Ich bin in meinem Leben in vielen Teilen der Welt gewesen.
Eigentlich fast überall außer Lateinamerika. Je mehr ich herum kam, desto mehr
fielen mir die Deutschen auf. Egal, wo man hinkommt, es gibt immer einen
Deutschen, der dorthin ausgewandert ist. Und er hat fast immer einen an der
Waffel. Wenn er gerade erst angekommen ist, idealisiert er seine neue Heimat
und macht Deutschland herunter. War er länger im Ausland, verhält es sich genau
andersherum.
Wer zwei Frauen liebt,
verliert sie Seele, sagt der französische Volksmund, wer in zwei Häusern lebt,
verliert den Verstand.
Wie dieser Verlust des
Verstandes vor sich geht, gehen muss, erhellt aus den Beobachtungen Ludwig
Wittgensteins zum Wesen des Gemütes.
Unser Denken vollzieht sich
in einem Netzwerk von Begriffen, denen gemäß wir die Wirklichkeit auffassen und
handhaben. Die meisten Philosophen kommen nicht über diese Beobachtung hinaus -
stellen Bewusstsein und Wirklichkeit einander gegenüber, ohne auseinander
setzen zu wollen, wie die beiden aufeinander bezogen sind. Die Begriffe, welche
alles bedeuten, werden selber nicht weiter erklärt, sondern hingenommen als
etwas geistig Gegebenes.
Hier setzt Wittgensteins
grundsätzlicher Gedanke an: zum Wesen des Begriffs, das er im von ihm sog.
Sprachspiel ausmacht.
Was Wittgenstein mit
Sprachspiel markieren möchte, heißt später bei Luhmann Kommunikation und wird
ursprünglich dargestellt durch den Blickwechsel Mutter-Baby. Denn offenbar geht
etwas Bedeutendes vor zwischen den beiden. Ihre Gegenseitigkeit hat Witz. Hier
lokalisiert Wittgenstein den Ursprung von Begreifen und Bewusstsein, dessen
später noch so vielschichtige und verflochtene Erscheinungen doch immer den
sinnstiftenden Grundzug des zwischenmenschlich Antwortenden haben.
Wenn ich denke, befindet
sich mit anderen Worten immer jemand anderes in meinem Kopf, auf den ich
antworte, und der mir antwortet.
Das Sprachspiel, in dem
sich Menschen, Alltag und Sprache gegenseitig bedingen, wird in Wittgensteins
Spätphilosophie zum Ursprung der Bedeutung.
Die Verstandestätigkeit
entspringt hiermit zum ersten Mal im westlichen Denken nicht der
Gegenüberstellung von Einzelnem und Gegenstand, welche der Philosoph versucht,
aufeinander zu beziehen. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen beginnen
mit etwas, was sich bis dahin niemand als Startpunkt vorstellen konnte, und es
fällt, wenn man das Werk zum ersten Mal liest, schwer, Verständnis für etwas zu
entwickeln, das so offensichtlich zusammengesetzt ist wie das Sprachspiel, als
Keimzelle der Besinnlichkeit.
Doch Wittgensteins Genie
besteht genau in diesem Erkennen der dreifachen Wechselbeziehung – von Menschen,
Umgebung und Sprache – als Ureinheit der Bedeutung. Dadurch erfüllt er den
Traum eines jeden Philosophen, endlich hinauszukommen über das
Subjekt-Objekt-Schema als Startpunkt des Denkens, ohne dabei doppeldeutig
werden zu müssen. Wie es möglich sein könnte, Bedeutung schlechthin zu
besichtigen, noch bevor der einzelne Mensch einer Welt gegenübertritt, darauf
war vor Wittgenstein noch niemand gekommen.
Was er unter „Sprachspiel“
versteht, veranschaulicht Wittgenstein ab dem zweiten Paragrafen seiner Philosophischen
Untersuchungen: „Denken wir uns eine Sprache […]. Die Sprache soll der
Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau
auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat
ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu
dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: ‚Würfel‘,
‚Säule‘, ‚Platte‘, ‚Balken‘. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er
gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive
Sprache auf.“
Am wichtigsten hier: die
„Vollständigkeit“, welche „aufzufassen“ einem geraten wird. „Ich werde auch das
Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das
‚Sprachspiel‘ nennen“, fügt Wittgenstein erklärend hinzu. „Das Wort
‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist
einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“
Weitere Sprachspiele,
welche Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen anführt, sind nicht
immer der Wirklichkeit entnommen, sondern manchmal als „Vergleichsobjekte“
erfunden worden, um die Aufmerksamkeit auf wichtige Merkmale zu lenken. Als
existierende Sprachspiele zitiert er:
• Befehlen und nach
Befehlen handeln
• Beschreiben eines
Gegenstands nach dem Ansehen oder nach Messungen
• Herstellen eines
Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung)
• Berichten eines Hergangs
• Über den Hergang
Vermutungen anstellen
• Eine Hypothese aufstellen
und prüfen
• Darstellen der Ergebnisse
eines Experiments durch Tabellen und Diagramme
• Eine Geschichte erfinden
und lesen
• Theater spielen
• Reigen singen
• Rätselraten
• Einen Witz machen,
erzählen
• Ein angewandtes
Rechenexempel lösen
• Aus einer Sprache in die
andere übersetzen
• Bitten, danken, fluchen,
grüßen, beten
Es hilft, sich
vorzustellen, die hier aufgelisteten Sprachspiele seien gerade erst entstanden,
spontan in die Welt getreten vor Millionen Jahren, um zu erkennen, dass in
ihnen die Keimzelle von zum Beispiel Physik, Architektur, Geschichte,
Theoriebildung oder Humor liegt.
Wie viele Sprachspiele gibt
es?
Unendlich viele – neue
kommen ständig in die Welt, alte verblassen.
Sprachspiele als Teil einer
Kultur sind Erweiterungen einer noch primitiveren organischen Entwicklung,
welche Wittgenstein als die Naturgeschichte der Menschen beschreibt: „Befehlen,
fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen,
essen, trinken, spielen.“ Nicht alle Sprachen verwenden Wörter, einige bestehen
aus Nummern – oder Gesten – oder Tönen. Auch Bienen, Ameisen, Vögel oder
Schimpansen haben ihre jeweilige Sprache. Die menschliche Wortsprache aber ist
Teil der menschlichen Naturgeschichte, welche deswegen nicht etwa erklärt,
warum wir sprechen, sondern diesen Entwicklungsschritt eben mit sich bringt.
Von großer Bedeutung ist
schließlich noch die Beziehung zwischen Sprachspiel und Lebensform,
Wittgensteins Bezeichnung für das Unbewusste, in Form des Alltags.
„Man kann sich leicht eine
Sprache vorstellen“, schreibt Wittgenstein dazu in den Philosophischen
Untersuchungen, „die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. –
Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung
und der Verneinung. Und unzählige Andere [sic!]. – Und eine Sprache vorstellen
heißt, sich [einen Alltag] […] vorstellen.“
Zu einer Sprache, die nur
aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht, gehört dann zum Beispiel
der Alltag „Krieg“. Besteht eine Sprache nur aus Fragen und einem Ausdruck der
Bejahung oder der Verneinung, ist sie im Alltag „Gerichtsverfahren“ anzusiedeln.
Ein Alltag besteht aus sich
wiederholenden Aktivitäten, egal, ob sie nun kultureller oder biologischer
Natur sind. Sich einen menschlichen Alltag vorzustellen, heißt, sich eine
Sprache – wohlgemerkt noch kein Sprachspiel – vorzustellen: „Das Wort
‚Sprachspiel‘ soll […] hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist
einer Tätigkeit, oder […] [eines Alltags] […].“
Dass sich der menschliche
Alltag aus etwas sich Wiederholendem zusammensetzt, beinhaltet unter anderem,
dass gesprochen wird – also Sprachspiele stattfinden.
Der Alltag kann nun
beispielsweise jener der Geschäftswelt sein; eines seiner Sprachspiele wäre
dann die Werbung. Er könnte auch im Bereich der Therapie verortet sein; in dem
Fall wäre ein Sprachspiel die Psychoanalyse. Im Alltag der Wahrsagerei bestünde
ein Sprachspiel im Handlesen, in einer Welt, die sich nur ums Glücksspiel
dreht, hieße ein zugehöriges Sprachspiel Lotto, usw.
Ich komme auf meine
einleitende Wahrnehmung zurück: wie deutsche Auswanderer nach meiner
Beobachtung nicht selten einen "an der Waffel" - also
Bewusstseinsprobleme - zu haben scheinen. Denn wenn unser Bewusstsein eine
Funktion der Umgebung ist, in welcher es sich ausbildete, kommt es in
Schwierigkeiten, je mehr Umgebungs-Antworten abweichen von denen, die ein
Bewußtsein ursprünglich zu Wege brachten.
In einem fremden
Kulturkreis lauert immer die Gefahr des Nervenzusammenbruchs für solche
Personen, deren Begriffswelt und daher innere Gesetztheit sich anderen
Zusammenhängen verdankt.
Freilich gibt es
beweglichere Gemüter, die Fremdsprachengenies, die sich vergrößern mit dem
Aufenthalte in unterschiedlichen Kulturen, dadurch aber nicht selten auch an
Unförmigkeit gewinnen. Ich erinnere mich an einen jungen Mann in Bangkok, der
ständig - mitten im Satz - von einer Sprache in die andere wechselte und
dadurch mehr Verwirrung signalisierte als Weltgewandtheit. Es ist auch bekannt,
dass Diplomaten nur mit Schwierigkeiten einen Altersruhesitz finden.
Wie den Deutschen im
Ausland könnte es auch den Ausländern in Deutschland gehen, die uns daher immer
wieder mit Nervenzusammenbrüchen überraschen dürften.