck bestimmt die Bedeutung. Bricht ein Feuer aus in meiner Wohnung, welche Gegenstände versuche ich zu retten? Deren Bewandtnis entsteht erst durch die Flammen.

Nicht wenige postmoderne Autoren blicken zurück auf eine Abrichtung als Mediävisten und waren daher vertraut mit der mittelalterlichen Angewohnheit, Bibelstellen vielfältig auszulegen = wie diese einerseits nur Voraussetzungen beschreiben, andererseits engelhaft sind, dann wieder eine gesellschaftliche oder persönliche Bewandtnis haben usf. In jeden dieser verschiedenen Bereiche entfaltet sich das Gefüge des Textes in besonderer Weise. Die Postmoderne stellt diese Vielfalt der Bedeutungen heraus, sieht aber ab Sinn ihrer Anwendung.

Wenn wir etwas sagen, ist damit immer auch sein Gegenteil verworfen - und dadurch impliziert. Derrida vor allem hebt das mit jeder Äußerung Unausgesprochene hervor, welches er auf das Niveau des Gesagten hebt. Wodurch die Grenzbestimmung zu dem wird, was sie einfasst, und letzteres wiederum zu dessen Umriss. In derselben Weise lässt sich im Übrigen jeder Text Derridas abbauen; er besagt dann das genaue Gegenteil seiner Oberfläche, holt das Überkommene wieder ins Sein = der post-post-moderne Vormarsch vor allen der heutigen Internet-Clowns.

Korintherbrief

"Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache, und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er zu Schanden mache, was stark ist". Paulus

Eigene Tugend erfinden

Ungerechtigkeit und Schmutz werfen sie nach dem Einsamen: aber mein Bruder, wenn du ein Stern sein willst, so mußt du ihnen deshalb nicht weniger leuchten! Und hüte dich vor den Guten und Gerechten! Sie kreuzigen gerne die, welche sich ihre eigne Tugend erfinden – sie hassen den Einsamen. NIETZSCHE

Friedrich Nietzsche: Der Ernst des Handwerks



Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten! Es sind große Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie bekamen Größe, wurden »Genies« (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel niemand gern redet, der sich ihrer bewußt ist: sie hatten alle jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Teile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein großes Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten als an dem Effekte eines blendenden Ganzen. Das Rezept zum Beispiel, wie einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt »ich habe nicht genug Talent«. Man mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, daß jedes Wort darin notwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu finden; man sei unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere; man erzähle vor allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Kostümzeichner; man exzerpiere sich aus einzelnen Wissenschaften alles das, was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich über die Motive der menschlichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannigfachen Übung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus in das Licht der Straße. – Wie machen es aber die meisten? Sie fangen nicht mit dem Teile, sondern mit dem Ganzen an. Sie tun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit und tun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen Gründen. – Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen künstlerischen Lebensplan zu gestalten, übernimmt das Schicksal und die Not die Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks.

GESCHICHTE DES MÄNNLICHEN ELEMENTS – biologische Spekulationen nach Lester Ward

Das männliche Element taucht in der Natur erstmals zweifelhaft und kaum unterschieden auf im Hermaphrodismus der Hohltiere - als winziger Parasit, der sich an ein Weibchen anklammert, das fünfzig bis hundertmal so groß ist wie er und ihn bei sich trägt als ein bloßes Instrument der Befruchtung. Auch die meisten rankenfüßlerartigen Tiere sind Hermaphroditen, bei einigen von ihnen tauchen zwergenartige Männchen auf, die im Grunde nur aus dem bestehen, was sie zu ihrer Funktion brauchen. Man kann zwei bis vier davon auf den Weibchen feststellen. Sie treten weiterhin bei der Gattung der schalentierartigen Mitesser auf.

Das männliche Element beginnt seine biologische Laufbahn als Ergänzungsgeschöpf, das Stoffe in sich aufspart und immer mehr bestrebt ist, sie aufzusparen: verfügbare, für die Sache der Gattung noch unverwendete und je nach Typ formbare Bausteine – Variationsmaterial.

Bei den niederen Arten sind die Männchen stets in Überzahl, existieren rein zu Zeugungszwecken und gehen mit der Erfüllung ihrer Aufgabe zugrunde. Mit dem Männlichen kommt der Überfluss von zum Nutzen der Gattung unverwendeter Materie ins Spiel. In dem Maße, in dem auf der Stufenleiter der Tiere die Zahl der männlichen Individuen pro Weibchen abnimmt, fassen diese diesen Überfluss zusammen und realisieren ihn in sich selbst.

Worauf es ab ovo ankommt: dass kein Weibchen unbefruchtet bleibt. Daher die unentwegte Überproduktion an männlichem Element. Während das Weibchen infolge nur einer Befruchtung ganz von der Gattung eingenommen wird, bleibt das Männchen verfügbar, ausgestattet mit männlicher Kraft, die es spontan weder der Ernährung des Weibchens noch dem Schutz der Jungen zuwendet. Bei den niederen Arten bleibt den meisten Männchen wegen ihrer Überzahl der Koitus versagt. Nimmt ihre individuelle Mehrheit im Verhältnis zu den Weibchen ab, bleibt es doch beim Überangebot an Zeugungssubstanz, also Variationsstoff.

Bei allen höheren Arten wird das Männchen notgedrungen zum Prunkgeschöpf, fähig des Gesangs, der Kunst, des Sports oder der Intelligenz – des freien Spiels. Während das Weibchen ein Gewebe aufbaut, indem es niedere Energien durch die Assimilation der organischen Substanzen auf ihre eigene Ebene hebt. Der männliche Schmuck, seine Verführungsmittel, sind eitles Zuschaustellen lebloser Bildungen, Zeichen unsinnigen Aufwandes und maßloser Verschwendung. Die prächtigen Farben der Schmetterlinge sitzen auf kleinen Schuppen, die nicht das Geringste zum Leben beitragen. Die Farben der Vögel bilden sich in Federn, welche leblos sind. Wie die Blüte der Kunst, der Bildhauerei oder Malerei sich gerade an den Teilen der griechischen Tempel oder der Kathedralen entfaltet, die keinem parktischen Zweck dienen. (So erklärt man sich auch die Bildung der Tempelfriese, die unter den ästhetischen Endzweck fallen, da sie der Nützlichkeit entzogen sind.)

Das Weibliche ist so gesehen das Geschlecht der natürlichen Vorsorge, das männliche das der prunkvollen, unproduktiven Verschwendung. Das Weibchen hütet das Erbe, das Männchen liefert dessen Variation. Welche der Reglung bedarf. Während es die Männchen treibt zu befruchten, führt die Existenz der Weibchen zu Aussonderung oder Aufteilung in tüchtige Varianten, die erfolgreich sind, und den Rest, welcher versagt.

Der Aufwand, welchen die Natur im Männlichen betreibt, steht in keinem Verhältnis zum Resultat. Bei den Maikäfern kommt ein Weibchen auf 300 Männchen. Der Wind schüttelt dichte Pollen-Wolken von den Koniferen, um ein paar wenigen Körnern die Möglichkeit zu bieten, zufällig eine Eizelle zu befruchten. Der Geschlechtstrieb ist mit anderen Worten unbestimmt, die Natur ersetzt die Genauigkeit ihrer Schüsse durch Menge. Es liegt keine Absicht in der Wollust. Sie begleitet den Zeugungsakt, ist sich dabei aber selbst genug. Man muss nicht zeugen, um Lust zu empfinden. Hingegen reicht mitunter ein bestimmter Anblick, ein Geruch, um in Stimmung zu kommen. Ein Mann, der vor kurzem mit einer Frau schlief, kann durch ihren Geruch, den er noch ausströmt, einen anderen Mann in Erregung versetzen.

Auch das Weibliche ist nicht körperlich auf das Männliche angewiesen, um Lust zu empfinden. Dass es zu einer Zeugung kommt, ist eher ein Begleitumstand. Der weibliche Geschlechtstrieb ist ebenso unbestimmt wie der männliche. Sollte es, einem verborgenen Bedürfnis seiner Organe gehorchend, nach Befruchtung verlangen, so ist ihm doch nur ungefähr nach Wollust, nicht unbedingt nach dem Männchen. Wie eben das Männchen nicht geradezu das Weibchen, noch weniger die „Zeugung“ begehrt, sondern alleine Wollust.

Männchen wie Weibchen suchen in erster Linie Genuss. Wobei es sein mag, dass beider Organe nur im Koitus völlig zur Auswirkung kommen können – was sie aber nicht von Haus aus oder nur dunkel zu wissen scheinen. Damit es zur Befruchtung kommen kann, müssen zwei eher unbestimmte Begierden zusammenkommen.

Der Sieg über das Unorganische, den Tod, ist eine Folge der Verschwendung in der Natur. Der Triumph des Organischen verdankt sich einem unerhörten Aufwand, der jede Menge Ausschuss produziert, aus welchem sich Kunst, Geist und freies Spiel entwickeln. Wie das Weibchen sich hingibt an die Gattung so das Männchen an seine Kunst, an seinen Sport, an seinen Gesang. Erst wo das Verlangen bestimmtere Formen annimmt, wird die Überzahl der Männchen unnötig, damit auch die Prächtigkeit ihres Äußeren, welche irgendwann sogar von jener der Weibchen übertroffen wird (etwa im Fall der Gottesanbeterinnen).

Nietzsche gegen den Nihilismus

Nackt hatte ich einst Beide gesehn, den grössten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander, allzumenschlich auch den Grössten noch!

Von da an sind alle meine Schriften Angelhaken: vielleicht verstehe ich mich so gut als jemand auf Angeln? ... Wenn Nichts sich fing, so liegt die Schuld nicht an mir. Die Fische fehlten .

Wir aber wollen die werden, die wir sind, — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!

Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unikum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird: Er weiß es, aber verbirgt es wie ein böses Gewissen — weshalb?

Bei den allermeisten ist es Bequemlichkeit, Trägheit, kurz jener Hang zur Faulheit . . . die Menschen sind noch fauler als furchtsam und fürchten gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine unbedingte Ehrlichkeit und Nacktheit aufbürden würde.

Manche leben in Scheu und Demut vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet.

Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaftig geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. . . denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermeßlich hoch über dir, oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst.

Im Schmerz ist soviel Weisheit wie in der Lust . . . dass er weh tut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen.

Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, daß, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muß – daß, wer das »Himmelhoch-Jauchzen« lernen will, sich auch für das »Zum-Tode-betrübt« bereit halten muß?

. . . darum muß ich erst tiefer hinab, als ich jemals stieg: tiefer hinab in den Schmerz, als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal . . . Woher kommen die höchsten Berge? so fragte ich einst. Da lernte ich, daß sie aus dem Meere kommen. Dies Zeugnis ist in ihr Gestein geschrieben und in die Wände ihrer Gipfel. Aus dem Tiefsten muß das Höchste zu seiner Höhe kommen.

Ich schätze die Macht eines Willens darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß.

Wer wird etwas Großes erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich fühlt, große Schmerzen zuzufügen?

Solchen Menschen, welche mich Etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung, – ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Werth hat oder nicht, – daß er Stand hält.

WISST IHR NICHT, DASS EURE LEIBER GLIEDER CHRISTI SIND?

. . . schreibt Paulus im Ersten Korintherbrief - eine bemerkenswerte Feststellung, denn Glieder sind nicht Mitglieder, keines gleicht dem anderen. Jeder Mensch ist - als "Glied Christi" - also unersetzlich, nicht kraft seiner Individualität, sondern als Bestandteil von etwas Größerem, dem sonst seine Vollkommenheit abgehen würde. Wir Menschen wären dann gleich kraft unseres Beitrags, nicht aber vom Wesen her.

Heraklit

Ein Philosoph, den ich so ganz wie gar nicht verstehe und, obwohl eigentlich anderes dran wäre, im Kopf herumwälze.

Hier der sagenhafte 50te Satz seiner Fragmente: „Habt ihr nicht mich, sondern mein Wort vernommen, ist es weise zuzugestehen, dass alles eins ist.“

Deutung 1: Indem wir sprechen, macht alles Sinn.

Deutung 2: Wenn ich rede, sage ich dies und das: Worte. Indem du sie aber vernimmst, sei nicht mir, Heraklit, hörig, sondern der Regel, welcher ich - sprechend - folge, wie du's eben zu tun in der Lage wärst. Ihrer Anmut gemäß wirst du inne, dass es etwas Denkendes gibt, das hellwach in Worten vorgeht und, verkörpert im Sein, sie erfüllt damit, dass jedes einzelne und ihm gegenüber die Dinge miteinander verbunden sind.

Deutung 3: Die Fassung hat keine Gestalt, aber verleiht sie.

DIE LIEBE, DIE DEM ZEUGUNGSWUNDER ENTGEGENFLIEGT, IST VOM WAHNSINN BERÜHRT

. . . das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes. - HEGEL Logik

Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung. - NIETZSCHE Wille zur Macht

Seit Aristoteles ist ja sogar ein vom Menschen gewöhnlich Wort, daß ohne einen Zusatz von Wahnsinn keiner etwas Großes vollbringe. Wir möchten statt dessen sagen: ohne eine beständige Sollizitation zum Wahnsinn, der nur überwunden werden, nie ganz fehlen darf. . . jener sich selbst zerreißende Wahnsinn, noch jetzt das Innerste aller Dinge, und nur beherrscht und gleichsam zugut gesprochen durch das Licht eines höheren Verstandes . . . die eigentliche Kraft der Natur und aller ihrer Hervorbringungen«. - SCHELLING Die Weltalter

ALLES GLEICH

Die Regisseurin Barbara Rohm sattelt auf den letzten Metoo-Erfolg einem Ruf nach mehr Gerechtigkeit: öffentliche Mittel müssen, was Film/TV betrifft, weniger nach historischen oder inhaltlichen, sondern nach statistischen Gesichtspunkten verteilt werden - nicht der vorhergehende Erfolg der Antragstellenden oder die Qualität eines Projektes sollen entscheiden, sondern ebenso ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, die gemäß ihrem Anteil an der Bevölkerung bedacht werden muss.
Erst mal geht es um die Gruppen der Frauen/Männer. Lässt sich aber weiter differenzieren. Das Verfassungsgericht hat gerade die Bundesregierung ermahnt, weitere Geschlechter zu bestimmen - man kann auch nach Hautfarben unterscheiden (Cis-Deutsche mit Subsahara-Wurzeln) usf. Die Debatte eskaliert gerade in den USA.
Hinzu kommt, dass die Genderforschung die geschlechtliche Identität vom Körper gelöst und zur Privatsache gemacht hat: eine Person ist immer das, wozu sie sich selber erklärt im Hinblick auf ihr Geschlecht.
Eine Verschärfung der Diskussion bis zu ihrem effektiven Zusammenbruch hat in den USA die Ausdehnung der Identitätssouveränität auf die Rasse zur Folge gehabt. Kann ich authentisch selbst bestimmen, dieser oder jener ethn. Gruppe anzugehören, oder legt das meine Geburt fest? (In Deutschland reklamierte da etwa mancher Philosemit gerne den Status des Juden, auch wenn er christlich getauft war.)
Zugrunde liegt die Auffassung, alle Menschen seien gleich, für Christen sind sie das bereits im Mutterleib, für deren Nachkömmlinge, nachdem sie einmal geboren wurden. Zwar ist der unmittelbare Glaube an Gott großteils abhanden gekommen, aber das Gleichheitsgebot vor ihm hält stand.
Wie kommen dann trotzdem Unterschiede zustande in Hinsicht auf Rang, Einkommen, Macht usf.? Durch Betrug und Gewohnheiten infolge desselben. Wenn eine Partei sich der anderen überlegen zeigt, hat sie dies verdient allein durch ihren Verstoß gegen das Gleichheitsgebot und abgelistet dem Entgegenkommen der ihr so Unterlegenen.
Die Verlierer und Opfer dieser Masche haben deswegen als Gewinner in punkto Gleichheit, da reicht ihnen niemand das Wasser, ein Recht auf Wiedergutmachung, eigentlich sogar die Krone.
"Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl", argumentiert Nietzsche dagegen, "dass er nur einmal, als ein Unikum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird: Er weiß es, aber verbirgt es wie ein böses Gewissen — weshalb?" Woanders fügt er erklärend hinzu: "Bei den allermeisten ist es Bequemlichkeit, Trägheit, kurz jener Hang zur Faulheit . . . die Menschen sind noch fauler als furchtsam und fürchten gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine unbedingte Ehrlichkeit und Nacktheit aufbürden würde."
Also nicht kraft Angehörigkeit oder Gleichheit fände ein Mensch zu sich und dem, was zählt, sondern allein durch Innewerdung und Entwicklung seiner Voraussetzungen, sich ungleich zu machen. Die Gleichheit würde, so gesehen, höchstens die Startrampe bilden - ein Zustand, von dem es sich zu entfernen gilt.

Nietzsche zum Thema Wahrheit

Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.

Das Leben kein Argument. – Wir haben uns eine Welt zurechtgemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.


Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt. Es ist unwahrscheinlich, daß unser »Erkennen« weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht.


Man hat jeden Schrittbreit Wahrheit sich abringen müssen, man hat fast alles dagegen preisgeben müssen, woran sonst das Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zum Leben hängt. Es bedarf Größe der Seele dazu: der Dienst der Wahrheit ist der härteste Dienst.


Die Behauptung, daß die Wahrheit da sei und daß es ein Ende habe mit der Unwissenheit und dem Irrthum, ist eine der größten Verführungen, die es giebt. Gesetzt, sie wird geglaubt, so ist damit der Wille zur Prüfung, Forschung, Vorsicht, Versuchung lahm gelegt: er kann selbst als frevelhaft, nämlich alsZweifel an der Wahrheit gelten ... Die »Wahrheit« ist folglich verhängnißvoller als der Irrthum und die Unwissenheit, weil sie die Kräfte unterbindet, mit denen an der Aufklärung und Erkenntniß gearbeitet wird. Der Affekt der Faulheit nimmt jetzt Partei für die »Wahrheit« – (»Denken ist eine Noth, ein Elend!«); insgleichen die Ordnung, die Regel, das Glück des Besitzes, der Stolz der Weisheit, – die Eitelkeit in summa: – es ist bequemer zu gehorchen, als zu prüfen; es ist schmeichelhafter, zu denken »ich habe die Wahrheit«, als um sich herum nur Dunkel zu sehn... vor Allem: es beruhigt, es giebt Vertrauen, es erleichtert das Leben, – es »verbessert« den Charakter, insofern es das Mißtrauen verringert. Der »Frieden der Seele«, die »Ruhe des Gewissens«: alles Erfindungen, die nur unter der Voraussetzung möglich sind, daß die Wahrheit da ist. – »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« ... Die »Wahrheit« ist Wahrheit, denn sie macht die Menschen besser... Der Proceß setzt sich fort: alles Gute, allen Erfolg, der »Wahrheit« auf's Conto zu setzen.


Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein.


Nie etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du mußt jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit, – aber auch deine Niederlage ist nicht mehr deine Angelegenheit!

Dionysos

Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die »Wehen der Gebärerin« heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz... Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muß es auch ewig die »Qual der Gebärerin« geben... Dies alles bedeutet das Wort Dionysos . . . NIETZSCHE

Nietzsches philosophisches Programm

Mein neuer Weg zum »Ja«. – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung durch Eis und Wüste gab, lernte ich Alles, was bisher philosophirt hat, anders ansehn: – die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich an's Licht. »Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« – dies wurde für mich der eigentliche Werthmesser. Der Irrthum ist eine Feigheit... jede Errungenschaft der Erkenntniß folgt aus dem Muth, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich... Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf: – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati.

NIETZSCHES ETAPPEN ZUR ÜBERWINDUNG DES NIHILISMUS

Nackt hatte ich einst Beide gesehn, den grössten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander, allzumenschlich auch den Grössten noch! Von da an sind alle meine Schriften Angelhaken: vielleicht verstehe ich mich so gut als jemand auf Angeln? ... Wenn Nichts sich fing, so liegt die Schuld nicht an mir. Die Fische fehlten . Wir aber wollen die werden, die wir sind, — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unikum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird: Er weiß es, aber verbirgt es wie ein böses Gewissen — weshalb? Bei den allermeisten ist es Bequemlichkeit, Trägheit, kurz jener Hang zur Faulheit . . . die Menschen sind noch fauler als furchtsam und fürchten gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine unbedingte Ehrlichkeit und Nacktheit aufbürden würde. Manche leben in Scheu und Demut vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: was hast du bis jetzt wahrhaftig geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt? Stelle dir die Reihe dieser verehrten Gegenstände vor dir auf, und vielleicht ergeben sie dir, durch ihr Wesen und ihre Folge, ein Gesetz, das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst. . . denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermeßlich hoch über dir, oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst. Im Schmerz ist soviel Weisheit wie in der Lust . . . dass er weh tut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen. Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, daß, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muß – daß, wer das »Himmelhoch-Jauchzen« lernen will, sich auch für das »Zum-Tode-betrübt« bereit halten muß? . . . darum muß ich erst tiefer hinab, als ich jemals stieg: tiefer hinab in den Schmerz, als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal . . . Woher kommen die höchsten Berge? so fragte ich einst. Da lernte ich, daß sie aus dem Meere kommen. Dies Zeugnis ist in ihr Gestein geschrieben und in die Wände ihrer Gipfel. Aus dem Tiefsten muß das Höchste zu seiner Höhe kommen. Ich schätze die Macht eines Willens darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß. Wer wird etwas Großes erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich fühlt, große Schmerzen zuzufügen? Solchen Menschen, welche mich Etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung, – ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Werth hat oder nicht, – daß er Stand hält.