Wie mein Vater im Nichts verschwand.
Meine Eltern haben sich auf einer Weltreise kennengelernt.
Sie waren noch
sehr jung damals, gerade erst erwachsen geworden. Mama war von zu Hause fortgezogen
und hatte unterwegs gearbeitet, meist als Bedienung, wenn sie Geld brauchte für
die Weiterreise. Meine Mutter ist eine wirklich sehr schöne Frau, und sie wird
heute noch gerne eingestellt, wenn es darauf ankommt, Menschen zu beeindrucken:
an Messeständen, hinter einer schicken Empfangstheke oder als Bedienung in
einem angesagten Lokal. Inzwischen studiert Mama, um Archäologin zu werden. So
ein Studium ist kein Pappenstiel.
Mein Vater ist beim Geheimdienst und viel unterwegs im
Ausland. Deswegen haben wir ihn in den vergangenen Jahren kaum zu Gesicht
bekommen. Sein gefährlicher Beruf erlaubt es ihm nicht, uns zu besuchen.
Als er Mama kennenlernte, waren sie beide zufällig in
Ägypten. Papa war damals den Nil heraufgekommen, und Mama fuhr ihn hinunter auf
einem Touristenboot, dessen Gäste sie betreute. Sie schüttete gerade einen
Eimer Obst- und Gemüsereste über Bord, als Papa sie zum ersten Mal erblickte.
Von diesem Moment an war er in sie verliebt.
Papa besaß zu jener Zeit eine Videokamera, mit der er seine
Reiseeindrücke aufnahm und ins Internet hochlud. Seit Ägypten tauchte immer häufiger
Mama in den kleinen Filmen auf, als namenlose Fremde, die auf der Terrasse
eines Bazar-Cafés saß und Wasserpfeife rauchte oder aus dem wackeligen Bett
eines Traveller-Hotels kletterte und sich in der Morgensonne räkelte. War Mama in
einem der Filme, erhielt er die meisten Likes.
Dann bekam sie einen Babybauch, und schließlich wurde ich,
Arthur Fellmann, vor zwölfeinhalb Jahren in Goa geboren, an der Westküste
Indiens. Mein erstes Kinderbett war eine Hängematte zwischen Palmenbäumen. Ich
kann Fotos zeigen, die das beweisen. Auf einem davon gibt Mama mir die Brust,
während sie mit anderen Müttern an einem Lagefeuer sitzt.
Einmal hatte Papa nicht aufgepasst, als ein Tiger vorbeikam.
Der zog mich am Kopf aus meiner Hängematte. Aber Papa verfolgte den Tiger und zerrte
mich wieder aus seinem Maul. Die Narbe davon hab ich heute noch am Kopf.
Als ich sie Leon aus der Parallelklasse und dem Streber Finn
gestern im Freibad zeigte, meinte Finn, ich hätte sie wahrscheinlich von einem
Fahrradunfall. „Die Geschichten mit deinem Vater werden immer unglaubwürdiger.“
„Das sagst du nur“, erwiderte ich, „weil deiner vor einem
Tiger davongelaufen wäre.“
„Mein Vater ist wenigstens da, wenn ich nach Hause komme.“
Die Krallen des Tigers hatten meinen Vater damals schwer
verletzt. Er musste in Goa im Krankenhaus zurückbleiben, während Mama mit mir
zurück nach Deutschland flog. Oma ging es nicht so gut, und Mama musste sich um
sie kümmern.
„Und wieso ist dein Vater nicht nachgekommen?“ fragte Leon.
„Weil er am Krankenbett vom BND angesprochen wurde. Sie
suchten damals vielgereiste junge Männer, die keine Feiglinge waren, um Geheimdienstoperationen
zur Erhaltung des Weltfriedens durchzuführen.“
„Wer’s glaubt, wird selig.“
Bei einem erfolgreichen Versuch, eine deutsche
Urlauberfamilie aus den Händen von Terroristen zu befreien, ist mein Vater dann
gefallen. Er war damals Mitglied einer Spezialeinheit, deren Existenz man nicht
an die große Glocke hängen durfte. Deswegen musste sein Heldentod geheim
gehalten werden.
Typisch, dass sie mir das wieder nicht glaubten. Und dann
kamen auch noch ihre Väter zu uns an den Beckenrand. Der von Finn war ganz mit
Muskeln bepackt, während Leons eine randlose Brille trug.
Sie hatten miteinander gewettet, dass ihre Söhne einen
Kopfsprung vom Drei-Meter-Brett schafften. Jetzt sollten Leon und Finn ihre
Väter nicht enttäuschen.
Ich kam interessehalber mit zu den Sprungtürmen, um zu
sehen, wie Leon und Finn sich anstellten. Sie kletterten auf die
Drei-Meter-Plattform. Wenn ihr mich fragt, hatten sie Schiss. Finn ging vor an
die Spitze des Brettes, um zu schauen, wie tief es war. Er hüpfte ein paarmal
auf dem Brett, dann schlich der zurück auf die Plattform.
Sein Vater rief herauf, er solle sich nicht so anstellen und
dass es kein Zurück mehr gebe.
„Ich könnte einen Salto vom Fünfer machen“, sagte ich in die
Stille.
„Habt ihr das gehört?“ rief Finns Vater herauf.
„Der lügt doch“, maulte Leon zurück.
„Ich werd‘s euch zeigen!“ rief ich und blickte zu den
Vätern. Es kam mir so vor, als ob sie mir zunickten.
Ich fing an, den Sprungturm zu besteigen. Da hörte ich, kurz
nacheinander, zwei Platscher. Und den Applaus der Väter. Sie kriegten sich gar
nicht mehr ein. Dabei hatten ihre Söhne bestimmt nicht mal einen Kopfsprung
geschafft, sondern nur zwei Arschbomben gelandet. Gesehen hatte ich es zwar
nicht, aber dem Geräusch nach hatte es sich so angehört …
Ich kletterte über die Drei-Meter-Plattform hinauf zum
Fünf-Meter-Brett. „Achtung!“ rief ich oben laut und schaute über das Geländer.
Doch unten stand niemand mehr. Die Väter waren mit Leon und
Finn, um deren Heldentaten mit Cola zu begießen, auf dem Weg zum Kiosk.
Also sprang ich ohne Publikum. Der Salto, den ich den Sommer
über geübt hatte, erst vom Ein-, dann vom Drei-Meter-Brett, gelang mir diesmal
nur halb, und ich schlug mit dem Rücken aufs Wasser. Es war hart wie Beton.
Ich spürte, wie ich unterging. Die Sonne schien auf mich
durch die bewegte Wasseroberfläche, und in ihren Strahlen schwamm ein
muskulöser kleiner Hund auf mich zu, dessen Vorderpfote in einer Beinschiene
steckte. Oder bildete ich mir das alles nur ein? Jemand rief nach mir.
Als ich die Augen aufschlug, sah ich das Gesicht des jungen
Bademeisters. Seine Haare und sein T-Shirt waren nass, weil er mich aus dem
Wasser geholt hatte. Ich lag auf dem Rasen des Freibades und hustete Wasser.
Der Bademeister fragte die ganze Zeit, wie es mir ginge.
Ich stand auf und sah mich um. Es war echt etwas los heute im
Freibad. Eine Million kleiner Kinder spritzten im Planschbecken umher, und auf
der Wiese lagen ihre Mütter auf großen Handtüchern in der Sonne herum. Am
Tauchbecken schubste eine Bande Mädchen in Bikinis einen Jungen vom Rand ins
Wasser.
Ich antwortete dem Bademeister, mit mir sei alles in
Ordnung. Nur der Rücken brannte noch ein bisschen von dem Aufprall.
„Soll ich nicht doch lieber den Sanitäter holen?“
„Schon gut. Ich muss jetzt nach Hause“, sagte ich und
trollte mich zu den Umkleidekabinen.
Vor dem Bad fuhr gerade der Bus weg, als ich herauskam. Ehe
ich auf den nächsten wartete, ging ich lieber zu Fuß – durch den kleinen Park,
an dessen Ende die Rentner abends um ihr Außen-Schachbrett mit den großen
Figuren standen, und über die Eisenbahnbrücke, hinter der die Straße bergab
ging.
Kam es mir nur so vor, oder sah ich heute besonders viele
Jungs in meinem Alter, die in Begleitung ihrer Väter unterwegs waren?
Als ich die Wohnungstür hinter mir schloss, hört ich Mama in
der Küche scheppern.
„Arthur?“
„Ja …“
Sie tauchte auf in der Schürze, die ich ihr letzte Woche zum
dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ihr Name stand schräg gedruckt in fetten
Buchstaben darauf: INKA.
„Abendessen ist gleich fertig“, sagte sie. „Gehst du den Opa
holen?“
„Wo ist er denn?“
„Er wollte vorhin Bier holen.“
„Alles klar.“ Ich wandte mich zur Wohnungstür.
„Arthur!“
„Ja?“
„Ich hab Kartoffelsalat gemacht. Den magst du doch.“ Dann
kam sie vor und griff mit der Hand nach mir.
„Was ist?“
Aber Mama streichelte mir nur durchs Haar. „Hol den Opa“,
sagte sie dann.
Ich ging also wieder hinunter und durchsuchte die Straßen
rings um unser Wohnhaus, bis ich Opas Wagen gefunden hatte. Er parkte schräg
gegenüber vom Mond-Stübchen, ein blauer Passat, „Fahrschule Wicht“ stand auf
den Türen.
In der Kneipe entdeckte ich Opa in einer Gruppe von Zuhörern
an der Theke. Vor ihm stand ein halber Krug Bier. „… also dieses
Luxustraumschiff fährt durch den Indischen Ozean“, sagte er gerade, „lauter traumhafte,
einsame Inseln …“
Dann nahm er einen Schluck Bier.
„Und sie kommen an einer einsamen Insel vorbei ‒ und da steht diese
heruntergekommene Gestalt in zerfetzten Lumpen am Strand, fuchtelt wie wild mit
den Armen, springt wie verrückt am Strand hin und her und versucht
offensichtlich, mit allen Mitteln auf sich aufmerksam zu machen. ‚Was hat der
denn?‘ fragt ein Passagier den Kapitän. ‚Ach der ‒
der freut sich immer so, wenn wir hier vorbeikommen.‘“
Die Runde um Opa lachte. Er bemerkte nicht, wie ich
herangekommen war.
„Opa! Abendessen ist fertig.“
„Arthur, mein Junge. Das ist schön, dass du mich abholen
kommst“, sagte Opa.
Er schwankte ein bisschen, als er mir aus dem Mond-Stübchen ins Freie folgte. In der Plastiktasche,
die er bei sich trug, klimperten die Flaschen mit dem Bier, die er für das
Abendessen gekauft hatte.
Bei seinem Wagen blieb er stehen. Er wühlte seine Schlüssel
hervor und hielt sie mir hin.
„Opa, ich kann doch kein Auto fahren“, sagte ich.
„Natürlich kannst du, ich hab dir doch alles beigebracht.
Wenn ich fahre, bin ich meinen Führerschein los. Aber dir“, lachte Opa, „dir
können sie noch keinen wegnehmen.“
„Opa …“, seufzte ich, nahm aber dennoch die Schlüssel
entgegen.
Ich befürchtete, dass Mama mich aus dem Küchenfenster beobachtete,
als ich den Passat vor unserem Wohnhaus rückwärts einparkte.
„Na, das hat doch prima geklappt“, sagte Opa, bevor er mit
seiner klimpernden Tüte ausstieg.
Ich folgte ihm die Treppe hinauf zu unserer Wohnung.
Nachdem wir zu Abend gegessen hatten, legte Opa sein Besteck
über Kreuz auf den Teller und sagte: „War lecker.“
Mama antwortete nicht.
„Bis jetzt hast du noch kein Wort geredet“, sagte Opa.
„Hat mir hier irgendeiner etwas zu sagen?“ fragte Mama
endlich.
Ich blickte kurz zu Opa. Jetzt hatten wir den Salat.
„Wenn du so weitermachst“, sagte Mama zu Opa, „bist du
deinen Führerschein los.“
„Ich bin doch gar nicht gefahren“, sagte Opa.
„Aber du hast einen Minderjährigen ans Steuer gelassen. Für
einen Fahrlehrer ist das ein schweres Vergehen.“
„Der Junge fährt besser als die meisten meiner Schüler.“
„Opa hat es mir beigebracht“, sagte ich. „Wirklich alles.“
„Das ist doch völlig egal, ich verbiete dir, noch einmal mit
diesem Wagen zu fahren!“
„Inka – jetzt …“
„Und du bist deine Erlaubnis, Fahrschüler auszubilden, los,
wenn du so weitermachst“, sagte Mama.
Opa und ich gaben es auf, ihr zu widersprechen.
„So“, meinte sie nach einer Weile, „und jetzt besprechen wir
die nächsten drei Tage.“
An denen, kam nun heraus, würde Mama nicht zu Hause sein,
weil sie mit ein paar Kommilitonen einen Ausflug machte, der wichtig war für
ihr Studium.
Opa trat morgen eine Kreuzfahrt an, auf die er sich schon
seit einem halben Jahr vorbereitet hatte.
Ich würde mit anderen Worten während Mamas Abwesenheit
allein zu Hause sein.
„Essen gehst du zu Sybille“, sagte sie.
Sybille Schön war Mamas beste Freundin. Ihr Sohn ging in
meine Klasse. Er hatte seiner Mutter erzählt, ich sei heute im Freibad
ohnmächtig geworden. „Was war denn da los?“ fragte Mama.
„Ich bin nur länger getaucht als die anderen, und die haben
sich dann gewundert, dass jemand so lange unter Wasser bleiben kann.“
„Das war alles?“
„Ja.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht der Rede wert.“
Vor dem Einschlafen fuhr ich dann noch ein paar Runden
Motorrad im Rahmen eines Rennspiels auf meinem Computer.
Wie mein Vater aus dem Nichts wieder auftauchte und etwas Unmögliches von
mir verlangte.
Tiger griffen an ‒
Opa grüßte von der Reling eines Kreuzfahrtschiffs, dem ich hinterherwinkte
in zerfetzten Lumpen vom Strand einer einsamen Trauminsel ‒ der muskulöse kleine
Hund sprang heran mit der geschienten Vorderpfote ‒ wütendes Flüstern drang an meine Ohren …
Ich schlug die Augen auf.
Ich hatte geträumt. Aber das Flüstern hatte ich nicht
geträumt. Es kam vom Gang unserer Wohnung.
Der Digitalwecker neben meinem Bett zeigte 4:45 Uhr. Ich
stand auf und schlich barfuß durch die Dunkelheit vor zur Tür meines Zimmers,
die ich einen Spalt weit öffnete.
Mama hatte den Hörer unseres Wandtelefons neben der
Küchentür am Ohr und sprach mit leiser, böser Stimme etwas hinein, das ich
nicht verstehen konnte. Sie war fertig angezogen zur Abreise, neben ihr stand
ein Ausflugsrucksack auf dem Boden. Mit einem Knall hängte sie den Hörer auf.
„Wer war das?“ flüsterte ich.
Mama zuckte zusammen. „Arthur …“
„Was ist denn los?“
„Gar nichts. Es gab ein bisschen Ärger. An der Uni. Leg dich
jetzt wieder schlafen.“ Sie kam zu mir und umarmte mich. „Großer Junge. In drei
Tagen bin ich wieder zurück, und wir gehen ins Kino. Du darfst den Film
aussuchen.“
Ich kroch wieder zurück unter meine Bettdecke. Draußen ging
die Wohnungstür.
Mama war fort. Ich hatte drei Tage ohne sie vor mir. So
lange war sie noch nie weg gewesen.
Und dann klingelte das Telefon.
War es Mama? Hatte sie irgendetwas vergessen? Ich ging hin
und hob ab.
„Jetzt leg nicht gleich wieder auf“, sagte eine
Männerstimme. „Hör dir erst ganz an, was ich zu sagen habe. Es ist wichtig.“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
„Inka? Bist du am Apparat? Ich kann dich atmen hören.“
„Sie ist nicht da“, sagte ich.
„Wo ist sie?“
„Auf Exkursion.“
„Und wer bist du?“
„Ich bin …“ Er sollte mir lieber mal sagen, wer er war.
„Arthur?“
Woher wusste er meinen Namen?
„Du bist Arthur, stimmt‘s?“
„Wieso wollen Sie das wissen?“
„Ich bin … dein Vater …“
Die Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube.
„Arthur? Bist du noch dran? Leg jetzt bitte nicht auf. Ich
brauch dringend deine Hilfe.“
Mir war ganz übel.
„Du musst auf der Stelle nach Suwalki kommen. Arthur? Was
ist los mit dir, kannst du nicht reden?“
„Mein Vater“, sagte ich, „ist tot.“
„Das hat sie dir
erzählt?“
„Wer?“
„Deine Mutter.“
„Nein“, sagt ich schnell und hängte auf.
Das Telefon schellte gleich wieder. Aber ich hob nicht mehr ab.
Nach einer Ewigkeit hörte es auf und hing reglos an der Wand
wie eine tote Fledermaus. Das machte mir beinahe noch mehr Angst.
Ich versuchte, noch etwas zu schlafen, die Bilder aus meinem
Kopf zu verscheuchen, die mich ganz schwindelig machten.
Und dann stand auf einmal Opa vor der Wohnungstür. Er hatte
mich aus dem Bett geklingelt.
„Was ist denn los?“ fragte ich. „Dachte, du bist schon im
Zug nach Bremerhaven.“
„Ja, ich auch. Aber ich muss den nächsten nehmen, weil ich
meine Brieftasche mit den Fahrkarten und den Kreditkarten vergessen habe.“
„Wo denn?“
„Hier, glaube ich … gestern beim Abendessen. Wir müssten mal
in der Küche schauen.“
Dort fand ich Opas Brieftasche wirklich. Sie lag unter der Sitzbank.
„Sag mal, Opa“, fragte ich ihn, „hast du schon mal von einem
Ort gehört, der Suwalki heißt?“
Erst war er sich nicht sicher, meinte dann aber, dass es
sich um eine kleine polnische Stadt handeln könnte, die an der Grenze zu
Weißrussland lag.
Wir schauten auf Google Maps nach und fanden wirklich einen
Ort mit diesem Namen, auch dort, wo Opa ihn vermutet hatte. Er befand sich
oberhalb eines Nationalparks mit vielen Seen.
„Wieso interessierst du dich denn für Suwalki?“ fragte Opa.
„Ach, nur so. Ist nicht weiter wichtig.“
„Hat es was mit der Schule zu tun?“
„Opa?“
„Ja?“
„War mein Vater eigentlich Pole?“
Opa meinte, das könne er mir leider nicht sagen. Ich wisse
ja, wie ungern Mama über das Thema rede. „Interessierst du dich deswegen für
Suwalki?“
„Nee, das ist wegen Erdkunde. Ich dachte nur, mein Vater
hätte ja auch Pole sein können.“
Opa ließ mir noch Extra-Taschengeld da. Dann musste er sich
beeilen, um den letzten Zug zu erwischen, der es noch nach Bremerhaven
schaffte, bevor dort das Kreuzfahrtschiff ablegte.
Als er weg war, öffnete ich auf der Festplatte meines
Computers den geheimen Ordner, in dem sich die Reisefilme befanden, die von
Papa früher ins Internet gestellt worden waren. Ich hatte die meisten
aufgespürt und heruntergeladen, ohne Mama etwas davon zu erzählen. Jetzt
schaute ich sie mir zum x-ten Mal an.
Das Telefon klingelte. Diesmal hob ich ab.
Es war er. „Arthur,
gut, dass du endlich abhebst. Jetzt sag mir aber erst mal, wie du darauf
gekommen bist, dass ich tot bin.“
Das war eine schwierige Geschichte. Wie sollte ich ihm das
nur erklären?
„Das hast du dir selber ausgedacht, stimmt‘s?“
Ich sagte immer noch nichts.
„Hör mal, das brauchst du mir nicht weiter zu erklären. Ich
hätte es an deiner Stelle genauso gemacht.“
„Echt?“
„Wie sieht das denn aus, wenn man nicht weiß, wo sein Vater
ist, weil er sich jahrelang nicht gemeldet hat. Da hast du dir eine Geschichte
ausgedacht, die dich nicht ganz so blöd dastehen lässt.“
Konnte er meine Gedanken lesen?
„Stimmt‘s?“
Ich verhörte ihn zu dem Inhalt der Reisefilme, die ich mir
gerade anschaute. Er begriff sofort, dass ich prüfen musste, ob er wirklich die
Person war, welche er zu sein behauptete, und beantwortete alle Fragen richtig.
Dann erzählte er mir von sich aus noch, wie ich in einem Krankenhaus in Goa
geboren wurde und als Baby in einer Hängematte zwischen Palmen gehangen hatte.
Die Geschichte mit dem Tiger erzählte er nicht, aber die
hatte ich mir ja auch ausgedacht.
Tja, und dann kam er wieder damit, ich müsse ihm helfen ‒ und unbedingt nach
Suwalki kommen.
Als ich wissen wollte, warum, meinte er, es gebe etwas vor
Ort zu tun, das nur ich für ihn erledigen könne. Weil ich so ein toller
Schwimmer sei.
„Aber, was soll ich denn machen?“
„Arthur, das kann ich dir jetzt nicht alles am Telefon
erklären. Dafür ist die Zeit zu knapp. Du musst mir jetzt einfach vertrauen.“
Und er fügte hinzu, alles hinge jetzt von mir ab.
Dann sollte ich schnell was zum Schreiben holen, und er gab
mir mehrere Zahlen durch, die sollte ich ins Suchfeld von Google Maps eintragen
und danach auf Street View gehen. „Dann kommt das Bild einer Straßenkreuzung,
an der siehst du einen Papierkorb. In seinem Plastikdeckel ist ein Smartphone
befestigt. Das holst du, wenn du nach Suwalki kommst, aus dem Versteck und
wählst die einzige Nummer in dem Adressbuch.“ Dann würde ich abgeholt werden.
„Arthur, versprichst du mir, dass du kommst?“ Seine Stimme
klang, als ob er wirklich Hilfe gebrauchen konnte.
„Okay“, presste ich heraus.
„Sag das nicht einfach nur so, okay ‒ schwöre es!“
„Ich schwöre es.“
„Ich schwöre, dass ich
mich auf der Stelle auf den Weg nach Suwalki mache.“
„Ich schwöre, dass ich mich auf der Stelle auf den Weg nach
Suwalki mache.“
Aber wie kam ich da überhaupt hin?
Am besten vom zentralen Busbahnhof am Funkturm, meinte er.
Der Bus nach Ostpolen fahre dort immer um fünfzehn Uhr.
„Arthur?“
„Ja …“
„Kommst du?“
„Ja.“
Dann war die Leitung tot.
Wie ich einen Freund fand, der einmal beinahe in der Wildnis verreckt wäre.
Ich tippte die Ziffern, die ich hingekritzelt hatte, in das
Suchfeld von Google Maps und ging auf Street View.
Die Straßenkreuzung in Suwalki wirkte verlassen. Unter einer
geschwungenen Straßenlaterne stand der Papierkorb. Er war aus Beton, der
Deckelaufbau darüber war aus blauem Plastik.
Darin sollte ein Handy für mich befestigt sein?
Ich schaltete zurück auf die Kartenansicht und druckte den
Plan aus. Anschließend holte ich einen Hammer aus unserer Werkzeugkiste unter
der Spüle und zerschlug mein Sparschwein. Den Inhalt tat ich zu dem
Extra-Taschengeld, das Opa mir dagelassen hatte, und zählte nach.
Vorsichtshalber durchstöberte ich die Dosen mit den Gewürzbriefchen in der
Küche und fand noch ein paar Scheine, die dort versteckt waren.
Ich legte sie zu den anderen sowie den Geldstücken neben dem
Flachbildschirm meines Rechners, auf dem die Seite des zentralen Busbahnhofs erschien.
Ich durchsuchte die Fahrpläne.
Dann stopfte ich ein paar Dinge für unterwegs in meinen
Sportbeutel.
Der Bus fuhr erst am Vormittag, in sechs Stunden. Ich konnte
also noch etwas schlafen. Aber ich bekam kaum ein Auge zu und verließ die
Wohnung früher, als ich es sonst tat, wenn ich zur Schule ging. Im Treppenhaus
kehrte ich noch einmal um zurück ins Zimmer und suchte meine Taucherbrille
heraus. Die steckte ich zu den Reisesachen.
Auf dem Bahnhof war schon eine Menge los ‒ Leute aus der ganzen
Welt kamen und reisten ab und drängten mit ihrem Gepäck herum. Auf einer
Anzeigentafel konnte ich überprüfen, wann mein Bus abfuhr.
„Wie alt bist du?“ fragte mich die Frau hinter dem Fahrkartenschalter.
„Zwölf Jahre.“
„Und wo sind deine Erziehungsberechtigten?“
„Ich fahr alleine. Kindersparpreis.“
Den gab es jedoch nur in Begleitung von Erwachsenen.
Außerdem hatte ich nicht mal einen Personalausweis, den man an der Grenze
vorzeigen konnte.
Ich erklärte der Frau, dass es sich bei mir um einen
Spezialfall handele, da ich von einem meiner Erziehungsberechtigten angerufen
worden wäre. „Er kann deswegen gerade nicht hier sein ‒ weil er dringend meine Hilfe braucht!“
Sie ließ nicht mit sich reden, und ich schaute mich nach
einem anderen Schalter um, wo ich hoffentlich mehr Glück hatte. Vielleicht bekam
ich dort ja eine Fahrkarte, wenn ich sagte, mein Vater würde mich in Suwalki vom
Bus abholen.
In der Schlange standen noch eine Frau mit buntem Kopftuch
sowie ein älterer Mann in kurzen Hosen an, der einen kleinen Rucksack zwischen
den Beinen voranschob.
Endlich war ich an der Reihe und sagte, wohin meine Reise
gehen sollte. Der Fahrkartenverkäufer schaute mich durch seine Luke an, da
erklang eine Stimme in meinem Rücken.
„Er fährt mit mir.“
Ich drehte mich um und blickte hoch in das Gesicht eines
Mannes mit Schiebermütze in Mamas Alter, der mir seine weißen Zähne zeigte und
dabei mit dem Auge zwinkerte.
Ich nickte verwirrt zurück, bezahlte und nahm meine
Fahrkarte entgegen.
Der Mann folgte mir zu den Wartesitzen. Etwas stimmte nicht
mit seinem Gang. Er humpelte, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Er
nickte mir noch mal zu und ging dann zu einem Kioskladen, wo es
Reiseverpflegung, Zeitungen und Zigaretten zu kaufen gab.
Als er zurückkam, hatte er zwei Dosen zu trinken dabei ‒ eine reichte er mir.
„Dieter ‒
und wie heißt du?“
„Arthur …“
„Nimm schon, ist in Ordnung.“
„Warum haben Sie das eben gesagt?“
„Dass du mit mir fährst? ‒
Hättest du sonst wohl eine Fahrkarte bekommen?“
Ich beobachtete ihn. Sein Haar, das unter der Schiebermütze
hervorschaute, war etwas fettig, aber voll.
„Mach dir mal keine Sorgen“, sagte er. „Man konnte sehen,
dass es dir wichtig war.“
Er steckte die zweite Dose neben mir zwischen die Sitze.
„Ich muss zu meinem Opa“, schwindelte ich.
„Überraschungsbesuch?“
„Ja …“
„Na, dann will ich mal nicht weiter stören“, sagte er und
tippte an seine Mütze. „Gute Reise.“
„Danke.“
Er verschwand zwischen den Menschen in der Wartehalle.
Mein Bus fuhr erst sehr viel später. Fast den ganzen Tag lauerte
ich zwischen den Wartenden, bis die Anzeigetafel sichtbar machte, dass ich
einsteigen konnte.
Die meisten Reisenden übergaben ihre Koffer vorm Einsteigen
dem Beifahrer. Er prüfte ihre Tickets und verstaute das Gepäck im Frachtraum. Ich
machte einen Bogen um ihn, um bloß nicht wieder nach meiner Begleitperson
gefragt zu werden.
Mit meinem Reisebeutel kletterte ich an Bord des Busses und
nahm möglichst weit hinten Platz.
„Das ist ja eine Überraschung. Fährst du etwa auch nach Suwalki?“
Dieter saß mir im Gang gegenüber.
„Äh, ja“, sagte ich, „klar.“
„Dann wohnt dein Opa in Suwalki?“
„Ja …“
„Warst du schon mal da?“
„Früher … mit meiner Mutter.“
„Dann kennst du ja den Nationalpark.“
Ich … nickte …
„Wigierski“, sagte Dieter, „die glasklaren Seen.“ Auf denen würde
er ein Ausflugsboot steuern für Touristen aus aller Welt und aus Deutschland.
Anschließend half er einer alten Frau, die sich neben ihm
ans Fenster setzen wollte, ihren Mantel in der Ablage über den Sitzen zu
verstauen. Dabei knickte er ein. Er bückte sich zu seinem Fuß, um ihn wieder
gerade zu rücken.
Er bemerkte meinen Blick.
„Der ist künstlich, eine Prothese“, sagte er. „Blöder
Unfall.“
Später erzählte er mir, wie er seinen Fuß verloren hatte: bei
einem Sturz in den Bergen des Himalajas. Damals sei er mit einigen Kumpels
unterwegs gewesen, die ihn liegen gelassen hatten, weil sie ihn für tot
hielten, nachdem er vor ihren Augen in eine Felsschlucht gefallen war.
„Man darf ihnen keinen Vorwurf machen. An ihrer Stelle konnte
man nur glauben, dass es um mich geschehen war.“
„Wieso?“ fragte ich.
„Mal dir das mal bitte aus: Vor deinen Augen fällt jemand
rückwärts über eine Felskante, und du springst hin ‒ schaust nach …“ Er legte eine Pause ein.
Draußen vor dem Busfenster zog im Abendlicht die Landschaft unweit
der polnischen Grenze vorbei.
„Und?“ frage ich.
„Nichts …“ Ich sah nur seinen Hinterkopf auf dem Sitz vor
mir. Der war von Dieter eingenommen worden, nachdem unser Bus die Stadt
verlassen hatte.
„Nichts?“ frage ich verwirrt.
„Man konnte nichts von mir erblicken. Ich war in eine
Aushöhlung der Felswand gefallen. Meine Kumpels konnten sie von oben nicht
einsehen. Sie erspähten nur den schäumenden Gebirgsfluss weiter unten und
mussten denken, dass er mich fortgerissen hatte.“
„Sind sie ohne dich weitergegangen?“
„Yep. Ich musste allein zurechtkommen.“
„Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?“
„Hab ich ja. Aber das Röhren des Gebirgsflusses war zu
stark. Es übertönte alles.“
„Und was hast du dann gemacht?“
„Ich hab mich allein wieder nach oben gearbeitet. Was blieb
mir anderes übrig?“
„Und dann?“
„Bin ich zum nächsten Bergdorf gekrochen, mindestens fünf
Tage.“
„Und dabei hast du dann deinen Fuß verloren?“
„Der war die ganze Zeit noch dran. Aber tat höllisch weh.
Später musste man ihn mir dann abnehmen im Krankhaus von Katmandu. Er war ganz
verfault.“
Dieter blickte die ganze Zeit nach vorne, während er mir mit
leiser Stimme solche Sachen erzählte. Als sollte niemand mitkriegen, dass wir
miteinander zu tun hatten.
Trotzdem hörte ich ihm gerne zu und erzählte ihm auch bald
von mir, der Schule, den Freunden, und Dieter fand, dass ich ein toller Kerl sei.
Als es draußen dunkel wurde, döste er ein. Er bewegte sich
unruhig im Schlaf und knurrte: „Dreckige Zigeuner.“ Auf seinen Handrücken waren
Kratzspuren zu sehen.
Da klingelte sein Mobiltelefon. Mit einem Ruck war er wach
und schaute kurz nach, wer der Anrufer war. Und drückte ihn weg.
„Was guckst du so?“ fragte er mich ‒ und merkte dann, was meine Aufmerksamkeit erregte:
die Kratzspuren.
Er ballte seine Hände und schwang mit den Fäusten ein paar
Boxbewegungen in die Luft, als wolle er jemanden niederschlagen.
Dann schaute er mich grinsend an: „Alles klar?“
Ich nickte, und Dieter beruhigte sich wieder.
Wie ich im letzten Moment meine Haut vor drohender Gefahr rettete.
„He, Schlafmütze!“
Meine Augen flogen auf, und ich erblickte einen Schatten
über mir. Dieter rüttelte mich.
„Wa-was ist …?“
„Eine Stunde Pause!“
Unser Bus war schon weit nach Polen vorgedrungen und hatte
die Hauptstadt hinter sich gelassen. Jetzt stand er auf dem kleinen Parkplatz
einer schwach beleuchteten Raststätte, wo der Fahrer ausruhen musste.
„Wir sind gar nicht mehr so weit von Suwalki entfernt“,
sagte Dieter, als ich mit meinem Gepäckbeutel hinter ihm aus dem Bus stieg.
Ein glitzernder Geländewagen fuhr von der Landstraße heran
und parkte großspurig ein.
Ein kleiner muskulöser Hund sprang aus der sich öffnenden
Fahrertür. Ihm folgte ein riesiger Glatzkopf. Er trug ein Goldkettchen ums
Handgelenk und steckte in einem teuren, zu engen Anzug.
In dem Restaurant brachte Dieter mir ein Tablett mit Pommes
und Würstchen sowie Coca-Cola. Ich war ganz schön hungrig und haute rein.
Der Glatzkopf saß nicht weit von uns. Er hatte sich eine
flache Schale bringen lassen. Auf die legte er Fleischstückchen von seinem
Teller und reichte sie seinem Kampfhund hinunter, der alles gierig verschlang.
Was dann hereinbrach und alles total durcheinanderbrachte,
wäre bestimmt unterblieben, wenn ich nicht allein auf die Toilette gemusst
hätte. Aber ich musste nun mal.
„Groß oder klein?“ fragte Dieter.
„Ich glaube, groß.“
„Gut, dann kann ich inzwischen eine rauchen gehen. Du weißt,
wo die Toiletten sind?“
Ich nickte und machte mich auf den Weg.
Als ich aber mit heruntergezogener Hose auf der Brille saß,
hörte ich auf einmal Dieters Stimme.
War er mir gefolgt?
Nein, sie kam aus dem kleinen Fenster unter der Decke, das
offen stand. Dietmar ging vor dem Gebäude auf dem Kies hin und her.
Er telefonierte.
Und er hatte keine Ahnung, dass ich alles mithören konnte.
Ich wusste nicht, mit wem er redete, aber er erzählte dieser
Person über mich. „Mach dir mal keine Sorgen“, sagte er. „Ich habe ihn völlig
eingewickelt. Er frisst mir aus der Hand. Er glaubt alles, was ich ihm erzähle.“
Mein Herz fing an zu pochen. Log Dieter mich die ganze Zeit
an? Klar, ich hatte ihm auch nicht immer die Wahrheit erzählt, nicht die ganze
jedenfalls. Aber vielleicht war auch das schon zu viel, was er inzwischen über
mich wusste.
Alles würde „sich erledigen“, hörte ich ihn sagen, sobald
wir „bei den Seen“ seien.
Was würde sich erledigen? Bei den Seen?
Und seine Stimme wurde leiser. Ich lauschte gespannt, bekam
aber nicht alles mit. Es ging weiter um mich. Es hörte sich so an, als ob Dieter
sagte, ich würde „tief eintauchen“. Deswegen bringe es nichts, sich den Kopf
über mich zu zerbrechen.
War ich also schon erledigt? Ein wandelnder Toter?!
Unauffindbar auf dem Grund der Wigierski-Seen …
Als ich von der Toilette kam, saß Dieter wieder an unserem
Tisch und winkte mir zu. Er hatte erstmals seine Schiebermütze abgenommen, und
ich konnte seine vollen Haare sehen, die zu einem Zopf zusammengebunden waren.
„Arthur, wo warst du denn? Ich dachte schon, du hast die Biege
gemacht.“
„Alles in Ordnung.“
„Ich hab dir noch eine Cola bestellt.“
„Danke.“
„Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest.“
Alles an ihm kam mir auf einmal verdächtig vor: das freundliche
Lächeln, die weißen Zähne, das Funkeln seiner Augen.
Er begleitete mich zurück zum Bus und nahm wieder Platz auf
dem Sitz vor meinem.
Ich wartete, bis der Fahrer einstieg. Dann schnappte ich
meinen Reisebeutel und rannte plötzlich nach vorne.
„He, Arthur!“ hörte ich in meinem Rücken. „Was ist los? ‒ Warte doch!“
Ich drängte mich durch die sich schließende Bustür, rannte
über den dreckigen Parkplatz und versteckte mich hinter dem Vorbau der
Raststätte.
„Arthur?“ klang Dieters Stimme durch die Dunkelheit.
Ich duckte mich tiefer in den Schatten. Über mir in der Wand
stand etwas offen, und ich erkannte das kleine Fenster, durch welches ich das
Telefongespräch mitgehört hatte.
Plötzlich stand er vor mir, packte mich an beiden Armen. „Was
ist denn auf einmal los mit dir?“
Der Bus hupte.
Dieter blickte sich hastig um. „Wir müssen uns beeilen. Er
fährt sonst ohne uns.“
Ich trat zu und rannte los ‒
zurück über den Parkplatz.
Aber wo sollte ich hin?
Da sah ich, dass die Fahrertür des Geländewagens aufstand. Der
Besitzer stoppte gerade etwas abseits neben seinem Hund, um zwischen die
Mülltonnen zu pinkeln.
Der Motor lief.
Dieter tauchte hinter dem Vorbau auf und erblickte mich. „Arthur!“
Ich rannte zu dem Wagen, warf meinen Reisebeutel auf den
Beifahrersitz und kletterte hinter das Steuer.
„He!“ Jetzt hatte mich auch der Fahrer bemerkt. Hastig
fummelte er am Hosenschlitz. Sein Hund rannte los und bellte wütend.
Ich zog die Tür zu, trat aufs Gas. Der Wagen rollte los ‒ machte einen Satz.
Im Rückspiegel sah sich, wie der Goldkettchenmann sich über seinen
Hund am Boden beugte. Ich wurde langsamer.
Da erschien der rennende Dieter neben der Fahrertür und riss
sie auf. „Mensch, Arthur, mach doch keinen Scheiß!“
Ich lenkte auf die Straße hinaus und düste in die Nacht.
Erst als ich eine längere Strecke gerollt war, hielt ich an
und zog schnell die Tür zu.
Dann fuhr ich gleich weiter und hielt erst wieder an, als
ich ganz sicher war, dass niemand mir folgte.
Wie eine blinde Passagierin mir den Garaus machen wollte.
Ich parkte abseits von der Hauptstraße im Schatten eines
Bahndamms auf einem Waldweg. Am Himmel wurde es heller, bald würde die Sonne
aufgehen.
Ich kramte die Kartenansicht Suwalkis, die mein Drucker zu
Hause ausgespuckt hatte, aus dem Reisebeutel und tippte die Koordinaten in das
Navigationsgerät des Geländewagens.
Ein merkwürdiges Geräusch lenkte mich dabei ab, immer
wieder, dumpf und pochend.
Es schien aus dem Kofferraum zu kommen.
Ich kletterte aus dem Wagen und sah ihn mir von außen an.
Etwas Ersticktes schien daraus zu klingen.
Sollte ich einfach weiterfahren ‒ mit diesem unheimlichen Geräusch im Rücken?
Oder lieber nicht doch vorher nachschauen, was es damit auf sich hatte?
Beide Möglichkeiten waren mir gleich unheimlich. Aber
schließlich zog ich doch den Schlüssel vom Zündschloss und machte mich damit am
Kofferraum zu schaffen.
Kaum war er einen Spalt offen, wurde die Klappe mir so ins
Gesicht gestoßen, dass ich rückwärts stolperte und beinahe hingefallen wäre.
Ein blondes Mädchen sprang ins Freie, sie war nur wenig
älter als ich selbst. Sie hatte ein blaues Auge.
Augenblicklich drehte sie sich wieder um, wühlte im
Kofferraum, dem Klang nach in einer Werkzeugkiste, und sprang dann mit etwas in
der Hand auf mich zu. Im letzten Moment konnte ich sehen, dass es sich um einen
Schraubenzieher handelte.
Den drückte sie mir gegen den Hals.
„Aua!“ schrie ich.
„Ja zakalo“, sagte sie wütend, „vas…“ ‒ und als sie meine
Verwirrung bemerkte: „Ich stech dir ab!“
„Lass mich los!“ sagte ich. „Du tust mir weh!“
„Ha!“ sagte sie und schaute sich böse um. „Vychodzi
bajazlivaj sabaki!“
Später erklärte sie mir, dass es „Kommt raus, ihr feigen
Hunde!“ bedeutete.
Sie lauschte. Niemand antwortete.
„što
adbyvajecca?“ fragte sie mich.
„Ich kann dich nicht verstehen.“
„Wo ist Vater?“ Sie drückte mir den Schraubenzieher an den
Hals.
„In Suwalki“, sagte ich erschrocken.
„Suwalki?“
„Das ist eine Stadt ‒
nicht weit von hier ‒
an der Grenze zu Weißrussland.“
„Ich weiß, wo Suwalki ist“, sagte sie. „Aber wo ist er?“
„Welcher er?“
Sie zeigte auf den Fahrersitz des Geländewagens.
„Der Mann mit dem Hund?“
Sie fuhr zusammen. „Aua!“ schrie ich, weil der
Schraubenzieher tiefer in meine Haut drang. „Er ist nicht hier.“
„Wer hat Wagen gefahren?“
„Ich.“
„Du lügst!“
„Aua, verdammt!“
Sie brüllte wieder in den Wald, der Fahrer solle ich zeigen.
Sonst würde sie seinen Schützling ‒
damit war ich gemeint ‒
abstechen.
Aber es kam niemand aus dem Wald.
Endlich ließ sie den vermaledeiten Schraubenzieher fallen.
Ich solle ihr zeigen, wie ich den Wagen gelenkt hätte. Also setzte ich mich
hinters Steuer und fuhr ein Stückchen den Waldweg hinauf.
Da fragte sie mich, woher ich den Wagen hätte.
Ich erzählte ihr alles: von dem nächtlichen Telefonanruf
über den unerwarteten Auftrag meines Vaters bis zu dem verräterischen Dieter.
Sie glaube mir nichts von alledem, sagte sie, nicht ein
Wort. Höchstens, dass ich den Wagen gestohlen hätte. Dafür werde sie mich bei
der Polizei melden, das hätte ich jetzt davon!
Ich bat sie, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.
Sie schaute mich böse an. „Ich überleg‘s mir“, sagte sie
dann.
„Danke“, sagte ich erleichtert.
„Du musst aber tun, was ich dir sage!“
„Was denn?“
Sie wollte, dass ich sie zurück nach Braunschweig fahre.
„Nach Braunschweig?“
„Da!“ Sie zeigte auf den Navigator im Armaturenbrett des Geländewagens.
Ich trug den Namen der Stadt ein.
„Das sind ja über tausend Kilometer“, sagte ich.
„Du fährst hin!“
„Aber das sind zehn Stunden, mindestens. Da fliegen wir
bestimmt auf.“
Auf dem Bahndamm über uns ratterte ein Zug vorüber, und ich
meinte, wenn sie mit der Bahn nach Braunschweig führe, würde sie viel sicherer
ankommen.
Sie beobachtete mich aus schmalen Augen. „Willst du mich
loswerden, was?“
„Ich könnte dich zum nächsten Bahnhof fahren“, sagte ich.
Sie lachte und meinte, da würde nichts draus. Außerdem könne
ich ihr das Geld für die Fahrkarte geben.
Das hatte ich natürlich nicht.
Dann, meinte sie, müssten wir das Auto eben verkaufen!
Ehe ich‘s mich versah, steuerte ich den Wagen den Feldweg
unter dem Bahndamm entlang, und wir näherten uns einer Kreuzung.
„Da lang!“
„Wieso?“ fragte ich.
„Weil ich so sage.“ Sie kaute nervös auf ihren Nägeln.
Ich bog also ab.
Dann warf sie mir vor, bis jetzt noch nicht nach ihrem Namen
gefragt zu haben. Der sei Zina, und sie komme aus Nawapolozk. Das liege in Weißrussland.
„Du sprichst aber trotzdem Deutsch“, sagte ich.
„Hör mal, nicht alle Weißrussen sind Idioten.“
„Hab ich doch gar nicht gesagt.“
Deutsch habe sie in der Schule gelernt, meinte Zina, und sei
deswegen auch auf dem Weg nach Braunschweig ‒
zum Schüleraustausch.
„Warum warst du denn dann in dem Kofferraum?“ fragte ich.
Zina sah mich schnippisch an. Man habe sie, sagte sie dann,
nach Weißrussland zurückbringen wollen.
„Warum?“
„Weil ich zu gut Deutsch konnte.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Bist du eben schwer von Begriff“, sagte Zina und zeigte auf
einen Traktor, der sich aus der Ferne nährte. „Schnell, da musst du parken.“
„Parken?“
„Na, wir lassen dann die Tür vorne auf und setzen uns nach
hinten.“
„Wieso?“
„Wenn Trecker kommt, denkt er, wir sind Kinder und warten
auf unseren Papa.“
„Und wo ist der?“
„Pipi machen, da hinten.“ Sie zeigte auf eine hohe
Buschgruppe am Bahndamm. „Mach schon, Schlafmütze!“
Ich hielt den Wagen an. Wir kletterten, so schnell es ging,
auf die Rückbank.
Der Traktor wurde von einem dicken Bauern gefahren. Er hielt
neben uns auf der Wiese.
Der Mann sagte oder fragte etwas, ich wusste es nicht so
genau, denn es war auf Polnisch. Zina stieg aus und redete mit ihm. Sie
gestikulierte, und ich hörte das Wort „Papa“. Sie zeigte auf die Buschgruppe.
Der Bauer gab schließlich Gas und tuckerte weiter. Zina
kletterte zurück zu mir auf den hinteren Sitz des Geländewagens.
„Sprichst du Polnisch?“ fragte ich.
„Das war Belarussisch“, sagte sie. „Aber die Polen verstehen
das. So wie die Holländer verstehen Deutsch.“
„Hat er gesagt, wie weit es ist nach Suwalki?“
„Könnte dir so passen“, knurrte sie, „abhauen nach Suwalki.
Erst verkaufen wir Auto!“
„Wer wird denn uns zwei Kindern ein Auto abkaufen?“
Das solle ich mal ihre Sorge sein lassen, erwiderte Zina.
Außerdem sei sie kein Kind mehr.
Wie ich eine unglaubliche Geschichte erfuhr und in weitere Schwierigkeiten
geriet.
Ich fuhr den Wagen also langsam aus dem Gebiet der Feldwege
auf eine Promenade.
„Suwalki“ stand
dort auf einem der Straßenschilder zwischen anderen Ortsnamen. Und dass es nur
noch wenige Kilometer bis Suwalki waren. Am Horizont war eine Stadt zu sehen.
Das konnte Suwalki sein.
Aber Zina hatte erst mal andere Pläne. Listig zeigte sie in
Richtung sehr vieler Autos, die vor der Stadt auf einer Grasfläche
beieinanderstanden. Ganz bestimmt, meinte sie, sei das ein Gebrauchtwagenmarkt.
„Da kriegen wir unseren hier bestimmt los!“
Sie stöberte in den Fächern der Türen und unter der
Ablageklappe des Armaturenbretts.
„Was suchst du denn?“ fragte ich.
„Fahrzeugpapiere“, sagte sie. „Idiot!“
„Sag mal, Zina, warum nennst du mich eigentlich jedes Mal
Idiot, wenn ich dich mal was frage? Du weißt auch nicht alles.“
„Was weiß ich nicht?“ fragte sie gleich zurück.
„Wie viele Ziegelsteine braucht man, um ein Haus aus
Ziegelsteinen fertig zu bauen?“
„Tausend“, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Einen.“
„Idiot! Kann man doch aus einem Ziegelstein kein Haus bauen.“
„Aber fertig baut man es mit einem Stein, dem letzten.“
Sie schaute mich böse an. „Das war Trick!“
„Ja, aber es stimmt, oder? ‒
Jetzt frage ich dich noch was: Was wird nass, wenn es trocknet?“
Man konnte sehen, wie sie nachdachte.
„Und?“ fragte ich.
„Ich weiß es.“
„Und?“
„Sag ich nicht. ‒
Bieg mal auf Wiese, da!“
Inzwischen hielt sie einen Plastikumschlag in den Händen mit
den Fahrzeugpapieren, die ihr Forschungsdrang gefunden hatte.
Ich ließ unseren Wagen am Rand der anderen ausrollen und zog
die Handbremse.
Zina sprang mit dem Plastikumschlag in ihrer Hand heraus.
Ich folgte ihr, damit niemand sah, dass ein Kind am Steuer saß.
„Du bleibe hier und behalte alles hier im Auge!“ sagte sie.
Sie selber wollte inzwischen einen Käufer finden.
Ich beobachtete, wie sie zu den anderen Autos lief und dort zwischen
den Kaufinteressenten herumstrich. Sie zog den Inhalt des Plastikumschlags
heraus und zeigte die Papiere herum.
Einer der angesprochenen Männer zog schließlich sein Handy
heraus und telefonierte. Nachdem er damit fertig war, nickte er.
Zina rannte mit dem Papier wedelnd zu mir zurück.
Sie strahlte: Unser Wagen sei so gut wie verkauft!
Ich schlug vor, den Geschäftserfolg an der Würstchenbude zu
feiern, deren köstlicher Duft mir seit unserer Ankunft um die Nase wehte.
„Hast du Geld?“ wollte Zina gleich wissen.
Ich zeigt ihr meine Ersparnisse, und sie zählte alles genau
ab.
„Viel ist nicht“, sagte sie.
„Kannst dein Würstchen ja selber bezahlen, wenn du mehr hast“,
sagte ich, als ich dem Verkäufer das Geld reichte. „Oder willst du gar keins?“
Zina biss hungrig ab.
„Warst du schon in Braunschweig?“ fragte sie mich mit vollem
Mund.
Ich wusste nicht mal genau, wo diese Stadt liegt.
„Zwischen Wolfsburg und Salzgitter!“ erklärt Zina mir.
Dorthin wolle sie gehen. „Austauschschülerin.“
„Wieso ausgerechnet nach Braunschweig?“
Zina meinte, das Standbild des Löwen habe ihr am besten
gefallen in dem Prospekt. Er stehe in Braunschweig auf dem Burgplatz.
„In welchem Prospekt denn?“ fragte ich.
Sie erklärte mir, dass es in Nawapolazk, ihrer Heimatstadt,
ein kleines Reisebüro für Frauen gebe.
„Für Frauen?“
Zina nickte. Es vermittele junge Frauen, sagte sie, nach
Deutschland ‒ als
Kellnerinnen. „Und als Austauschschülerinnen“, fügte sie hinzu. Da habe sie
sich unter den angebotenen Städten Braunschweig ausgesucht.
Zinas Oma hatte die Vermittlungsgebühren bezahlt. Danach war
Zina mit anderen Mädchen, die schon etwas älter waren, in einem kleinen Bus
losgefahren.
In Deutschland brachte sie ein Freund des Reisebüro-Mannes
in einer großen Wohnung über seinem Geschäft unter und sammelte alle ihre Pässe
ein.
„Alle Pässe?“ fragte ich.
„Sicherheitsgründe“, sagte Zina.
„Aber warum?“
„Das hat er uns nicht erklärt.“
Nicht mal auf die Straße gehen durften die Mädchen danach.
Sie konnten alle sowieso kein Deutsch und hätten sich daher bei niemandem
erkundigen können. Nur Zina verstand etwas von der Sprache und war schließlich
aus der Wohnung heruntergekommen, um sich zu erkundigen, wo sie überhaupt
gelandet waren.
„In Braunschweig?“ fragte ich.
„Nee“, sagte Zina. Die Stadt habe ganz anders geheißen.
„Damit wird‘s nichts“, habe ihr der Mann dann gesagt, der
sie alle unterbrachte. Braunschweig könne sie vergessen.
Zina wollte sofort zur Polizei. Um sich zu verschweren.
Der Mann bekam einen ganz schönen Schreck. Ein Mädchen, das
so gut Deutsch sprach, hätte er noch nicht erlebt. Und deswegen sei Zina dort
gelandet, wo Arthur sie gefunden habe. Denn sie sollte schleunigst zurück nach
Nawapolazk und dort Ruhe geben.
„Aber da haben sie sich geschnitten!“ sagte Zina.
„Was hast du denn jetzt vor?“ fragte ich.
„Auto verkaufen!“
„Und dann?“
„Zurück nach Deutschland!“ Sie beobachtete mich. „In deine
Schule ‒ nehmen sie
auch Austauschschüler?“
„Glaub schon …“
„Du sagst, ich bin deine Freundin. Dann nehmen sie mich.“
Sie zwinkerte mir zu. Dann rief sie auf einmal „Jimmy Aaja!“ und fing laut an
zu singen. „Jimmy, Jimmy ‒ Aaja,
Aaja ‒ aajare prosto
govorit, yeh jagi jagi raath …“
Es war der Text zu einem Song, der aus dem kleinen
Fernseher, der hinten in der Würstchenbude stand, dröhnte. Die Leute auf dem
Bildschirm tanzten dazu in indischen Kostümen.
Ich verstand nur Bahnhof.
Zina forderte mich auf mitzusingen: „Jimmy, Jimmy, Jimmy,
aaja, aaja, aaja ‒ Jimmy,
Jimmy, Jimmy, aaja, aaja, aaja …“
Es war ein berühmter indischer Song, nach dem ganz Russland
verrückt war, erfuhr ich später. Und die Weißrussen fanden ihn auch toll.
Während Zina noch lauthals sang, bemerkte ich den Mann, den
sie angesprochen und der danach mit seinem Handy telefoniert sowie genickt
hatte. Er winkte einen Wagen zu sich heran, der von der Straße her auf die
Wiese bog.
Der Wagen hielt, die Fahrertür ging auf, und heraus kam ‒ eine Vorderpfote in
einem Verband.
Der kleine muskulöse Hund!
Ihm folgten die glänzenden Schuhe des riesigen Goldkettchen-Glatzkopfes
in seinem zu engen Anzug.
Durch ihr Herumzeigen der Fahrzeugpapiere hatte Zina den
Wagenhalter bekannt gemacht. Jetzt war er aufgetaucht, und es ging uns an den
Kragen.
Der Hund hatte mich schon erkannt und stürmte bellend heran.
Zum Glück machte seine geschiente Vorderpfote ihn etwas langsamer.
Ich wechselte einen kurzen Blick mit Zina. Wir rannten los.
Tauchten zwischen die herumstehenden Fahrzeuge.
Ich rannte geduckt und kroch unter mehreren Kombis hindurch,
deren Türen weit offen standen. Der Köter erwischte mich am Hosenbein, aber ich
trat ihn auf die Nase. Er jaulte und blieb zurück.
Zina schrie, und ich erblickte den Plastikumschlag ‒ mit unseren
Wagenpapieren ‒ vor
mir im Gras. Ich griff danach und rannte zu dem Wagen, mit dem wir gekommen
waren. Dort legte ich alles ins Handschuhfach.
Die Stimme des Glatzkopfs erscholl. Er rief meinen Namen.
Ich lugte um die Ecke eines Wohnmobils, das zum Verkauf
stand, und sah, dass der Kerl Zina den rechten Arm auf den Rücken gedreht
hatte.
Sie wimmerte.
Wenn ich nicht endlich herauskäme, sagte er laut, würde er Zina
die Schulter auskugeln.
„He!“ rief ich und trat ihm entgegen. „Lass sie in Ruhe.“
Ich solle mal bloß nicht frech werden, sagte er. Ich hätte sein
Auto geklaut!
Ein Blaulichtwagen kurvte auf die Wiese, und zwei Polizisten
kletterten heraus.
Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, da sie natürlich
polnisch redeten, aber Zina konnte sich einen Reim darauf machen.
Sie wollen wissen, sagte sie mir, um wessen Auto es gehe.
In dem Geländewagen steckten die Schlüssel, und die Papiere
lagen im Handschuhfach.
Der Kerl, der Zina inzwischen losgelassen hatte, gab zu,
dass es sich um sein Auto handele.
„Und wo liegt das Problem?“ fragte der kleinere Polizist auf
Polnisch.
Das Problem sei der Spinner mit seinem Kampfhund, sagte Zina
laut. „Der beschuldigt uns, sein Auto geklaut zu haben.“
Die Polizisten blickten zwischen ihr, mir und dem Glatzkopf hin
und her.
„Dabei kann doch jeder sehen, dass wir Kinder sind“, sagte
Zina.
Ob Kinder denn vielleicht Auto fahren könnten?
Die Polizei wollte wissen, wer Zina ist.
„Ich bin eine Austauschschülerin. Wenn ihr mir nicht glaubt,
fragt den da.“ Sie zeigte auf mich. „Wir sind Klassenkameraden.“
„Stimmt das?“ fragte mich der Polizist.
Ich spürte Zinas Finger in meinem Unterarm, kurz davor, mich
zu kneifen, wenn ich das falsche sage.
„Ja“, antwortete ich.
„Und was habt ihr dann hier in Ostpolen verloren?“
„Wir besuchen meinen Vater“, sagte ich. „Der wohnt in
Suwalki.“
Der Polizist wandte sich an den Besitzer des Geländewagens
und fragte ihn, ob er Zina kenne.
Er schüttelte den Kopf. Es sollte natürlich nicht
herauskommen, dass er sie der Freiheit beraubt hatte.
Und mich? War ich ihm bekannt?
Der Glatzkopf zögerte.
Es läge da wohl eine Verwechslung vor, meinte er
schließlich.
„Und was ist mit dem Auto?“
„Das gehört mir“, sagte er. Es sei gestern von einer
Raststätte verschwunden, jetzt aber hier wieder aufgetaucht. In tadellosem
Zustand. Er würde es gerne wieder in Besitz nehmen. „Wenn es erlaubt ist.“
Die Polizei hatte keine Einwände.
Also stieg der Kerl hinter das Steuer und pfiff seinen Hund
herbei. Der sprang auf den Beifahrersitz.
„Willst du der Polizei nicht sagen, was er mir dir
angestellt hat?“ sagte ich leise zu Zina.
„Dann schicken die mich doch nur zurück nach Hause. Ich will
aber mit dir auf dieselbe Schule.“
Die Polizei fragte, was wir da zu bereden hätten.
„Ani
krzty“,
sagte Zina. Das war Polnisch und heißt so viel wie „gar nichts“.
Wie eine unsichtbare Stimme uns sagte, wo wir hingehen sollten, und Zina
ihr erst nicht folgen wollte.
Der Polizeiwagen nahm uns sogar mit nach Suwalki.
Am Stadtrand fuhren wir vorbei an einem neuen Einkaufszentrum
und weiter zwischen die Häuser, bis wir zu einer schneeweißen Kirche kamen, die
wie ein Tempel aussah mit zwei Türmen.
Die Polizisten hielten an und fragten mich, wo mein Vater
wohne.
Ich antwortete, dass ich den Namen der Straße nicht richtig
wisse, weil er zu schwer für mich auszusprechen sei. Sie sollten weiterfahren,
dann würde ich ihnen mitteilen, wo sie uns aussteigen lassen sollten.
Also kutschierten wir noch etwas in der Stadt herum. Irgendwann
sagte ich dann: „Hier steigen wir bitte aus.“ Es war an einem Platz mit dem
Standbild einer Frau und eines Kindes, dem sie die Hände auf die Schulter
legte.
Nachdem das Polizeifahrzeug sich entfernt hatte, kramte ich
die Karte Suwalkis aus meinem Reisebeutel, auf der ich die Stelle mit dem
Papierkorb markiert hatte.
„Was willst du von Papierkorb?“ fragte Zina.
Ich erklärte ihr, dass darin ein Handy befestigt sei ‒ mit weiteren
Anweisungen.
Zina schaute skeptisch, half mir dann aber doch beim Durchfragen.
Bis wir den Papierkorb gefunden hatte.
Die Straßenkreuzung wirkte verlassen. Unter einer
geschwungenen Straßenlaterne stand der Papierkorb. Er war aus Beton, der Deckel
darüber war aus blauem Plastik. Wie auf dem Street-View-Bild.
Und in dem Deckel war tatsächlich das versprochene Handy
befestigt. Zina staunte nicht schlecht, als ich es hervorholte.
Ich wählte die einzige Nummer in dem Telefonbuch des Geräts.
Die bekannte Stimme meldete sich. Sie fragte, ob es mir gut gehe,
und wirkte erleichtert, als ich bejahte.
Nachdem das Gespräch vorbei war, sagte ich zu Zina: „Wir
müssen den Bus nehmen.“
„Welchen Bus?“
„Nummer 5.“
„Wohin geht?“
„Zu einem Campingplatz.“
„Wo?“
„Ich glaub, in den Nationalpark. An der Endstation werden
wir abgeholt.“
Zina gefiel der Gedanke nicht. Trotzdem half sie mir dabei,
den kleinen Busbahnhof von Suwalki zu finden.
Die ganze Zeit sah sie sich unruhig um. Sie hatte Angst, der
Glatzkopf würde sie wieder einfangen.
„Wieso denn?“ fragte ich.
„Das verstehst du nicht.“
„Wenn du‘s mir gar nicht erst erklärst …“
Zina meinte, der Kerl hätte den Auftrag gehabt, sie wieder
in Weißrussland abzuliefern. Weil sie in Deutschland zu viele Fragen gestellt hätte.
Und solche Typen hielten meistens ihr Wort, weil sie sonst keine Entlohnung
bekommen würden.
„Warum hast du ihn dann nicht angezeigt?“ fragte ich.
„Wann?“
„Vorhin bei der Polizei.“
Zina schnaubte. „Die hätten doch auch nur dafür gesorgt,
dass ich nach Hause komme.“
„Ist das denn so schlimm?“
„Ich will aber mit dir auf die Schule“, sagte sie, „Austauschschülerin.“
Tja, ich musste in Suwalki nur noch was erledigen.
Zina fragte mich, ob ich meinen Vater überhaupt schon mal
gesehen hätte.
„Nicht, seit ich ein Baby war“, gestand ich. „Aber daran
erinnere ich mich natürlich nicht mehr.“
„Dann weißt du gar nicht, wie er aussieht.“
„Wer?“
„Papa.“
„Na und?“
„Ist gefährlich.“
„Geh du doch zur Polizei, wenn es dir alles zu gefährlich
ist.“
Dann saßen wir in dem kleinen Linienbus mit der Nummer 5 und
fuhren hinaus in die Landschaft des Nationalparks, die sehr waldig war.
Zina fragte mich, was mein Vater denn nach all den Jahren
von mir wolle.
„Kann ich noch nicht sagen“, antwortete ich. „Aber am
Telefon klang es ziemlich dringend. Er braucht meine Hilfe.“
„Wobei?“
„Das weiß ich nicht.“
„Und was, wenn das war ein Wildfremder am Telefon?“ meinte
Zina.
„Aber warum hätte mich jemand anrufen sollen, der mich nicht
kennt?“
Sie zuckte mit den Schultern.
Was wir beide nicht wussten: Inzwischen war der Glatzkopf
wirklich am Busbahnhof aufgetaucht. Man konnte ihn beim Fahrkartenschalter
sehen, wo er auf die Frau hinter der kleinen Luke einredete.
Neben ihm am Boden stand der kleine muskulöse Hund ‒ mit einer metallenen
Vorderpfote.
Die Frau hinter dem Schalter schüttelte den Kopf.
Da hielt ihr der Glatzkopf ein Foto hin.
Es zeigte eine Gruppe lachender junger Frauen. Um das
Gesicht der mittleren war mit Blaustift ein Kreis gezogen worden. Wenn man
näher hinschaute, konnte man sehen, dass es Zina war.
„Die da suchen Sie?“ fragte die Frau. „Ich hab sie gesehen.“
Wie ich endlich das Geheimnis meines Vaters erfuhr und was ich für ihn tun
sollte.
Zina und ich stiegen als einzige Fahrgäste an der
Nationalpark-Haltestelle aus.
„Kemping“ stand in verblassenden Buchstaben über dem Eingang
zu einem Platz.
Der Bus fuhr weiter. Niemand war aufgetaucht, um uns
abzuholen.
Mein Handy meldete sich. Der Anrufer wollte wissen, wer das
Mädchen sei, das ich bei mir hatte.
„Das ist eine Freundin“, sagte ich. „Die hab ich unterwegs
kennengelernt.“
Am Telefon herrschte Stille.
„Hallo?“ rief ich hinein.
„In Ordnung“, meinte der Anrufer. Ich solle mit ihr auf den
Campingplatz zu einer der Gästehütten kommen.
Bungalow D stand wie ein kleines Hexenhäuschen zwischen den hohen
Bäumen am hinteren Ende des Platzes, der sonst ziemlich leer war.
Zina und ich gingen hinein und fanden einen gedeckten Tisch.
Das Handy meldete sich wieder.
Wir sollten anständig reinhauen, meinte der Anrufer.
„Wo bist du denn?“
„Ganz in der Nähe.“
Zina beobachtete, wie ich nickte, ohne mitzubekommen, was mir
durch das Handy gesagt wurde.
Ich erklärte es ihr. „Er hat gesagt, dass wir nicht zusammen
gesehen werden dürfen.“
„Wer?“
„Mein Vater“, sagte ich trotzig.
„Ihr dürft nicht zusammen gesehen werden? ‒ Warum?“
„Weil es zu gefährlich ist.“
„So ein Quatsch.“
„Wir sollen den Computer anmachen.“
„Welchen Computer?“
Ich suchte herum in dem kleinen Ferienbungalow und entdeckte
den Klapprechner auf einem Brett mit einem Stuhl davor unter dem Fenster.
Ich drückte den Startknopf.
„Ist er aber schon komischer Vogel.“
„Wer?“
„Dein Vater.“
„Ach ja?“ sagte ich. „Er wird schon seine Gründe haben.“
Wieder sahen wir nicht, wie an der Bushaltestelle inzwischen
die Geländelimousine parkte, aus deren Kofferraum ich Zina befreit hatte.
Klick-klick-klick
machte es vom Campingplatz her ‒
das war die Metallpfote des kleinen Kamphundes auf dem Plattenweg, der
zu den Bungalows weiter hinten führte.
Dort schaute der Glatzkopf in die verschiedenen Fenster ‒ sah ein älteres Ehepaar
beim Abendessen, in einem anderen Bungalow eine Familie mit Kindern.
Dann näherte er sich Bungalow D.
Aus dem Inneren war eine Männerstimme zu hören, leicht
verzerrt.
Der Glatzkopf wurde langsamer, packte seinen Hund am
Halsband und schlich unter das Fenster, um zu lauschen.
Die Männerstimme, die er gehört hatte, kam aus dem
Lautsprecher des Klapprechners, vor dem Zina und ich saßen. Auf dem Bildschirm
war ein Kartenausschnitt der Nationalparkseen zu sehen. Darüber bewegte sich
von Geisterhand ein Mauszeiger.
Er setzte eine Markierung.
„Das ist der Campingplatz“, sagte die Stimme aus dem
Lautsprecher. „Und hier drüben“ ‒
eine weitere Markierung wurde in den See gesetzt ‒
„befindet sich das Auto.“
„Im Wasser?“ fragte ich.
„Das hab ich dir doch erklärt“, sagte sie Stimme. „Ich musste es verschwinden lassen. Sonst
hätten sie mich erwischt … und dann …“ Auf dem Bildschirm erschien ein nervöses
Smiley mit lang herausgewürgter Zunge.
Zina hielt mich am Arm zurück und legte den Finger vor den
Mund.
Sie bewegte sich behutsam vor zu dem Fenster, das einen
Spalt offen stand, und schaute nach.
Ich tat es ihr gleich.
Aber nichts Verdächtiges war zu sehen.
Weil der Glatzkopf eng an die Wand neben dem Fenster
gepresst stand. Der Hund lauerte in dem Raum unterhalb des Hauses, das auf
niedrigen Pfeilern aus Ziegelstein stand.
„In dem Auto muss sich etwas Wertvolles befinden“, drang die
Lautsprecherstimme durch dem Fensterspalt nach draußen.
„Was denn?“ fragte meine Stimme.
„Das weiß ich nicht. Deswegen musst du ja nachgucken.“
Auf der anderen Seite des kleinen Hauses öffnete Zina die
Tür und trat hinaus in die Dämmerung. Sie schlich vorsichtig um das Haus.
Neben und unter dem Fenster, aus dem meine Stimme erklang,
war inzwischen niemand mehr zu sehen.
„Alles klar, Arthur“, klang die Lautsprecherstimme durch den
Fensterspalt. „Morgen schaust du nach.“
„Okay.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
*
Als es Abend wurde, hatte Zina den Tisch abgeräumt und
reinigte das Geschirr in der Mini-Spüle des Häuschens, während ich noch etwas
an dem Klapprechner nachschaute.
Sie sagte laut, ich könne mal helfen beim Abtrocknen. Ich
kam zu ihr und nahm das Geschirrtuch.
„Komisch ist das schon“, meinte ich.
„Was?“
„Na, das mit dem Auto ‒
in dem See …“
Zina vermutete, Papa habe das Auto in den See gefahren, weil
sich ein Schatz darin befand ‒
um ihn zu verstecken.
„Vielleicht in dem Reservereifen“, sagte ich.
„Was ist mit dem?“ fragte Zina gleich zurück.
„Na ja, ich soll den Reservereifen hochholen. Das hat er mir
gesagt, als du draußen warst zum Nachschauen.“
„Alles klar“, sagte Zina.
„Aber … warum macht er das nicht selbst?“
Weil er wahrscheinlich unter Beobachtung stehe, meinte Zina.
Es gebe wahrscheinlich Personen, die Papa die ganze Zeit nicht aus den Augen lassen
würden,
„Wieso das denn?“ fragte ich.
Es gehe um ihr Eigentum, meinte sie. Oder sie seien selbst
hinter dem Schatz her.
Papa wurde also beschattet. Aber wie war es überhaupt so
weit gekommen?
„Hat er Auto vielleicht okkupiert“, sagte Zina.
„Okkupiert?“
„Na, skrasci“,
sagte sie auf Weißrussisch und machte dabei eine Bewegung, wie wenn man sich
etwas in die Tasche steckt.
„Mein Vater ist kein Dieb.“
„Woher willst du wissen? Hast du ihn ewig nie gesehen.“ Es
sei aber sowieso egal, wie er in den Besitz des Autos gekommen wäre, fuhr sie
fort, auf jeden Fall dürfte ihm auf einmal klar geworden sein, dass er etwas
sehr Wertvolles an Bord habe.
„Wie denn?“
„Weil sie hinter ihm her waren.“
Zina verdrehte die Augen, weil ich so schwer von Begriff war.
Mal angenommen, erklärte sie, ich ließe irgendwas mitgehen, zum Beispiel eine
Flasche im Supermarkt, und auf einmal seien alle hinter mir her ‒ würde ich mir da keine
Gedanken machen?
„Was für Gedanken?“
„Dass Flasche vielleicht wertvoller ist, als du erst gemeint
hast.“
„Warum sollte sie wertvoller sein?“
„Hat jemand was drin versteckt … tausend Euro. Aber du weißt
noch nicht. Aber auf einmal merkst du, da ist was.“
„Weil andere unbedingt die Flasche von mir wollen?“
„Jetzt hast du‘s aber kapiert.“
„Und die Flasche ist das Auto?“
„Prava.“ Papa habe
es in dem See versenkt, um das Wertvolle an Bord ‒
was es auch immer war ‒
nicht in die Hände jener Leute fallen zu lassen, die ihn darauf
aufmerksam gemacht hatten.
„Aber was ist es jetzt?“
„Was?“
„Das Wertvolle.“
„In dem Auto?“
„Ja.“
Zina zuckte mit den Schultern. Vielleicht wisse Papa das ja
nicht mal selber, habe inzwischen nur herausgefunden, dass es sich womöglich in
dem Ersatzreifen befindet. Nachschauen könne er jedenfalls nicht, ohne das
Versteck der „Schatzkiste“ zu verraten.
Deswegen hatte er mich also geholt. Wenn Zina im Recht war,
wurde mir jetzt einiges klarer. Infolgedessen durfte ich auch nicht in Papas
Gesellschaft gesehen werden.
Trotzdem gefiel mir der Gedanke nicht, dass mein Vater ein
Dieb sein sollte.
Zina sah es lockerer. „Hier ist Grenzgebiet.“
„Da ist es in Ordnung, zu klauen?“
Im Grenzgebiet, zwischen Polen und Weißrussland, meinte
Zina, werde an manchen Dingen nun mal weniger Anstoß genommen. Mit dem „Diebstahl“,
über den ich mir den Kopf zerbräche, würde garantiert etwas nicht stimmen, sonst
wären die Beraubten zur Polizei gegangen. Stattdessen belauerten sie lieber Papa,
damit er sie früher oder später zu dem Auto ‒
zu dem, was in ihm steckte ‒
führte.
Ich war geholt worden, weil mich niemand hier kannte. Wenn
ein deutscher Touristenjunge in einem der Seen des Nationalparks herumtauchte,
würde kein Mensch denken, dass es mit dem Auto, nach dem überall gesucht wurde,
zu tun haben konnte. Solange dieser Junge nicht in Gesellschaft von Papa beobachtet
wurde.
Aus diesem Grunde hatte er sich also bisher noch nicht bei
mir sehen lassen.
Oder?
Zina und ich beschlossen, morgen genau an der bezeichneten Stelle
im See nach dem Auto zu tauchen.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und wir bemerkten
nicht, wie der Glatzkopf mit seinem Kampfhund unter unserem Bungalow
hervorkroch.
Er musste alles mitgehört haben, was Zina und ich besprochen
hatten.
Wir sahen nicht, wie er den Dreck von seinem teuren Anzug klopfte
und sich mit seinem Hund zurück zu der Geländelimousine schlich, die vor dem
Eingang unter dem Schild mit den verblassenden Buchstaben „Kemping“ geparkt war.
Wie ich immer tiefer tauchte und nicht merkte, dass mich jemand dabei beobachtete.
„Arthur! Schlafmütz!“ Zina ruckelte mich wach.
Als ich zu ihr in den Wohnbereich kam, staunte ich nicht
schlecht. Ein Frühstückstisch wartete. Zina hatte neben Tassen und Tellern geschmackvoll
die restlichen Vorräte aus dem Kühlschrank aufgedeckt. Das Ganze sah aus wie
ein Festmahl.
Der Klapprechner war so aufgebaut worden, dass die kleine
Webkamera alles aufnahm, und ich musste mich für mehrere Aufnahmen zu Zina
setzen. Die lud sie gleich hoch in ihr Facebook-Profil.
Ich konnte nicht lesen, was sie dazu geschrieben hatte, da es
auf Weißrussisch war. Aber wir sahen aus wie das perfekte Pärchen. Ihre
Freundinnen, meinte Zina, würden vor Neid platzen!
Wir frühstückten gut gelaunt. Danach suchte ich meine
Badesachen ‒ samt
Taucherbrille ‒ aus
dem Reisebeutel. Zina kümmerte sich um eine Rolle Seil, die sie in dem Bungalow
aufstöberte.
Am Rechner öffnete ich inzwischen nochmals den Kartenausschnitt
mit der rot markierten Stelle im See und prägte mir alles ein.
Dann machten wir uns auf den Weg.
Wir mussten eine ganze Weile im Bus fahren, vorbei an klaren
Seen und durch die Naturparkwälder, um in die Nähe der Stelle zu gelangen, die
auf dem Kartenausschnitt markiert war, den ich mir ausgedruckt hatte.
Wir stiegen mit unseren Sachen aus dem Bus, und ich verglich
die Landschaft vor uns noch einmal mit dem Ausdruck, den ich in der Hand hielt.
Am Ufer erstreckte sich der Biergarten eines kleinen Kiosks,
und ein Steg führte ins Wasser, an dem Ruderboote dümpelten, die man leihen
konnte. Eines lag weiter draußen auf dem See mit einem Mann an Bord, der
bewegungslos seine Angel ins Wasser hielt.
Wir gingen zu dem Kiosk, und Zina redete mit der Frau, die
ihn betrieb: ob wir uns eines des Boote leihen könnten.
Das war möglich, ja. Aber es mussten fünfzig Euro als
Sicherheitsleistung hinterlegt werden, und so viel Geld hatten wir beide nicht
dabei. Zina flehte und bettelte, und schließlich gab uns die Frau das Boot, das
wir wollten, auch nur für den Mietpreis.
Wir packten unsere Sachen hinein und legten von dem Steg ab.
Den Mann, der an einem der Ufertische des Biergartens saß,
hatten wir nicht weiter beachtet. Daher sah ich auch nicht, wie er uns heimlich
nachschaute, während wir auf den See hinaus ruderten. Sonst hätte ich mich
wahrscheinlich ganz schön erschrocken.
Es war nämlich Dieter.
In der Mitte des Sees setzte ich mir meine Tauchbrille auf
und sprang ins Wasser. Zina wartete, bis ich wieder auftauchte. Einmal.
Zweimal.
Sie machte sich Sorgen, dass ich zu lange unten blieb, und
bestand darauf, mir den Strick umzubinden, den sie mitgebracht hatte, damit sie
mich jederzeit wieder hochziehen konnte.
Als ich das nächste Mal eintauchte, war die Sonne hinter
einer Wolke hervorgekommen, und ihre Strahlen drangen in den klaren See.
Wasserstaub schwebte in ihren Lichtschächten. Ich konnte Fische erkennen.
Tiefer und in der Ferne aber blitzte etwas ‒
der Rückspiegel eines Autos.
„Ich hab nur die Umrisse erkannt“, sagte ich, als ich wieder
auftauchte.
„Ist in Nähe des Ufers, richtig?“
„Woher wusstest du das?“
Wenn das Auto ins Wasser gefahren wurde, meinte Zina, um es
dort zu verstecken, konnte es kaum in der Mitte des Sees liegen. „Ist doch
logisch.“
Es befand sich unter dem Wasser beim anderen Ufer, das dem
Kiosk-Biergarten gegenüberlag. Dort ruderten wir hin, und ich sprang noch mal in
das kalte Nass.
Es war ganz schön tief hier!
Aber das Auto befand sich unten und konnte von allen Seiten
erreicht werden. Den Reservereifen musste man nur losschrauben, dann würde er
wahrscheinlich nach oben kommen.
Ich holte tief Luft und tauchte nach unten ‒ fummelte dort am
Kofferraum des Autos herum. Bis er aufging. Eine Luftblase stieg daraus nach
oben. Ich folgte ihr, um an der Oberfläche Luft zu schnappen.
Dann war ich wieder unten und entdeckte ‒ in dem Kofferraum ‒ eine Werkzeugkiste.
Ich musste wieder hoch, um aus- und einzuatmen. Beim
nächsten Abtauchen holte ich so viel Kram wie möglich aus der Kiste.
„Was ist das?“ fragte Zina, als ich die Sachen ins Boot
warf.
„Rohrschlüssel“, keuchte ich.
„Wofür?“
Ich erklärte ihr, wo der Ersatzreifen lag und befestigt war ‒ durch Schrauben, die ich
mit dem richtigen Rohschlüssel lösen konnte.
Dann tauchte ich zurück ins Wasser und machte mich an die
Arbeit. Ich probierte verschiedene Schlüssel, bis ich den richtigen gefunden
hatte.
Die Sonne schien auf mich durch die bewegte Wasseroberfläche,
und in ihren Strahlen kam es mir auf einmal vor, als ob ein kleiner muskulöser
Hund auf mich zu schwamm, dessen Vorderpfote in einer Beinschiene steckte. Oder
bildete ich mir das alles nur ein?
Ich schaute mich unter Wasser um, konnte aber nichts entdecken,
während der Hund, wie mir erst später klar wurde, an Bord des Ruderbootes
kletterte, in dem der bewegungslose Angler saß. Dieser fummelte am Halsband des
Köters, wo sich eine kleine Unterwasserkamera befand, die er über ein Kabel mit
seinem Smartphone verband.
Auf dessen Anzeigefläche konnte er nun sehen, wie ich unter
Wasser den Ersatzreifen löste, der aber nicht aufstieg, sondern auf den
Seeboden sank.
Seine Goldkettchen klimperten vor Erregung.
Zina wurde ganz aufgeregt, als sie von mir hörte, der Ersatzreifen
sei auf den Boden gesunken. Wenn er nur Luft enthalten hätte, meinte sie, wäre
er an die Wasseroberfläche gekommen.
So aber …
Ich hatte eine Idee! Wir würden das Seil an dem Reifen
befestigen.
„Und dann?“ fragte Zina.
„Na, wir rudern mit dem Seil zum Ufer und ziehen den Reifen
dort an Land.“
Zina schaute mich an. „Worauf wartest du?“
„Halte das Seil aber fest!“
Ich sprang ins Wasser, tauchte ab. Unten über dem Seegrund
löste ich das Seil von meiner Hüfte und befestigte es, so gut es ging, an dem Reifen.
Wie auf einmal alle hinter uns her waren.
Buschwerk besetzte das Ufer und hing struppig ins Wasser.
Dazwischen dümpelte unser Ruderboot, das an der hervorstehenden Wurzel einer
Fichte von mir festgemacht worden war.
Am Ende des aus dem Wasser zitternden Seils standen Zina und
ich, ganz schräg. Es bewegte sich keinen Millimeter.
„Locker, lass locker“, sagte ich.
Zina zog weiter wie wild.
„Wenn du nicht locker lässt … da hat sich was festgehakt …“
„Jakija?“ fragt sie. Dann sah sie, dass ich gar nicht mehr
zog. „Musst du schleppen!“
Ich schüttelte den Kopf, nahm ihr das Seil aus den Fäusten und
gab etwas nach.
„Siehst du?“
Dann packten wir wieder zu, und jetzt ging es auf einmal ganz
einfach. Durch das Gestrüpp knisterte der Reifen an Land.
Zina kletterte gleich durch das Gestrüpp zu ihm und beugte
sich darüber. Mit schnellen Händen wischte sie den Schlick beiseite, klopfte
dann gegen den Reifen.
„Und?“ fragte ich.
Sie blickte zu mir hoch. „Skarbnica“, sagte sie. „Schatzkiste.“
„Gute Arbeit!“ erklang ein Männerstimme mit russischem
Akzent.
Sie kam aus Richtung des Wäldchens hinter dem Gestrüpp. Im
Schatten der Bäume konnte, wer genauer hinsah, einen offenen Kofferraum erkennen
‒ der
Geländelimousine, die sich geräuschlos genähert hatte.
Jetzt erblickte ich auch den Glatzkopf mit Goldkettchen, der
uns die ganze Zeit beobachtet hatte.
„Packt den gleich mal hier rein“, sagte er.
Aber wieso, meinte Zina, das sei doch bloß so ein oller
Reifen.
Der kleine Kampfhund zu Füßen des Glatzkopfs knurrte böse.
„Los!“ Er bewegte seine Hand hin und her.
Womit fuchtelte er da rum? War das wirklich ‒ eine Pistole?
„Beeilt euch!“
Er zwang uns, den schweren Reifen in den Kofferraum der
Geländelimousine zu schleppen.
Nachdem wir ihn verstaut hatten, schaute er uns mit schmalen
Augen an.
Zina bat ihn, uns nicht zu erschießen. Wir würden auch
nichts weitererzählen, Ehrenwort.
Der Kerl zögerte. Man konnte richtig sehen, wie er
nachdachte.
Ein Schuss würde außerdem überall zu hören sein, meinte
Zina. Dann würden Zeugen angelockt, und er könne seinen Profit vergessen. „Dann
kriegst du lebenslang!“ Denn der Mord an Kindern werde besonders schwer
bestraft.
„Halt endlich deinen Mund!“ sagte er Typ zu Zina. „Dein
Gerede macht mich ganz schwindelig.“
Er zwang uns mit vorgehaltener Pistole, auf die Hintersitze
des Wagens zu klettern.
Die Türen gingen zu, und wir fuhren los ‒ aus dem Wäldchen am Seeufer
hinaus und über die Pisten des Nationalparks.
Die schönen Wälder und Seen, die draußen vorbeizogen, waren
Zina und mir egal. Wir mussten sehen, dass wir hier heil wieder herauskamen!
Beim Halt an einer Kreuzung versuchten wir ‒ beide gleichzeitig ‒ , rechts und links
herauszuspringen. Aber die Türen waren verschlossen.
Der Wagen fuhr weiter.
Zina flüsterte mir ins Ohr, wir müssten den Typen rechtzeitig
erledigen. Sonst würde er uns in irgendeinen Steinbruch fahren, dort erschießen
und unsere Leichen verscharren.
Mir war jetzt selber ganz schwindelig von ihren Worten.
Als Nächstes zeigte sie mir heimlich etwas von dem Seil, das
sie noch einstecken hatte. Sie bedeutete, wir könnten es von hinten um den Hals
des Fahrers werfen und ihn dann erwürgen. Sie müsse dafür an dem einen Ende
ziehen, ich an dem anderen.
Sie nickte mir zu. War das in Ordnung für mich?
Ich war wie gelähmt. Sie stieß mir in die Seite.
Ich nickte.
Zina lauerte ‒
mit dem Seil in ihrer Hand ‒
auf eine günstige Gelegenheit. Der Fahrer musste abgelenkt sein.
Plötzlich hatte sie das Seil um seinen Hals geworfen.
„Zieh!“ rief sie mir zu. „Zieh!“
Das lose Ende baumelte vor meiner Nase.
Ich wollte gerade danach schnappen, da tauchten links und
rechts Autos auf. Sie überholten aber nicht, sondern blieben auf gleicher Höhe.
Und sie fingen an, uns zu rempeln: rumms ‒
rumms ‒ von beiden Seiten.
Das Blech der Türen scharrte und quietschte, unser Wagen
stellte sich quer und rumpelte von der Straße. Im linken Graben fiel er auf die
Seite.
Der Hund bellte wie verrückt, und sein Herrchen fluchte
laut, während es aus dem Fenster krabbelte.
Die Autos, die uns abgedrängt hatten, hielten weiter vorne
an. Ihre Türen flogen auf, lauter Kerle, große und kleine, sprangen heraus und duckten
sich in den anderen Straßengraben.
Peng ‒
peng ‒ peng …
„Die schießen aber!“ rief Zina.
Ich zog sie zu mir hinter die Rückenlehnen, damit sie nichts
abbekam.
Dann hörte das Geknalle auf.
Durch die Lücke in den Vordersitzen und die
Wundschutzscheibe konnte ich sehen, wie der Glatzkopf auf die Straße rannte und
seine Angreifer versuchten, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.
Sie schubsten sich, schlugen aufeinander ein, und der Hund
sprang bellend um alle herum, bis auch er eines auf die Nase bekam und sich
jaulend in Sicherheit brachte.
Hatte da jemand meinen Namen gerufen?
Ich blickte nach oben und sah den Schatten eines Mannes über
dem Wagenfenster. Er blickte erregt zu den Schlägern auf der Straße, dann
wieder zurück zu mir, und ich erkannte ‒
Dieter.
Schon hatte er die Tür aufgestemmt und winkte uns zu. „Kommt!
Schnell!“
Ich zögerte.
„Arthur, worauf wartest du??“
Seine Stimme war ziemlich ähnlich wie die am Telefon oder
jene, die aus dem Lautsprecher des Computers geklungen hatte. War Dieter etwa …
„Schnell!“ drängte er.
Zina kletterte an mir vorbei, und ich folgte ihr ins Freie.
Dort war Dieter uns schon voraus, und wir folgten ihm ‒ geduckt ‒
aus der Kampfzone.
Der Schleichweg, den er voranhumpelte, führte am
Campingplatz aus dem Gebüsch.
Zina und ich schauten uns um, als wir wieder im Freien
standen.
„Da!“ sagte sie und zeigte zu dem Bungalow D, von wo Dieter uns
zuwinkte.
Wir folgten ihm in das kleine Haus, und er schloss die Tür
hinter uns.
„Hast es dir wahrscheinlich schon gedacht“, sagte er,
nachdem er zwei Colas aus dem Eisschrank geholt hatte.
Stumm nahm ich einen Schluck.
„Und?“ fragte er. „Bist du enttäuscht?“
„Geht so.“
„Ich bin echt froh, dass du mir nicht gleich den Kopf
abreißt.“
„Tut mir leid“, sagte ich.
„Was tut dir leid?“
„Das Telefongespräch ‒
an der Raststätte …“
„Was ist mit dem?“
„Ich hatte mitgehört, durch das offene Toilettenfenster ‒ und falsch verstanden …“
„Schwamm drüber.“ Er strahlte mich an. „Du hast dich prima
geschlagen.“
„Findest du?“
„Hat doch alles geklappt.“
Zina räusperte sich. „Und was ist mit Schatz?“
„Der Ersatzreifen?“
„Ja.“
„Den können wir vergessen. Das liegt aber nicht an Arthur.“
Er wandte sich wieder zu mir. „Du hast ihn raufgeholt. Mehr war nicht zu
verlangen.“
„Ja, aber dann ist doch alles schiefgelaufen“, sagte ich.
„Der Blödmann mit seinem Kampfhund hat uns
dazwischengefunkt, na und? Wer konnte mit so was rechnen?“
„Und wer waren die anderen?“ fragte ich.
„Die euch auf der Straße gerammt haben?“
„Ja.“
Dieter räusperte sich
„Waren das die, vor denen du das Auto versteckt hattest?“
fragte ich.
Er schaut mich listig an. „Kluges Kerlchen.“
Papa hatte ihnen gesteckt, wo sie den gesuchten Reifen
finden würden. Nur so war es noch möglich gewesen, uns aus der Geländelimousine
zu befreien.
Jetzt hatten sie natürlich den verdammten Reifen ‒ und alles war umsonst
gewesen.
„Was war denn drin?“ fragte ich.
„In dem Reifen?“
„Ja.“
„Keine Ahnung.“ Papa zuckte mit den Schultern. „Aber es muss
eine Menge wert gewesen sein.“
„Woher weißt du das denn?“
„Na, alle waren sie dahinter her.“ Da hatte er, wie wir
richtig gedacht hatten, das Auto von der Bildfläche verschwinden lassen, um in
Ruhe herauszufinden, was es mit ihm auf sich haben könnte. Aber die Kerle
ließen ihn seitdem nicht mehr aus den Augen.
„Hattest du ihnen das Auto geklaut?“
„Freiwillig hätten sie es mir nicht gegeben. Aber sie
schuldeten mir auch was.“
Papa ging nicht tiefer in die Einzelheiten der Geschäfte, in
welche er hier im Grenzgebiet verwickelt war.
Er erzählte mir, wie es ihm ergangen war, seit er und Mama
sich getrennt hatten. Er hatte als Reiseführer gearbeitet und als Kurier, der
Dinge zwischen Ländern hin und her transportierte.
Ganz astrein schienen mir die Geschäfte von Papa nicht zu
sein, aber ich konnte ihn trotzdem leiden. Keiner in meiner Klasse hatte einen
Vater, der so spannende Sachen machte.
Und was wurde jetzt?
Papa hatte Mama Bescheid gesagt, wo ich mich befand, und sie
war bereits auf dem Weg nach Suwalki.
„Sie kommt heute Abend mit dem Zug an“, sagte er.
„Ist sie sauer?“ fragte ich.
„Davon ist auszugehen.“
Was weiter aus uns geworden ist.
Aber Mama war eigentlich eher froh, als sie mich auf dem
Bahnsteig sah, und umarmte und küsste mich die ganze Zeit.
Papa warf sie einen bösen Blick zu und warf ihm vor, mich in
Lebensgefahr gebracht zu haben.
„Tut mir leid“, sagte er. „Das Wasser stand mir diesmal bis
zum Hals, echt.“
„Das glaube ich dir sofort“, sagte Mama. „Wann hörst du mal
auf mit der Vagabundiererei und machst was Vernünftiges?“
„Eher, als du denkst“, meinte Papa und ließ durchblicken,
bald habe er die nötigen Mittel beieinander.
„Wer‘s glaubt, wird selig“, meinte Mama.
Dann fasste sie Zina ins Auge, welche die ganze Zeit ruhig
im Hintergrund gestanden hatte. „Und wer bist du?“
Zina trug einen Rock, den sie sich vorher besorgt hatte, und
eine saubere Bluse. Ihre Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten. In der Hand trug
sie einen Strauß wilder Blumen, die sie gepflückt hatte, und übergab ihn Mama
mit einem Knicks.
„Zina Lischonak“, sagte sie. „Austauschschülerin.“
*
In dem Ordner auf der Festplatte meines Computers, in dem
die Reisefilme lagen, die von Papa früher ins Internet gestellt worden waren,
befand sich bald ein zusätzlicher Ordner für die Videos, die Zina von sich
hochgeladen hatte: Tagebuch einer
Austauschschülerin.
Zina stellte darin dem interessierten Publikum ihren Alltag
an unserer Schule und bei ihrer deutschen Gastfamilie vor, nämlich Mamas bester
Freundin Sybille und deren Sohn.
Klar, dass Zina überall sehr gute Noten hatte ‒ in Deutsch sowieso.
Papa hatte sich nach der Schießerei im Graben der
Wigierski-Nationalpark-Straße erst mal wieder unsichtbar gemacht. Wir stehen
aber in Kontakt. Ich weiß, wo er sich
im Moment befindet.
Wenngleich ich es aus Gründen der Geheimhaltung leider nicht offenlegen kann.
ENDE